Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr.Dichtung und Wahrheit in der Marokkofrage wirtschaftlichen Wettbewerbes nach dem Muster von Tunis, vorhanden gewesen Man begegnet nnn auch hier wieder der Ansicht, daß das Mittel zu stark Grenzboten IV 1912 6ö
Dichtung und Wahrheit in der Marokkofrage wirtschaftlichen Wettbewerbes nach dem Muster von Tunis, vorhanden gewesen Man begegnet nnn auch hier wieder der Ansicht, daß das Mittel zu stark Grenzboten IV 1912 6ö
<TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0516" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/322918"/> <fw type="header" place="top"> Dichtung und Wahrheit in der Marokkofrage</fw><lb/> <p xml:id="ID_2544" prev="#ID_2543"> wirtschaftlichen Wettbewerbes nach dem Muster von Tunis, vorhanden gewesen<lb/> wäre. Diese Sicherheit gaben die Algecirasakte und das darauf beruhende<lb/> Abkommen von 1909, — note höre solange sie gehalten wurden. Es ist<lb/> daher unrichtig, wenn von französischer Seite — u. a. auch von Tardieu —<lb/> behauptet wird, daß die deutsche Regierung die weitere Ausbreitung der fran¬<lb/> zösischen Macht in Marokko als einen Mißerfolg ihrer eigenen Politik empfunden<lb/> habe. Natürlich empfand man bei uns diese Tatsache nicht gerade mit Freuden,<lb/> denn sie beruhte darauf, daß die marokkanische Negierung, von deren Unab¬<lb/> hängigkeit wir notgedrungen hatten ausgehen müssen, sich völlig unfähig zeigte,<lb/> die Anforderungen zu erfüllen, die man an eine unabhängige Regierung stellen<lb/> muß. Die Fortschritte der Franzosen waren nur die selbstverständliche Folge<lb/> dieser marokkanischen Unfähigkeit zur Freiheit und Selbstbestimmung, sie bewiesen<lb/> aber nichts gegen die Politik, die wir zur Erreichung des für uns allein wesent¬<lb/> lichen Zieles eingeschlagen hatten. Diese Ziele wurden erst in dem Augenblick<lb/> berührt, als die Franzosen sich genügend gesichert fühlten, um die Algeciras¬<lb/> akte selbst zu verletzen, in der sicheren Voraussetzung, daß Deutschland die<lb/> einzige Macht sein werde, die dagegen vielleicht Einspruch erheben könnte. Erst<lb/> als die ersten diplomatischen Schritte wegen der tatsächlichen Verletzung der<lb/> Algecirasakte erfolglos blieben, sandte Deutschland den „Panther" nach Agadir,<lb/> wo in jenen Tagen deutsche Handelsinteressen gefährdet schienen.</p><lb/> <p xml:id="ID_2545" next="#ID_2546"> Man begegnet nnn auch hier wieder der Ansicht, daß das Mittel zu stark<lb/> gewesen sei für den zu erreichenden Zweck. Allein die Behauptung, daß man<lb/> ein Kriegsschiff nur dann entsenden dürfe, wenn es sich um eine ernste kriege¬<lb/> rische Aktion oder die Absicht einer Besitzergreifung an einer fremden Küste handle,<lb/> findet keine Stütze in der Praxis anderer Völker und auch nicht in unserer<lb/> eigenen Vergangenheit. Unzählige Male sind Kriegsschiffe aller Nationen zu<lb/> kleinen Strafexpeditionen gegen wilde Völkerschaften ausgesandt worden, oder<lb/> zur Unterstützung der Einkassierung von Schuldforderungen oder auch zur Ver¬<lb/> hütung unbedeutender Unruhen. Es beruhte auf einem einfachen Denkfehler,<lb/> wenn man die Fahrt unseres kleinen Kreuzers nach Agadir als eine kriegerische<lb/> Demonstration gegen Frankreich auffaßte. Das war sie nicht, sondern ein ein¬<lb/> facher Akt der Selbsthilfe in Form einer Drohung gegen die eingeborene Be¬<lb/> völkerung eines Teiles von Marokko, einer Selbsthilfe, die beispielsweise in der<lb/> Südsee häufig angewendet worden ist, ohne daß sich die Unbeteiligten darum<lb/> kümmerten. Die allerdings beabsichtigte und sogar stark betonte Spitze gegen<lb/> Frankreich lag in diesem Falle nur darin, daß eine solche Selbsthilfe nie geübt<lb/> worden wäre, wenn Frankreich die Algecirasakte nicht verletzt und sich aus¬<lb/> reichenden Erklärungen und weiteren Verhandlungen zu entziehen versucht hätte.<lb/> Die Entsendung des „Panther" bedeutete also nicht die Drohung an Frank¬<lb/> reich: „Jetzt wollen wir euch an den Kragen!", sondern nur den handgreif¬<lb/> lichen Wink: „Ihr habt die Verträge zerrissen, darum haben wir jetzt die volle<lb/> Freiheit auch zu den politischen und militärischen Aktionen, die wir anderenfalls</p><lb/> <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten IV 1912 6ö</fw><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0516]
Dichtung und Wahrheit in der Marokkofrage
wirtschaftlichen Wettbewerbes nach dem Muster von Tunis, vorhanden gewesen
wäre. Diese Sicherheit gaben die Algecirasakte und das darauf beruhende
Abkommen von 1909, — note höre solange sie gehalten wurden. Es ist
daher unrichtig, wenn von französischer Seite — u. a. auch von Tardieu —
behauptet wird, daß die deutsche Regierung die weitere Ausbreitung der fran¬
zösischen Macht in Marokko als einen Mißerfolg ihrer eigenen Politik empfunden
habe. Natürlich empfand man bei uns diese Tatsache nicht gerade mit Freuden,
denn sie beruhte darauf, daß die marokkanische Negierung, von deren Unab¬
hängigkeit wir notgedrungen hatten ausgehen müssen, sich völlig unfähig zeigte,
die Anforderungen zu erfüllen, die man an eine unabhängige Regierung stellen
muß. Die Fortschritte der Franzosen waren nur die selbstverständliche Folge
dieser marokkanischen Unfähigkeit zur Freiheit und Selbstbestimmung, sie bewiesen
aber nichts gegen die Politik, die wir zur Erreichung des für uns allein wesent¬
lichen Zieles eingeschlagen hatten. Diese Ziele wurden erst in dem Augenblick
berührt, als die Franzosen sich genügend gesichert fühlten, um die Algeciras¬
akte selbst zu verletzen, in der sicheren Voraussetzung, daß Deutschland die
einzige Macht sein werde, die dagegen vielleicht Einspruch erheben könnte. Erst
als die ersten diplomatischen Schritte wegen der tatsächlichen Verletzung der
Algecirasakte erfolglos blieben, sandte Deutschland den „Panther" nach Agadir,
wo in jenen Tagen deutsche Handelsinteressen gefährdet schienen.
Man begegnet nnn auch hier wieder der Ansicht, daß das Mittel zu stark
gewesen sei für den zu erreichenden Zweck. Allein die Behauptung, daß man
ein Kriegsschiff nur dann entsenden dürfe, wenn es sich um eine ernste kriege¬
rische Aktion oder die Absicht einer Besitzergreifung an einer fremden Küste handle,
findet keine Stütze in der Praxis anderer Völker und auch nicht in unserer
eigenen Vergangenheit. Unzählige Male sind Kriegsschiffe aller Nationen zu
kleinen Strafexpeditionen gegen wilde Völkerschaften ausgesandt worden, oder
zur Unterstützung der Einkassierung von Schuldforderungen oder auch zur Ver¬
hütung unbedeutender Unruhen. Es beruhte auf einem einfachen Denkfehler,
wenn man die Fahrt unseres kleinen Kreuzers nach Agadir als eine kriegerische
Demonstration gegen Frankreich auffaßte. Das war sie nicht, sondern ein ein¬
facher Akt der Selbsthilfe in Form einer Drohung gegen die eingeborene Be¬
völkerung eines Teiles von Marokko, einer Selbsthilfe, die beispielsweise in der
Südsee häufig angewendet worden ist, ohne daß sich die Unbeteiligten darum
kümmerten. Die allerdings beabsichtigte und sogar stark betonte Spitze gegen
Frankreich lag in diesem Falle nur darin, daß eine solche Selbsthilfe nie geübt
worden wäre, wenn Frankreich die Algecirasakte nicht verletzt und sich aus¬
reichenden Erklärungen und weiteren Verhandlungen zu entziehen versucht hätte.
Die Entsendung des „Panther" bedeutete also nicht die Drohung an Frank¬
reich: „Jetzt wollen wir euch an den Kragen!", sondern nur den handgreif¬
lichen Wink: „Ihr habt die Verträge zerrissen, darum haben wir jetzt die volle
Freiheit auch zu den politischen und militärischen Aktionen, die wir anderenfalls
Grenzboten IV 1912 6ö
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