Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite


Reichsspiegel
Deutschland und der österreichisch-serbische Konflikt

Dieser Tage setzte mir ein Freund der Grenzboten die Aufgaben Deutsch¬
lands im Angesicht der Balkankrise wie folgt auseinander: Kleinasien sei das
letzte Stück Erde, um das die europäischen Großmächte zu kämpfen haben, das
infolgedessen auch noch in den Besitz Deutschlands gebracht werden könnte;
daher sei es Deutschlands Pflicht, Österreich auf allen seinen Wegen im Orient
zu folgen und ihm besonders in seinem Streit mit Serbien den Rücken zu
stärken; Österreich werde zur Durchsetzung seiner Interessen auf der Balkanhalb¬
insel vor den: Kriege nicht zurückschrecken, wenn es Deutschlands militärischer
Unterstützung sicher sei; in Anerkennung dieser Unterstützung würde Österreich
uns helfen, Kleinasien zu gewinnen. Die Auffassung unseres Freundes steht
nicht allein da; sie stellt vielmehr die Auffassung weiter Kreise in Deutschland
dar. In ihrer einfachen Gradlinigkeit hat sie zweifellos etwas sehr Bestechendes
an sich. Eine nähere Überlegung zeigt indessen, daß die Auffassung vor den
Aufgaben der Praxis nicht standhält. Was gefordert wird ist nicht mehr und
nicht weniger, als daß Deutschland sein Selbstbestimmungsrecht ohne weiteres
in die Hände der österreichischen Staatsmänner legen solle. Aber noch mehr:
die hier Deutschland zugedachte Aufgabe steht im gegenwärtigen kritischen
Augenblick gar nicht zur Erörterung.

Wie ist denn die Lage?

Österreich hat in Albanien und an der Adria politische und territoriale
Interessen, die durch die siegreichen Serben bedroht sind. Im übrigen sind
Deutschland und Österreich als Exportländer von Jndustrieprodukten im nahen
Orient Konkurrenten. Im Vertrauen auf die Tüchtigkeit des türkischen Heeres
und auch in der Hoffnung, den Balkanbund von einem Kriege zurückzuhalten,
hat sich die Diplomatie der Großmächte auf die Formel des 8tatu8 quo
geeinigt, wonach selbst ein siegreicher Balkanbund auf keinerlei territoriale
Erwerbungen auf Kosten der Türkei rechnen sollte. Die unerwartet großen
Erfolge Bulgariens und die scheinbar vollständige Auflösung der türkischen


Grenzboten IV 1S12 56


Reichsspiegel
Deutschland und der österreichisch-serbische Konflikt

Dieser Tage setzte mir ein Freund der Grenzboten die Aufgaben Deutsch¬
lands im Angesicht der Balkankrise wie folgt auseinander: Kleinasien sei das
letzte Stück Erde, um das die europäischen Großmächte zu kämpfen haben, das
infolgedessen auch noch in den Besitz Deutschlands gebracht werden könnte;
daher sei es Deutschlands Pflicht, Österreich auf allen seinen Wegen im Orient
zu folgen und ihm besonders in seinem Streit mit Serbien den Rücken zu
stärken; Österreich werde zur Durchsetzung seiner Interessen auf der Balkanhalb¬
insel vor den: Kriege nicht zurückschrecken, wenn es Deutschlands militärischer
Unterstützung sicher sei; in Anerkennung dieser Unterstützung würde Österreich
uns helfen, Kleinasien zu gewinnen. Die Auffassung unseres Freundes steht
nicht allein da; sie stellt vielmehr die Auffassung weiter Kreise in Deutschland
dar. In ihrer einfachen Gradlinigkeit hat sie zweifellos etwas sehr Bestechendes
an sich. Eine nähere Überlegung zeigt indessen, daß die Auffassung vor den
Aufgaben der Praxis nicht standhält. Was gefordert wird ist nicht mehr und
nicht weniger, als daß Deutschland sein Selbstbestimmungsrecht ohne weiteres
in die Hände der österreichischen Staatsmänner legen solle. Aber noch mehr:
die hier Deutschland zugedachte Aufgabe steht im gegenwärtigen kritischen
Augenblick gar nicht zur Erörterung.

Wie ist denn die Lage?

Österreich hat in Albanien und an der Adria politische und territoriale
Interessen, die durch die siegreichen Serben bedroht sind. Im übrigen sind
Deutschland und Österreich als Exportländer von Jndustrieprodukten im nahen
Orient Konkurrenten. Im Vertrauen auf die Tüchtigkeit des türkischen Heeres
und auch in der Hoffnung, den Balkanbund von einem Kriege zurückzuhalten,
hat sich die Diplomatie der Großmächte auf die Formel des 8tatu8 quo
geeinigt, wonach selbst ein siegreicher Balkanbund auf keinerlei territoriale
Erwerbungen auf Kosten der Türkei rechnen sollte. Die unerwartet großen
Erfolge Bulgariens und die scheinbar vollständige Auflösung der türkischen


Grenzboten IV 1S12 56
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <pb facs="#f0448" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/322850"/>
            <figure facs="http://media.dwds.de/dta/images/grenzboten_341895_322400/figures/grenzboten_341895_322400_322850_000.jpg"/><lb/>
          </div>
        </div>
        <div n="1">
          <head> Reichsspiegel<lb/></head><lb/>
          <div n="2">
            <head> Deutschland und der österreichisch-serbische Konflikt</head><lb/>
            <p xml:id="ID_2259"> Dieser Tage setzte mir ein Freund der Grenzboten die Aufgaben Deutsch¬<lb/>
lands im Angesicht der Balkankrise wie folgt auseinander: Kleinasien sei das<lb/>
letzte Stück Erde, um das die europäischen Großmächte zu kämpfen haben, das<lb/>
infolgedessen auch noch in den Besitz Deutschlands gebracht werden könnte;<lb/>
daher sei es Deutschlands Pflicht, Österreich auf allen seinen Wegen im Orient<lb/>
zu folgen und ihm besonders in seinem Streit mit Serbien den Rücken zu<lb/>
stärken; Österreich werde zur Durchsetzung seiner Interessen auf der Balkanhalb¬<lb/>
insel vor den: Kriege nicht zurückschrecken, wenn es Deutschlands militärischer<lb/>
Unterstützung sicher sei; in Anerkennung dieser Unterstützung würde Österreich<lb/>
uns helfen, Kleinasien zu gewinnen. Die Auffassung unseres Freundes steht<lb/>
nicht allein da; sie stellt vielmehr die Auffassung weiter Kreise in Deutschland<lb/>
dar. In ihrer einfachen Gradlinigkeit hat sie zweifellos etwas sehr Bestechendes<lb/>
an sich. Eine nähere Überlegung zeigt indessen, daß die Auffassung vor den<lb/>
Aufgaben der Praxis nicht standhält. Was gefordert wird ist nicht mehr und<lb/>
nicht weniger, als daß Deutschland sein Selbstbestimmungsrecht ohne weiteres<lb/>
in die Hände der österreichischen Staatsmänner legen solle. Aber noch mehr:<lb/>
die hier Deutschland zugedachte Aufgabe steht im gegenwärtigen kritischen<lb/>
Augenblick gar nicht zur Erörterung.</p><lb/>
            <p xml:id="ID_2260"> Wie ist denn die Lage?</p><lb/>
            <p xml:id="ID_2261" next="#ID_2262"> Österreich hat in Albanien und an der Adria politische und territoriale<lb/>
Interessen, die durch die siegreichen Serben bedroht sind. Im übrigen sind<lb/>
Deutschland und Österreich als Exportländer von Jndustrieprodukten im nahen<lb/>
Orient Konkurrenten. Im Vertrauen auf die Tüchtigkeit des türkischen Heeres<lb/>
und auch in der Hoffnung, den Balkanbund von einem Kriege zurückzuhalten,<lb/>
hat sich die Diplomatie der Großmächte auf die Formel des 8tatu8 quo<lb/>
geeinigt, wonach selbst ein siegreicher Balkanbund auf keinerlei territoriale<lb/>
Erwerbungen auf Kosten der Türkei rechnen sollte. Die unerwartet großen<lb/>
Erfolge Bulgariens und die scheinbar vollständige Auflösung der türkischen</p><lb/>
            <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten IV 1S12 56</fw><lb/>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0448] [Abbildung] Reichsspiegel Deutschland und der österreichisch-serbische Konflikt Dieser Tage setzte mir ein Freund der Grenzboten die Aufgaben Deutsch¬ lands im Angesicht der Balkankrise wie folgt auseinander: Kleinasien sei das letzte Stück Erde, um das die europäischen Großmächte zu kämpfen haben, das infolgedessen auch noch in den Besitz Deutschlands gebracht werden könnte; daher sei es Deutschlands Pflicht, Österreich auf allen seinen Wegen im Orient zu folgen und ihm besonders in seinem Streit mit Serbien den Rücken zu stärken; Österreich werde zur Durchsetzung seiner Interessen auf der Balkanhalb¬ insel vor den: Kriege nicht zurückschrecken, wenn es Deutschlands militärischer Unterstützung sicher sei; in Anerkennung dieser Unterstützung würde Österreich uns helfen, Kleinasien zu gewinnen. Die Auffassung unseres Freundes steht nicht allein da; sie stellt vielmehr die Auffassung weiter Kreise in Deutschland dar. In ihrer einfachen Gradlinigkeit hat sie zweifellos etwas sehr Bestechendes an sich. Eine nähere Überlegung zeigt indessen, daß die Auffassung vor den Aufgaben der Praxis nicht standhält. Was gefordert wird ist nicht mehr und nicht weniger, als daß Deutschland sein Selbstbestimmungsrecht ohne weiteres in die Hände der österreichischen Staatsmänner legen solle. Aber noch mehr: die hier Deutschland zugedachte Aufgabe steht im gegenwärtigen kritischen Augenblick gar nicht zur Erörterung. Wie ist denn die Lage? Österreich hat in Albanien und an der Adria politische und territoriale Interessen, die durch die siegreichen Serben bedroht sind. Im übrigen sind Deutschland und Österreich als Exportländer von Jndustrieprodukten im nahen Orient Konkurrenten. Im Vertrauen auf die Tüchtigkeit des türkischen Heeres und auch in der Hoffnung, den Balkanbund von einem Kriege zurückzuhalten, hat sich die Diplomatie der Großmächte auf die Formel des 8tatu8 quo geeinigt, wonach selbst ein siegreicher Balkanbund auf keinerlei territoriale Erwerbungen auf Kosten der Türkei rechnen sollte. Die unerwartet großen Erfolge Bulgariens und die scheinbar vollständige Auflösung der türkischen Grenzboten IV 1S12 56

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_322400
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_322400/448
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_322400/448>, abgerufen am 15.01.2025.