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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr.

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Armee in Albanien und im Sandschak, beides in den Augen der Welt durch
eine weniger geschickte als rücksichtslose Handhabung der Zensur ins Unendliche
gesteigert, verblüfften die öffentliche Meinung Europas derart, daß kaum noch
jemand daran zweifelte, die Türkei liege am Boden; weder dürften die Mächte
die christlichen Balkanstaaten um die Früchte ihrer Siege bringen, noch könnten
die Großmächte selbst zurückgehalten werden, den türkischen Braten in Kleinasien
zu zerlegen. Mit diesem Wandel der Kräfteverhältnisse und Meinungen bekam
auch die Stellung Österreich-Ungarns zum Sandschak-und zum Adriaproblem ein
anderes Gesicht, nachdem es sich herausstellte, daß Serbien das von ihm besetzte
Gebiet behalten wollte.

Die Erwerbsgesellschast des Balkanbundes hatte nämlich die europäische Türkei
-- zunächst freilich nur auf dem Papier-- unter sich wie folgt geteilt: Bulgarien
sollte das Gebiet südlich seiner bisherigen Grenzen bis ans Meer ohne Kon¬
stantinopel erhalten; Griechenland Mazedonien ohne Saloniki; Montenegro
einige Gebiete südlich und östlich; Serbien den Sandschak und Albanien mit
einem verhältnismäßig breiten Küstenstreifen an der Adria. Gerade hinter
den Absichten Serbiens steht Nußland, das ein möglichst starkes Serbien an
der Südgrenze Ungarns haben möchte, einmal um in einem Kriege die Kräfte
der Habsburgischen Monarchie zu zersplittern, und ferner um neben Montenegro
noch einen zweiten Schutzmann an der Adria zu besitzen, der Italien und
Österreich-Ungarn kontrollieren könnte. Speziell gegen die Aufstellung dieses
zweiten russischen Schutzmannspostens sind die Ansichten Österreich-Ungarns und
Italiens geeint.

Aus dem Widerspruch der Interessen, der sich durch den knappen Satz
ausdrücken läßt: soll Serbien an die Adria gelangen? ist der Konflikt entstanden,
der über Europa so plötzlich die Sorge des Krieges zusammengezogen hat.
Also nicht das Wohl und Wehe der europäischen Türkei steht zur Erörterung.
Österreich und Italien schlagen nun vor, Serbien solle sich einen Ausgang zum
ägäischen Meer suchen. Davon will Serbien nichts wissen, aus Furcht mit
Bulgarien und Griechenland in Verdruß zu kommen, da deren Anteil an der
Beute geschmälert ^werden müßte. Aber auch Rußland will nichts davon
hören, denn das, was es den heutigen Adriamächten leichten Herzens zumutet,
weist es am ägäischen Meer mit Entrüstung zurück: es will neben Türken,
Bulgaren und Griechen nicht noch die Serben in der Nähe der Dardanellen
haben.

Die vermittelnden Vorschläge Österreich-Ungarns, die auch seitens Italiens
und Deutschlands unterstützt werden und seitens der Türkei nicht zurückgewiesen
werden dürften, zielen nun auf folgendes: Serbien bekommt einige Gebiets¬
erweiterungen an seinen Südwestgrenzen; Albanien wird aber als autonomer Staat
unter Herrschaft eines von der Türkei ziemlich lose abhängigen Emirs organisiert;
den wirtschaftlichen Interessen Serbiens wird durch den Bau einer Eisenbahn
zur Adria Rechnung getragen. Serbien will von allen dem nichts hören und


Aeichsspii!gel

Armee in Albanien und im Sandschak, beides in den Augen der Welt durch
eine weniger geschickte als rücksichtslose Handhabung der Zensur ins Unendliche
gesteigert, verblüfften die öffentliche Meinung Europas derart, daß kaum noch
jemand daran zweifelte, die Türkei liege am Boden; weder dürften die Mächte
die christlichen Balkanstaaten um die Früchte ihrer Siege bringen, noch könnten
die Großmächte selbst zurückgehalten werden, den türkischen Braten in Kleinasien
zu zerlegen. Mit diesem Wandel der Kräfteverhältnisse und Meinungen bekam
auch die Stellung Österreich-Ungarns zum Sandschak-und zum Adriaproblem ein
anderes Gesicht, nachdem es sich herausstellte, daß Serbien das von ihm besetzte
Gebiet behalten wollte.

Die Erwerbsgesellschast des Balkanbundes hatte nämlich die europäische Türkei
— zunächst freilich nur auf dem Papier— unter sich wie folgt geteilt: Bulgarien
sollte das Gebiet südlich seiner bisherigen Grenzen bis ans Meer ohne Kon¬
stantinopel erhalten; Griechenland Mazedonien ohne Saloniki; Montenegro
einige Gebiete südlich und östlich; Serbien den Sandschak und Albanien mit
einem verhältnismäßig breiten Küstenstreifen an der Adria. Gerade hinter
den Absichten Serbiens steht Nußland, das ein möglichst starkes Serbien an
der Südgrenze Ungarns haben möchte, einmal um in einem Kriege die Kräfte
der Habsburgischen Monarchie zu zersplittern, und ferner um neben Montenegro
noch einen zweiten Schutzmann an der Adria zu besitzen, der Italien und
Österreich-Ungarn kontrollieren könnte. Speziell gegen die Aufstellung dieses
zweiten russischen Schutzmannspostens sind die Ansichten Österreich-Ungarns und
Italiens geeint.

Aus dem Widerspruch der Interessen, der sich durch den knappen Satz
ausdrücken läßt: soll Serbien an die Adria gelangen? ist der Konflikt entstanden,
der über Europa so plötzlich die Sorge des Krieges zusammengezogen hat.
Also nicht das Wohl und Wehe der europäischen Türkei steht zur Erörterung.
Österreich und Italien schlagen nun vor, Serbien solle sich einen Ausgang zum
ägäischen Meer suchen. Davon will Serbien nichts wissen, aus Furcht mit
Bulgarien und Griechenland in Verdruß zu kommen, da deren Anteil an der
Beute geschmälert ^werden müßte. Aber auch Rußland will nichts davon
hören, denn das, was es den heutigen Adriamächten leichten Herzens zumutet,
weist es am ägäischen Meer mit Entrüstung zurück: es will neben Türken,
Bulgaren und Griechen nicht noch die Serben in der Nähe der Dardanellen
haben.

Die vermittelnden Vorschläge Österreich-Ungarns, die auch seitens Italiens
und Deutschlands unterstützt werden und seitens der Türkei nicht zurückgewiesen
werden dürften, zielen nun auf folgendes: Serbien bekommt einige Gebiets¬
erweiterungen an seinen Südwestgrenzen; Albanien wird aber als autonomer Staat
unter Herrschaft eines von der Türkei ziemlich lose abhängigen Emirs organisiert;
den wirtschaftlichen Interessen Serbiens wird durch den Bau einer Eisenbahn
zur Adria Rechnung getragen. Serbien will von allen dem nichts hören und


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[0449] Aeichsspii!gel Armee in Albanien und im Sandschak, beides in den Augen der Welt durch eine weniger geschickte als rücksichtslose Handhabung der Zensur ins Unendliche gesteigert, verblüfften die öffentliche Meinung Europas derart, daß kaum noch jemand daran zweifelte, die Türkei liege am Boden; weder dürften die Mächte die christlichen Balkanstaaten um die Früchte ihrer Siege bringen, noch könnten die Großmächte selbst zurückgehalten werden, den türkischen Braten in Kleinasien zu zerlegen. Mit diesem Wandel der Kräfteverhältnisse und Meinungen bekam auch die Stellung Österreich-Ungarns zum Sandschak-und zum Adriaproblem ein anderes Gesicht, nachdem es sich herausstellte, daß Serbien das von ihm besetzte Gebiet behalten wollte. Die Erwerbsgesellschast des Balkanbundes hatte nämlich die europäische Türkei — zunächst freilich nur auf dem Papier— unter sich wie folgt geteilt: Bulgarien sollte das Gebiet südlich seiner bisherigen Grenzen bis ans Meer ohne Kon¬ stantinopel erhalten; Griechenland Mazedonien ohne Saloniki; Montenegro einige Gebiete südlich und östlich; Serbien den Sandschak und Albanien mit einem verhältnismäßig breiten Küstenstreifen an der Adria. Gerade hinter den Absichten Serbiens steht Nußland, das ein möglichst starkes Serbien an der Südgrenze Ungarns haben möchte, einmal um in einem Kriege die Kräfte der Habsburgischen Monarchie zu zersplittern, und ferner um neben Montenegro noch einen zweiten Schutzmann an der Adria zu besitzen, der Italien und Österreich-Ungarn kontrollieren könnte. Speziell gegen die Aufstellung dieses zweiten russischen Schutzmannspostens sind die Ansichten Österreich-Ungarns und Italiens geeint. Aus dem Widerspruch der Interessen, der sich durch den knappen Satz ausdrücken läßt: soll Serbien an die Adria gelangen? ist der Konflikt entstanden, der über Europa so plötzlich die Sorge des Krieges zusammengezogen hat. Also nicht das Wohl und Wehe der europäischen Türkei steht zur Erörterung. Österreich und Italien schlagen nun vor, Serbien solle sich einen Ausgang zum ägäischen Meer suchen. Davon will Serbien nichts wissen, aus Furcht mit Bulgarien und Griechenland in Verdruß zu kommen, da deren Anteil an der Beute geschmälert ^werden müßte. Aber auch Rußland will nichts davon hören, denn das, was es den heutigen Adriamächten leichten Herzens zumutet, weist es am ägäischen Meer mit Entrüstung zurück: es will neben Türken, Bulgaren und Griechen nicht noch die Serben in der Nähe der Dardanellen haben. Die vermittelnden Vorschläge Österreich-Ungarns, die auch seitens Italiens und Deutschlands unterstützt werden und seitens der Türkei nicht zurückgewiesen werden dürften, zielen nun auf folgendes: Serbien bekommt einige Gebiets¬ erweiterungen an seinen Südwestgrenzen; Albanien wird aber als autonomer Staat unter Herrschaft eines von der Türkei ziemlich lose abhängigen Emirs organisiert; den wirtschaftlichen Interessen Serbiens wird durch den Bau einer Eisenbahn zur Adria Rechnung getragen. Serbien will von allen dem nichts hören und

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_322400/449>, abgerufen am 15.01.2025.