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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr.

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Dichtung und Wahrheit in der Marokko frage

Nackenschläge erfuhr. Nein, nicht eine verpaßte Gelegenheit, sondern ein sehr
genau überlegter Entschluß, der nach Anhörung aller maßgebenden Autoritäten
gefaßt wurde, hat unsere Staatsmänner veranlaßt, von Anfang an den Plan
einer politischen Festsetzung in Marokko bestimmt und bewußt abzulehnen. Am
14. April 1904 sprach der Reichskanzler Graf Bülow im Reichstage über die
Marokkofrage -- das war also sechs Tage nach der Unterzeichnung des englisch¬
französischen Abkommens. Der Abgeordnete Graf Ludwig Reventlow war als
Wortführer der Richtung aufgetreten, die Deutschland in Marokko gern politisch
engagieren wollte. Schon damals wies Graf Bülow diesen Standpunkt mit
bemerkenswerter Schärfe zurück. Er lehnte es ab, das Land "in Abenteuer zu
stürzen". Auch später ist immer nur vom Schutz unserer wirtschaftlichen
Interessen gesprochen worden, während politische Pläne von amtlicher Seite
abgelehnt und bekämpft wurden. Auch Morel schreibt in seinem vorhin er¬
wähnten Buche mit Bezug auf die Bestrebungen der Altdeutschen: es könne
keinem Zweifel unterliegen, daß die deutsche Regierung und der Deutsche Kaiser
wiederholt die Versuche, sie in diese Bahnen zu zwingen, desavouiert und sich
beständig geweigert haben, ihre Marokkopolitik von ihrem vorgeschriebenen und
öffentlich kundgegebenen Kurs ablenken zu lassen. "Es kann" -- so schreibt er
weiter -- "ohne Furcht vor einem Widerspruch versichert werden, daß nicht ein Jota
eines Beweises von irgendeiner Seite dafür beigebracht worden ist, daß die leitenden
Männer in Deutschland jemals die weitergehenden Ansprüche der deutschen Kolonial¬
schwärmer sich zu eigen gemacht oder anerkannt haben, oder daß sie sich jemals für
die Erwerbung von Kohlenstationen oder einen Anteil an einem zerstückelten
Marokko ins Zeug gelegt haben." Das ist unbestreitbar richtig. Die deutsche
Regierung hat sich niemals auf ein Programm eingelassen, das die historische Kritik
späterer Zeit mit Recht veranlaßt haben würde, die deutsche MarokkopoMk mit
dem mexikanischen Abenteuer Napoleons des Dritten auf eine Stufe zu stellen.

Haben wir so das von Anfang an festgestellte Programm der deutschen
Marokkopolitik aus manchen Verdunklungsversuchen und Mißverständnissen heraus¬
geschält, so wird es zur weiteren Beurteilung nötig sein, Anfang und Ende
dieser Politik miteinander zu vergleichen. Was machte denn die Erfüllung einer
so einfachen Aufgabe, wie es der Schutz und die Förderung deutscher Handels¬
interessen in einem fremden Lande in den meisten Fällen doch zu sein pflegt,
unter diesen besonderen Verhältnissen so schwierig? Die Schwierigkeit lag
bekanntlich darin, daß Frankreich es unternommen hatte, allmählich seinen Einfluß
auf Marokko auszudehnen und auf diesem Wege das Land in seine Gewalt zu
bekommen. Die Kolonisationsmethoden Frankreichs mandelt es aber den An¬
gehörigen fremder Nationen sogut wie vollkommen unmöglich, in solchem Lande
noch ihrem eigenen Erwerb nachzugehen. Der Grundsatz der "offenen Tür"
und der gewerblichen Bewegungsfreiheit, wie er in den englischen Kolonien
herrscht, ist den Franzosen fremd, und die Erfahrungen, die in Tunis in dieser
Beziehung gemacht worden sind, ließen voraussehen, daß die Fortschritte der


Dichtung und Wahrheit in der Marokko frage

Nackenschläge erfuhr. Nein, nicht eine verpaßte Gelegenheit, sondern ein sehr
genau überlegter Entschluß, der nach Anhörung aller maßgebenden Autoritäten
gefaßt wurde, hat unsere Staatsmänner veranlaßt, von Anfang an den Plan
einer politischen Festsetzung in Marokko bestimmt und bewußt abzulehnen. Am
14. April 1904 sprach der Reichskanzler Graf Bülow im Reichstage über die
Marokkofrage — das war also sechs Tage nach der Unterzeichnung des englisch¬
französischen Abkommens. Der Abgeordnete Graf Ludwig Reventlow war als
Wortführer der Richtung aufgetreten, die Deutschland in Marokko gern politisch
engagieren wollte. Schon damals wies Graf Bülow diesen Standpunkt mit
bemerkenswerter Schärfe zurück. Er lehnte es ab, das Land „in Abenteuer zu
stürzen". Auch später ist immer nur vom Schutz unserer wirtschaftlichen
Interessen gesprochen worden, während politische Pläne von amtlicher Seite
abgelehnt und bekämpft wurden. Auch Morel schreibt in seinem vorhin er¬
wähnten Buche mit Bezug auf die Bestrebungen der Altdeutschen: es könne
keinem Zweifel unterliegen, daß die deutsche Regierung und der Deutsche Kaiser
wiederholt die Versuche, sie in diese Bahnen zu zwingen, desavouiert und sich
beständig geweigert haben, ihre Marokkopolitik von ihrem vorgeschriebenen und
öffentlich kundgegebenen Kurs ablenken zu lassen. „Es kann" — so schreibt er
weiter — „ohne Furcht vor einem Widerspruch versichert werden, daß nicht ein Jota
eines Beweises von irgendeiner Seite dafür beigebracht worden ist, daß die leitenden
Männer in Deutschland jemals die weitergehenden Ansprüche der deutschen Kolonial¬
schwärmer sich zu eigen gemacht oder anerkannt haben, oder daß sie sich jemals für
die Erwerbung von Kohlenstationen oder einen Anteil an einem zerstückelten
Marokko ins Zeug gelegt haben." Das ist unbestreitbar richtig. Die deutsche
Regierung hat sich niemals auf ein Programm eingelassen, das die historische Kritik
späterer Zeit mit Recht veranlaßt haben würde, die deutsche MarokkopoMk mit
dem mexikanischen Abenteuer Napoleons des Dritten auf eine Stufe zu stellen.

Haben wir so das von Anfang an festgestellte Programm der deutschen
Marokkopolitik aus manchen Verdunklungsversuchen und Mißverständnissen heraus¬
geschält, so wird es zur weiteren Beurteilung nötig sein, Anfang und Ende
dieser Politik miteinander zu vergleichen. Was machte denn die Erfüllung einer
so einfachen Aufgabe, wie es der Schutz und die Förderung deutscher Handels¬
interessen in einem fremden Lande in den meisten Fällen doch zu sein pflegt,
unter diesen besonderen Verhältnissen so schwierig? Die Schwierigkeit lag
bekanntlich darin, daß Frankreich es unternommen hatte, allmählich seinen Einfluß
auf Marokko auszudehnen und auf diesem Wege das Land in seine Gewalt zu
bekommen. Die Kolonisationsmethoden Frankreichs mandelt es aber den An¬
gehörigen fremder Nationen sogut wie vollkommen unmöglich, in solchem Lande
noch ihrem eigenen Erwerb nachzugehen. Der Grundsatz der „offenen Tür"
und der gewerblichen Bewegungsfreiheit, wie er in den englischen Kolonien
herrscht, ist den Franzosen fremd, und die Erfahrungen, die in Tunis in dieser
Beziehung gemacht worden sind, ließen voraussehen, daß die Fortschritte der


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_322400/510>, abgerufen am 15.01.2025.