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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr.

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Dichtung und tvcchrheit in der Marokkofragc

Sichbescheiden und Sichdrücken die oberste Rücksicht der deutschen Politik sein
müsse. Aber trotz alledem ist man berechtigt, zu sagen, daß, gerade je ent¬
schiedener diese Grundsätze praktisch zur Geltung gebracht werden sollen, desto
sorgfältiger daraus geachtet werden muß, daß sie zu rechter Zeit und am rechten
Orte angewendet werden. Mit der souveränen Nichtbeachtung unserer geo¬
graphischen Lage und aller sonstigen Wirklichkeiten, oder mit dem Reden in
Brusttönen ist es nicht getan. Auch verlieren die Gegengründe einer besonnenen
Realpolitik gegenüber den aufgeregten Träumereien von einem deutschen Marokko
nicht dadurch an Gewicht, daß sie unbedachter oder böswilliger Weise mit den
Beweisführungen grundsätzlicher Pazifisten oder bequemer Geschäftspolitiker in
einen Topf geworfen werden. Ob wir Veranlassung haben, unseren Kolonial¬
besitz auszudehnen, kann hier nicht untersucht werden; als geeigneter Kolonial¬
besitz für uns kann aber in keinem Falle ein Land angesehen werden, das nicht
eigentlich im Bereich unserer überseeischen Interessen, sondern vor den Toren
von Europa liegt, und zwar für unsere nächsten Feinde und Konkurrenten in
unserer Nachbarschaft viel näher und viel leichter erreichbar als für uns. Gewiß
dürfen wir, wenn wir vorwärts kommen wollen, auch die Möglichkeit von Ver¬
wicklungen nicht scheuen, aber wir müssen, wenn wir uns in eine solche Lage
aus eigenem Entschluß bringen wollen, einigermaßen imstande sein, Art und
Umfang der möglichen Verwicklungen vorauszusehen und in unsere Berechnungen
einzustellen. Die Folgen einer Besitzergreifung in Marokko würden jedoch jeder
Berechnung spotten und uns Verpflichtungen auferlegen, die bei unserer zentralen
Lage in Europa nur unter Voraussetzungen zu erfüllen sein würden, die unsere
Politik nicht mehr als kühn und wagemutig, sondern einfach als frevelhaft und
gewissenlos kennzeichnen würden. Die Autorität der in Marokko lebenden
Deutschen genügt nicht, um dieses Urteil zu erschüttern. Man kann ein aus¬
gezeichneter Geschäftsmann, ein vortrefflicher Patriot und ein erfolgreicher Pionier
des Deutschtums sein, ohne einen genügenden Teil von dem politischen Augen¬
maß zu besitzen, durch das allein Fragen dieser Art entschieden werden können.
Es ist richtig, daß die eingeborenen Marokkaner den Deutschen in ihrem Lande
besonderes Wohlwollen und Vertrauen entgegengebracht haben. Das beruht
einmal auf der Gediegenheit und Anpassungsfähigkeit an die Bräuche des Landes,
wodurch die Geschäftsgewohnheiten der Deutschen von denen mancher anderen
Handeltreibenden vorteilhaft abstechen, sodann aber auf der Beobachtung, daß
die Deutschen fast allein von allen Fremden frei von politischen Nebenabsichten
erschienen. Wer bürgte uns dafür, daß die Wohlgesinntheit und scheinbare
Ergebenheit der Marokkaner erhalten blieben, wenn wir in die Reihe der Mächte
getreten wären, die Marokko politisch besitzen wollten? So schlau waren die
Marokkaner natürlich auch, daß sie Deutschland gar zu gern gegen die ihnen
augenblicklich lästigeren und gefährlicheren Franzosen und Spanier ausgespielt
hätten. Und es war wiederum durchaus gerechtfertigt, daß geschickte deutsche
Geschäftsleute dieses Spiel der Marokkaner aufnahmen, um sich geschäftliche


Grenzboten IV 1912 64
Dichtung und tvcchrheit in der Marokkofragc

Sichbescheiden und Sichdrücken die oberste Rücksicht der deutschen Politik sein
müsse. Aber trotz alledem ist man berechtigt, zu sagen, daß, gerade je ent¬
schiedener diese Grundsätze praktisch zur Geltung gebracht werden sollen, desto
sorgfältiger daraus geachtet werden muß, daß sie zu rechter Zeit und am rechten
Orte angewendet werden. Mit der souveränen Nichtbeachtung unserer geo¬
graphischen Lage und aller sonstigen Wirklichkeiten, oder mit dem Reden in
Brusttönen ist es nicht getan. Auch verlieren die Gegengründe einer besonnenen
Realpolitik gegenüber den aufgeregten Träumereien von einem deutschen Marokko
nicht dadurch an Gewicht, daß sie unbedachter oder böswilliger Weise mit den
Beweisführungen grundsätzlicher Pazifisten oder bequemer Geschäftspolitiker in
einen Topf geworfen werden. Ob wir Veranlassung haben, unseren Kolonial¬
besitz auszudehnen, kann hier nicht untersucht werden; als geeigneter Kolonial¬
besitz für uns kann aber in keinem Falle ein Land angesehen werden, das nicht
eigentlich im Bereich unserer überseeischen Interessen, sondern vor den Toren
von Europa liegt, und zwar für unsere nächsten Feinde und Konkurrenten in
unserer Nachbarschaft viel näher und viel leichter erreichbar als für uns. Gewiß
dürfen wir, wenn wir vorwärts kommen wollen, auch die Möglichkeit von Ver¬
wicklungen nicht scheuen, aber wir müssen, wenn wir uns in eine solche Lage
aus eigenem Entschluß bringen wollen, einigermaßen imstande sein, Art und
Umfang der möglichen Verwicklungen vorauszusehen und in unsere Berechnungen
einzustellen. Die Folgen einer Besitzergreifung in Marokko würden jedoch jeder
Berechnung spotten und uns Verpflichtungen auferlegen, die bei unserer zentralen
Lage in Europa nur unter Voraussetzungen zu erfüllen sein würden, die unsere
Politik nicht mehr als kühn und wagemutig, sondern einfach als frevelhaft und
gewissenlos kennzeichnen würden. Die Autorität der in Marokko lebenden
Deutschen genügt nicht, um dieses Urteil zu erschüttern. Man kann ein aus¬
gezeichneter Geschäftsmann, ein vortrefflicher Patriot und ein erfolgreicher Pionier
des Deutschtums sein, ohne einen genügenden Teil von dem politischen Augen¬
maß zu besitzen, durch das allein Fragen dieser Art entschieden werden können.
Es ist richtig, daß die eingeborenen Marokkaner den Deutschen in ihrem Lande
besonderes Wohlwollen und Vertrauen entgegengebracht haben. Das beruht
einmal auf der Gediegenheit und Anpassungsfähigkeit an die Bräuche des Landes,
wodurch die Geschäftsgewohnheiten der Deutschen von denen mancher anderen
Handeltreibenden vorteilhaft abstechen, sodann aber auf der Beobachtung, daß
die Deutschen fast allein von allen Fremden frei von politischen Nebenabsichten
erschienen. Wer bürgte uns dafür, daß die Wohlgesinntheit und scheinbare
Ergebenheit der Marokkaner erhalten blieben, wenn wir in die Reihe der Mächte
getreten wären, die Marokko politisch besitzen wollten? So schlau waren die
Marokkaner natürlich auch, daß sie Deutschland gar zu gern gegen die ihnen
augenblicklich lästigeren und gefährlicheren Franzosen und Spanier ausgespielt
hätten. Und es war wiederum durchaus gerechtfertigt, daß geschickte deutsche
Geschäftsleute dieses Spiel der Marokkaner aufnahmen, um sich geschäftliche


Grenzboten IV 1912 64
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_322400/508>, abgerufen am 15.01.2025.