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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr.

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Grimmelshausen und der Simplizius Simplizissimus

in das heiß ersehnte Italien gekommen. Den Eindrücken unterwegs und bei
seinen Reisegefährten verdanken wir jene Darstellungen aus dem Leben der
heimatlosen Vagabunden, die als ausdrucksvollste Illustrationen zu Grimmels-
hausens "Landstörzerin Courage" betrachtet werden können. Freilich von noch
größerer Bedeutung sind seine beiden Zyklen von den "Schrecknissen des Kriegs",
welche 1632 bis 1633 entstanden, in denen wir die zeichnerisch vollendete Ge¬
staltung des Milieus besitzen, das wir nirgends lebendiger als bei Grimmels¬
hausen dichterisch festgehalten finden. Zum Landstörzer und Zigeuner war der
gewaltsam aus aller Heimat gerissene Waffenbruder und Landsknecht getreten, neben
die Schelmen und Picaros die in der Kriegslust hart gewordenen Abenteurer,
Beutesucher, Marodebrüder und Mordbrenner. Mit gleicher Energie und mit
gleicher Totalität gab Callot mit dem Stichel, was Grimmelshausen mit der
Feder von den Menschen und Schicksalen der kriegerfüllten Welt den Nachfahren
überlieferte.

Die literarischen Produkte, welche jene europäische Stimmung erzeugte, die
Schelmengeschichten, machten naturgemäß aus einen Menschen wie Grimmels¬
hausen, welcher durch das wilde Hin und Her des Dreißigjährigen Krieges
gegangen war, einen ganz besonderen Eindruck; da begegneten ihm verwandte
Klänge, bekannte Situationen und vertraute Charaktere. Und gerade bei ihrer
Lektüre mag er sich besonnen und voll erregender Betroffenheit gemerkt haben,
daß er selber viel mehr als jene Picaros erlebt hatte, bis er vom Gelnhausener
Büblein zum Soldaten, und vom Soldaten zum Renchener Schultheiß geworden
war, daß er aber auch anders zum Leben stand als sie, freier, ernster und
tiefer. Und so kam er dazu und schrieb in manchen Stunden die Geschichte eines
Mannes, dem er in vielen Zügen sein Antlitz lieh und sein äußeres Kleid, in den
er aber auch sein inneres Wesen hineingoß, bis das Ganze mehr wurde als
bloß ein kulturhistorisches Dokument, sondern überdies ein Kunstwerk voll innerer
Haltung und Beseeltheit. So schritt der Simplizius Simplizissimus aus seinem
engen Tal hinaus in die weite Welt.

Was wollten neben ihm die früheren schriftstellerischen Versuche Grimmels-
Hausens bedeuten, jene "Traumgeschichte von Dir und Mir" und jener "Flie¬
gende Wandersmann nach dem Mond", die er zur Stilübung vor etwa zehn
Jahren nach einer französischen Vorlage übersetzt hatte, -- oder die "Histori
vom keuschen Joseph", welche er als literarisches Produkt mehr aus seinen
angelesenen Kenntnissen als aus seinem inneren Schaffensgrund zutage förderte.

Erst im "Simplizissimus" gab er den blutwarmen Niederschlag seines
Lebens, seines Entwicklungsganges, seiner inneren Gestaltenfülle und seiner
Weltanschauung. Hier rangen sich seine Hoffnung und Sehnsucht, seine Leiden
und Freuden vom Herzen. Der "Simplizius" wird sein Bekenntnisbuch, seine
"Dichtung und Wahrheit" und darum ein wirkendes Zeugnis auch vom Dichter¬
und Menschenwert Grimmelshausens. Es ist nicht ohne Bedeutung, daß der
eigentliche Name des Helden, Melchior Sternfels von Fuchsheim, ein Anagramm


Grimmelshausen und der Simplizius Simplizissimus

in das heiß ersehnte Italien gekommen. Den Eindrücken unterwegs und bei
seinen Reisegefährten verdanken wir jene Darstellungen aus dem Leben der
heimatlosen Vagabunden, die als ausdrucksvollste Illustrationen zu Grimmels-
hausens „Landstörzerin Courage" betrachtet werden können. Freilich von noch
größerer Bedeutung sind seine beiden Zyklen von den „Schrecknissen des Kriegs",
welche 1632 bis 1633 entstanden, in denen wir die zeichnerisch vollendete Ge¬
staltung des Milieus besitzen, das wir nirgends lebendiger als bei Grimmels¬
hausen dichterisch festgehalten finden. Zum Landstörzer und Zigeuner war der
gewaltsam aus aller Heimat gerissene Waffenbruder und Landsknecht getreten, neben
die Schelmen und Picaros die in der Kriegslust hart gewordenen Abenteurer,
Beutesucher, Marodebrüder und Mordbrenner. Mit gleicher Energie und mit
gleicher Totalität gab Callot mit dem Stichel, was Grimmelshausen mit der
Feder von den Menschen und Schicksalen der kriegerfüllten Welt den Nachfahren
überlieferte.

Die literarischen Produkte, welche jene europäische Stimmung erzeugte, die
Schelmengeschichten, machten naturgemäß aus einen Menschen wie Grimmels¬
hausen, welcher durch das wilde Hin und Her des Dreißigjährigen Krieges
gegangen war, einen ganz besonderen Eindruck; da begegneten ihm verwandte
Klänge, bekannte Situationen und vertraute Charaktere. Und gerade bei ihrer
Lektüre mag er sich besonnen und voll erregender Betroffenheit gemerkt haben,
daß er selber viel mehr als jene Picaros erlebt hatte, bis er vom Gelnhausener
Büblein zum Soldaten, und vom Soldaten zum Renchener Schultheiß geworden
war, daß er aber auch anders zum Leben stand als sie, freier, ernster und
tiefer. Und so kam er dazu und schrieb in manchen Stunden die Geschichte eines
Mannes, dem er in vielen Zügen sein Antlitz lieh und sein äußeres Kleid, in den
er aber auch sein inneres Wesen hineingoß, bis das Ganze mehr wurde als
bloß ein kulturhistorisches Dokument, sondern überdies ein Kunstwerk voll innerer
Haltung und Beseeltheit. So schritt der Simplizius Simplizissimus aus seinem
engen Tal hinaus in die weite Welt.

Was wollten neben ihm die früheren schriftstellerischen Versuche Grimmels-
Hausens bedeuten, jene „Traumgeschichte von Dir und Mir" und jener „Flie¬
gende Wandersmann nach dem Mond", die er zur Stilübung vor etwa zehn
Jahren nach einer französischen Vorlage übersetzt hatte, — oder die „Histori
vom keuschen Joseph", welche er als literarisches Produkt mehr aus seinen
angelesenen Kenntnissen als aus seinem inneren Schaffensgrund zutage förderte.

Erst im „Simplizissimus" gab er den blutwarmen Niederschlag seines
Lebens, seines Entwicklungsganges, seiner inneren Gestaltenfülle und seiner
Weltanschauung. Hier rangen sich seine Hoffnung und Sehnsucht, seine Leiden
und Freuden vom Herzen. Der „Simplizius" wird sein Bekenntnisbuch, seine
„Dichtung und Wahrheit" und darum ein wirkendes Zeugnis auch vom Dichter¬
und Menschenwert Grimmelshausens. Es ist nicht ohne Bedeutung, daß der
eigentliche Name des Helden, Melchior Sternfels von Fuchsheim, ein Anagramm


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[0465] Grimmelshausen und der Simplizius Simplizissimus in das heiß ersehnte Italien gekommen. Den Eindrücken unterwegs und bei seinen Reisegefährten verdanken wir jene Darstellungen aus dem Leben der heimatlosen Vagabunden, die als ausdrucksvollste Illustrationen zu Grimmels- hausens „Landstörzerin Courage" betrachtet werden können. Freilich von noch größerer Bedeutung sind seine beiden Zyklen von den „Schrecknissen des Kriegs", welche 1632 bis 1633 entstanden, in denen wir die zeichnerisch vollendete Ge¬ staltung des Milieus besitzen, das wir nirgends lebendiger als bei Grimmels¬ hausen dichterisch festgehalten finden. Zum Landstörzer und Zigeuner war der gewaltsam aus aller Heimat gerissene Waffenbruder und Landsknecht getreten, neben die Schelmen und Picaros die in der Kriegslust hart gewordenen Abenteurer, Beutesucher, Marodebrüder und Mordbrenner. Mit gleicher Energie und mit gleicher Totalität gab Callot mit dem Stichel, was Grimmelshausen mit der Feder von den Menschen und Schicksalen der kriegerfüllten Welt den Nachfahren überlieferte. Die literarischen Produkte, welche jene europäische Stimmung erzeugte, die Schelmengeschichten, machten naturgemäß aus einen Menschen wie Grimmels¬ hausen, welcher durch das wilde Hin und Her des Dreißigjährigen Krieges gegangen war, einen ganz besonderen Eindruck; da begegneten ihm verwandte Klänge, bekannte Situationen und vertraute Charaktere. Und gerade bei ihrer Lektüre mag er sich besonnen und voll erregender Betroffenheit gemerkt haben, daß er selber viel mehr als jene Picaros erlebt hatte, bis er vom Gelnhausener Büblein zum Soldaten, und vom Soldaten zum Renchener Schultheiß geworden war, daß er aber auch anders zum Leben stand als sie, freier, ernster und tiefer. Und so kam er dazu und schrieb in manchen Stunden die Geschichte eines Mannes, dem er in vielen Zügen sein Antlitz lieh und sein äußeres Kleid, in den er aber auch sein inneres Wesen hineingoß, bis das Ganze mehr wurde als bloß ein kulturhistorisches Dokument, sondern überdies ein Kunstwerk voll innerer Haltung und Beseeltheit. So schritt der Simplizius Simplizissimus aus seinem engen Tal hinaus in die weite Welt. Was wollten neben ihm die früheren schriftstellerischen Versuche Grimmels- Hausens bedeuten, jene „Traumgeschichte von Dir und Mir" und jener „Flie¬ gende Wandersmann nach dem Mond", die er zur Stilübung vor etwa zehn Jahren nach einer französischen Vorlage übersetzt hatte, — oder die „Histori vom keuschen Joseph", welche er als literarisches Produkt mehr aus seinen angelesenen Kenntnissen als aus seinem inneren Schaffensgrund zutage förderte. Erst im „Simplizissimus" gab er den blutwarmen Niederschlag seines Lebens, seines Entwicklungsganges, seiner inneren Gestaltenfülle und seiner Weltanschauung. Hier rangen sich seine Hoffnung und Sehnsucht, seine Leiden und Freuden vom Herzen. Der „Simplizius" wird sein Bekenntnisbuch, seine „Dichtung und Wahrheit" und darum ein wirkendes Zeugnis auch vom Dichter¬ und Menschenwert Grimmelshausens. Es ist nicht ohne Bedeutung, daß der eigentliche Name des Helden, Melchior Sternfels von Fuchsheim, ein Anagramm

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_322400/465>, abgerufen am 15.01.2025.