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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr.

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Dichtung und Wahrheit in der INarokkofrage

die Regierung selbst zur Aufklärung der Sache tat, kam gegen die herrschende
Stimmung nicht recht auf, weil eine umfassende Veröffentlichung urkundlichen
Materials aus verschiedenen Gründen nicht empfehlenswert schien, während die
Darstellungen, die der Reichskanzler und der Staatssekretär des Auswärtigen
Amts gelegentlich im Reichstag gaben, durch die nachfolgende Preßpolemik ihrer
unmittelbaren Wirkung beraubt wurden. Sonstige Veröffentlichungen aber,
deren Verfasser gegen den Strom der öffentlichen Meinung zu schwimmen ver¬
suchten, wurden, obwohl sie auf guten Informationen beruhte", in der Presse
mit der ganzen Verachtung abgetan, die man für sogenannte "offiziöse Be¬
schönigungsversuche" übrig zu haben pflegt. Das Gesamtergebnis ist also, daß
bei uns kaum etwas geschehen ist, um die von Augenblicksstimmungen, äußeren
Eindrücken und bestimmten Tendenzen beeinflußten Darstellungen der Marokko¬
frage gründlich nachzuprüfen.

In Frankreich ist man sehr viel eifriger beschäftigt gewesen, die öffentliche
Meinung in zusammenhängenden Darstellungen außerhalb der Tagespresse über
die Marokkoangelegenheit zu belehren. Eine ganze Reihe von Veröffentlichungen
ist bald nach Abschluß der deutsch-französischen Verhandlungen erschienen, meist
aus der Feder von Journalisten, die die Frage in den Zeitungen behandelt
und zu diesem Zweck an amtlichen Stellen und bei eingeweihten Interessenten
Informationen gesammelt hatten, diese aber, bevor die Frage nicht zu einem
gewissen Abschluß gediehen war, nicht völlig der Öffentlichkeit preisgeben konnten.
Es braucht kaum besonders erwähnt zu werden, daß diese Darstellungen den
Vorzug haben, von einer genauen Kenntnis der öffentlichen Meinung in Frank¬
reich auszugehen. Sie wollen ja eine Brücke herstellen zwischen den Vor¬
stellungen des französischen Volkes und den Wegen, die die französische Regierung,
teils aus ihrer besseren Einsicht in den wahren Stand der Dinge, teils durch
die Umstände gedrängt, eingeschlagen hatte. Solche Darstellungen der Frage
können natürlich auch für uns außerordentlich lehrreich sein, da es für uns in
diesem und in manchem kommenden Fall nützlich sein muß, die Eigentümlich¬
keiten der französischen Auffassung kennen zu lernen. Nur darf man sie nicht
als Quellen ansehen, aus denen wir Deutschen uns über die für uns wichtigen
Tatsachen objektiv unterrichten können. Deshalb verdient, wie ich glaube,
unter den Schriften dieser Art die meiste Aufmerksamkeit nicht diejenige, die
sich nach unseren Begriffen am meisten unserer Auffassung der Tatsachen nähert
und daher uns den größten Wahrheitskern zu enthalten scheint, sondern die¬
jenige, die in ihrer Auffassung der französischen Interessen am meisten die
nationale Eigenart wiederspiegelt und für die Aufgabe, Regierungspolitik und
öffentliche Meinung in Einklang zu setzen, augenscheinlich die intimste Kenntnis
der amtlichen Auffassungen, der Wünsche der privaten Interessenten und der
populären Strömungen mitbringt. Als eine solche Darstellung der letzten Phase
der Marokkofrage darf wohl das Buch von Andrö Tardieu gelten, das unter
dem Titel: "l^e ^ystöre ä'^Maur" im Frühjahr erschienen ist. Der bekannte


Dichtung und Wahrheit in der INarokkofrage

die Regierung selbst zur Aufklärung der Sache tat, kam gegen die herrschende
Stimmung nicht recht auf, weil eine umfassende Veröffentlichung urkundlichen
Materials aus verschiedenen Gründen nicht empfehlenswert schien, während die
Darstellungen, die der Reichskanzler und der Staatssekretär des Auswärtigen
Amts gelegentlich im Reichstag gaben, durch die nachfolgende Preßpolemik ihrer
unmittelbaren Wirkung beraubt wurden. Sonstige Veröffentlichungen aber,
deren Verfasser gegen den Strom der öffentlichen Meinung zu schwimmen ver¬
suchten, wurden, obwohl sie auf guten Informationen beruhte», in der Presse
mit der ganzen Verachtung abgetan, die man für sogenannte „offiziöse Be¬
schönigungsversuche" übrig zu haben pflegt. Das Gesamtergebnis ist also, daß
bei uns kaum etwas geschehen ist, um die von Augenblicksstimmungen, äußeren
Eindrücken und bestimmten Tendenzen beeinflußten Darstellungen der Marokko¬
frage gründlich nachzuprüfen.

In Frankreich ist man sehr viel eifriger beschäftigt gewesen, die öffentliche
Meinung in zusammenhängenden Darstellungen außerhalb der Tagespresse über
die Marokkoangelegenheit zu belehren. Eine ganze Reihe von Veröffentlichungen
ist bald nach Abschluß der deutsch-französischen Verhandlungen erschienen, meist
aus der Feder von Journalisten, die die Frage in den Zeitungen behandelt
und zu diesem Zweck an amtlichen Stellen und bei eingeweihten Interessenten
Informationen gesammelt hatten, diese aber, bevor die Frage nicht zu einem
gewissen Abschluß gediehen war, nicht völlig der Öffentlichkeit preisgeben konnten.
Es braucht kaum besonders erwähnt zu werden, daß diese Darstellungen den
Vorzug haben, von einer genauen Kenntnis der öffentlichen Meinung in Frank¬
reich auszugehen. Sie wollen ja eine Brücke herstellen zwischen den Vor¬
stellungen des französischen Volkes und den Wegen, die die französische Regierung,
teils aus ihrer besseren Einsicht in den wahren Stand der Dinge, teils durch
die Umstände gedrängt, eingeschlagen hatte. Solche Darstellungen der Frage
können natürlich auch für uns außerordentlich lehrreich sein, da es für uns in
diesem und in manchem kommenden Fall nützlich sein muß, die Eigentümlich¬
keiten der französischen Auffassung kennen zu lernen. Nur darf man sie nicht
als Quellen ansehen, aus denen wir Deutschen uns über die für uns wichtigen
Tatsachen objektiv unterrichten können. Deshalb verdient, wie ich glaube,
unter den Schriften dieser Art die meiste Aufmerksamkeit nicht diejenige, die
sich nach unseren Begriffen am meisten unserer Auffassung der Tatsachen nähert
und daher uns den größten Wahrheitskern zu enthalten scheint, sondern die¬
jenige, die in ihrer Auffassung der französischen Interessen am meisten die
nationale Eigenart wiederspiegelt und für die Aufgabe, Regierungspolitik und
öffentliche Meinung in Einklang zu setzen, augenscheinlich die intimste Kenntnis
der amtlichen Auffassungen, der Wünsche der privaten Interessenten und der
populären Strömungen mitbringt. Als eine solche Darstellung der letzten Phase
der Marokkofrage darf wohl das Buch von Andrö Tardieu gelten, das unter
dem Titel: „l^e ^ystöre ä'^Maur" im Frühjahr erschienen ist. Der bekannte


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[0504] Dichtung und Wahrheit in der INarokkofrage die Regierung selbst zur Aufklärung der Sache tat, kam gegen die herrschende Stimmung nicht recht auf, weil eine umfassende Veröffentlichung urkundlichen Materials aus verschiedenen Gründen nicht empfehlenswert schien, während die Darstellungen, die der Reichskanzler und der Staatssekretär des Auswärtigen Amts gelegentlich im Reichstag gaben, durch die nachfolgende Preßpolemik ihrer unmittelbaren Wirkung beraubt wurden. Sonstige Veröffentlichungen aber, deren Verfasser gegen den Strom der öffentlichen Meinung zu schwimmen ver¬ suchten, wurden, obwohl sie auf guten Informationen beruhte», in der Presse mit der ganzen Verachtung abgetan, die man für sogenannte „offiziöse Be¬ schönigungsversuche" übrig zu haben pflegt. Das Gesamtergebnis ist also, daß bei uns kaum etwas geschehen ist, um die von Augenblicksstimmungen, äußeren Eindrücken und bestimmten Tendenzen beeinflußten Darstellungen der Marokko¬ frage gründlich nachzuprüfen. In Frankreich ist man sehr viel eifriger beschäftigt gewesen, die öffentliche Meinung in zusammenhängenden Darstellungen außerhalb der Tagespresse über die Marokkoangelegenheit zu belehren. Eine ganze Reihe von Veröffentlichungen ist bald nach Abschluß der deutsch-französischen Verhandlungen erschienen, meist aus der Feder von Journalisten, die die Frage in den Zeitungen behandelt und zu diesem Zweck an amtlichen Stellen und bei eingeweihten Interessenten Informationen gesammelt hatten, diese aber, bevor die Frage nicht zu einem gewissen Abschluß gediehen war, nicht völlig der Öffentlichkeit preisgeben konnten. Es braucht kaum besonders erwähnt zu werden, daß diese Darstellungen den Vorzug haben, von einer genauen Kenntnis der öffentlichen Meinung in Frank¬ reich auszugehen. Sie wollen ja eine Brücke herstellen zwischen den Vor¬ stellungen des französischen Volkes und den Wegen, die die französische Regierung, teils aus ihrer besseren Einsicht in den wahren Stand der Dinge, teils durch die Umstände gedrängt, eingeschlagen hatte. Solche Darstellungen der Frage können natürlich auch für uns außerordentlich lehrreich sein, da es für uns in diesem und in manchem kommenden Fall nützlich sein muß, die Eigentümlich¬ keiten der französischen Auffassung kennen zu lernen. Nur darf man sie nicht als Quellen ansehen, aus denen wir Deutschen uns über die für uns wichtigen Tatsachen objektiv unterrichten können. Deshalb verdient, wie ich glaube, unter den Schriften dieser Art die meiste Aufmerksamkeit nicht diejenige, die sich nach unseren Begriffen am meisten unserer Auffassung der Tatsachen nähert und daher uns den größten Wahrheitskern zu enthalten scheint, sondern die¬ jenige, die in ihrer Auffassung der französischen Interessen am meisten die nationale Eigenart wiederspiegelt und für die Aufgabe, Regierungspolitik und öffentliche Meinung in Einklang zu setzen, augenscheinlich die intimste Kenntnis der amtlichen Auffassungen, der Wünsche der privaten Interessenten und der populären Strömungen mitbringt. Als eine solche Darstellung der letzten Phase der Marokkofrage darf wohl das Buch von Andrö Tardieu gelten, das unter dem Titel: „l^e ^ystöre ä'^Maur" im Frühjahr erschienen ist. Der bekannte

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_322400/504>, abgerufen am 15.01.2025.