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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr.

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Dichtung und Wahrheit in der Marokkofrano

Vorteile zu sichern. Das haben z. B. die Gebrüder Mannesmann getan, und
sie hätten es mit vollem Erfolg tun können, wenn sie nicht den Fehler begangen
hätten, zu ihren Gunsten die deutsche Politik über die Linie hinausdrängen zu
wollen, die sie sich aus allgemeinen Rücksichten ziehen mußte. Selbst bei voller
Anerkennung der Pflicht, seine Interessen im Auslande zu schützen, wird es sich
kein Staat bieten lassen können, daß Privatleute ihm eine Politik vorschreiben, die
er im allgemeinen Interesse nicht verantworten kann. Auch sonstige Erfahrungen
bestätigen, daß das Entgegenkommen solcher Völker wie der Marokkaner auch von
Leuten, die man für Kenner halten sollte, leicht überschätzt wird. Die Schlichtheit
der islamitischen Moral, die im Privatleben und im Geschäftsverkehr einem ver¬
ständigen und taktvollen Fremden manches erleichtert, ist oft die Ursache, weshalb
die hier und da gebauten Brücken zwischen abendländischer und morgenländischer
Kulturwelt sür haltbarer angesehen werden, als sie es in Wahrheit sind. Die
Täuschung wird offenbar, sobald es sich ernsthaft um Dinge handelt, deren
Bedeutung über den Kreis der nächsten örtlichen und persönlichen Interessen
hinausreicht. So sind alle Erfahrungen mit der angeblichen Deutschfreundlichkeit
der Marokkaner für die Allgemeinheit und sür die Stellungnahme in großen,
grundsätzlichen Entscheidungen vollkommen wertlos. Was endlich die Frage einer
deutschen Kohlenstation an der atlantischen Küste Marokkos anlangt, so würde
der Besitz einer solchen Station zwar ganz angenehm sein, aber er ist nach
Ansicht maßgebender, sachkundiger Stellen nicht so notwendig, daß der Nutzen
die großen Opfer, die seine Erhaltung erfordern würde, aufwiegen könnte.

Das ist eine Fülle von Gründen, die gegen die Erwerbung politischer
Rechte in Marokko spricht. Es fragt sich nun, wie sich die deutsche Regierung
dazu gestellt hat. Die Antwort kann nur lauten, daß die Regierung seit dem
Bestehen des Deutschen Reichs immer darauf bedacht gewesen ist, die deutschen
Handelsinteressen in Marokko zu schützen und zu hörte-rü, dagegen sich allen
weitergehenden Bestrebungen gegenüber beharrlich ablehnend verhalten hat.
Jeder Versuch, das Gegenteil zu erweisen, ist angesichts der vielen amtlichen
Kundgebungen, aus denen die Stellungnahme der deutschen Politik hervorgeht
und durch die sie festgelegt worden ist, gänzlich aussichtslos. So hätten sich
deutsche Staatsmänner in diplomatischen Aktenstücken, in Reichstagsreden und
in anerkannt offiziösen Zeitungsartikeln niemals äußern dürfen, wenn sie auch
nur einmal im Laufe des ganzen Jahrzehnts, in dem die Marokkofrage die
öffentliche Aufmerksamkeit in Anspruch nahm, den Hintergedanken einer politischen
Festsetzung in Marokko ernsthaft gehegt hätten. Als in den ersten Jahren
unseres Jahrhunderts die Marokkofrage akut wurde, wurde die zu treffende
Entscheidung sorgfältig geprüft. Es ist nicht richtig -- wie es später von einer
verärgerten Kritik dargestellt worden ist --, daß damals die Gelegenheit verpaßt
wurde, und daß man erst später, durch das englisch-französische Abkommen
vom 8. April 1904 unliebsam aus dem Schlaf gerüttelt, in unklaren Hin- und
Herfahren das Versäumte wiedereinzuholen versuchte und hierbei Nackenschläge über


Dichtung und Wahrheit in der Marokkofrano

Vorteile zu sichern. Das haben z. B. die Gebrüder Mannesmann getan, und
sie hätten es mit vollem Erfolg tun können, wenn sie nicht den Fehler begangen
hätten, zu ihren Gunsten die deutsche Politik über die Linie hinausdrängen zu
wollen, die sie sich aus allgemeinen Rücksichten ziehen mußte. Selbst bei voller
Anerkennung der Pflicht, seine Interessen im Auslande zu schützen, wird es sich
kein Staat bieten lassen können, daß Privatleute ihm eine Politik vorschreiben, die
er im allgemeinen Interesse nicht verantworten kann. Auch sonstige Erfahrungen
bestätigen, daß das Entgegenkommen solcher Völker wie der Marokkaner auch von
Leuten, die man für Kenner halten sollte, leicht überschätzt wird. Die Schlichtheit
der islamitischen Moral, die im Privatleben und im Geschäftsverkehr einem ver¬
ständigen und taktvollen Fremden manches erleichtert, ist oft die Ursache, weshalb
die hier und da gebauten Brücken zwischen abendländischer und morgenländischer
Kulturwelt sür haltbarer angesehen werden, als sie es in Wahrheit sind. Die
Täuschung wird offenbar, sobald es sich ernsthaft um Dinge handelt, deren
Bedeutung über den Kreis der nächsten örtlichen und persönlichen Interessen
hinausreicht. So sind alle Erfahrungen mit der angeblichen Deutschfreundlichkeit
der Marokkaner für die Allgemeinheit und sür die Stellungnahme in großen,
grundsätzlichen Entscheidungen vollkommen wertlos. Was endlich die Frage einer
deutschen Kohlenstation an der atlantischen Küste Marokkos anlangt, so würde
der Besitz einer solchen Station zwar ganz angenehm sein, aber er ist nach
Ansicht maßgebender, sachkundiger Stellen nicht so notwendig, daß der Nutzen
die großen Opfer, die seine Erhaltung erfordern würde, aufwiegen könnte.

Das ist eine Fülle von Gründen, die gegen die Erwerbung politischer
Rechte in Marokko spricht. Es fragt sich nun, wie sich die deutsche Regierung
dazu gestellt hat. Die Antwort kann nur lauten, daß die Regierung seit dem
Bestehen des Deutschen Reichs immer darauf bedacht gewesen ist, die deutschen
Handelsinteressen in Marokko zu schützen und zu hörte-rü, dagegen sich allen
weitergehenden Bestrebungen gegenüber beharrlich ablehnend verhalten hat.
Jeder Versuch, das Gegenteil zu erweisen, ist angesichts der vielen amtlichen
Kundgebungen, aus denen die Stellungnahme der deutschen Politik hervorgeht
und durch die sie festgelegt worden ist, gänzlich aussichtslos. So hätten sich
deutsche Staatsmänner in diplomatischen Aktenstücken, in Reichstagsreden und
in anerkannt offiziösen Zeitungsartikeln niemals äußern dürfen, wenn sie auch
nur einmal im Laufe des ganzen Jahrzehnts, in dem die Marokkofrage die
öffentliche Aufmerksamkeit in Anspruch nahm, den Hintergedanken einer politischen
Festsetzung in Marokko ernsthaft gehegt hätten. Als in den ersten Jahren
unseres Jahrhunderts die Marokkofrage akut wurde, wurde die zu treffende
Entscheidung sorgfältig geprüft. Es ist nicht richtig — wie es später von einer
verärgerten Kritik dargestellt worden ist —, daß damals die Gelegenheit verpaßt
wurde, und daß man erst später, durch das englisch-französische Abkommen
vom 8. April 1904 unliebsam aus dem Schlaf gerüttelt, in unklaren Hin- und
Herfahren das Versäumte wiedereinzuholen versuchte und hierbei Nackenschläge über


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_322400/509>, abgerufen am 15.01.2025.