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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr.

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Gleiches Wahlrecht?

Der oben entwickelte Satz: für gleiche Leistungen gleiche Rechte usw. ist
hier trefflich beleuchtet. Während in einem reinen Pluralwahlrecht jedes Indi¬
viduum nach bestimmten Merkmalen gewertet wird, liegt dem ständischen Prinzip
die Bedeutung eines ganzen Erwerbszweiges zugrunde. Und diese Bedeutung
muß das Ergebnis der Menge der Individuen sein, malgenommen mit dem
Interesse des Staats an dem einzelnen Glied des betreffenden Berufs.

Als eine Probe auf geschickte Machtverteilung in Bremen mag die Tat¬
sache gelten, daß es weder zum Terrorismus des Großkapitals noch zu dem
des Proletariats kommen kann, dank der Einschiebung einer kräftigen Mittel¬
standsvertretung. Es ist so verhütet, daß die Vermögenden die Rechte der
Minderbemittelten außer acht lassen, wie auch daß die Masse der Weniger¬
gebildeten sich über die soziale Bedeutung der Kulturträger hinwegsetze.

Die ausführliche Behandlung des Bremer Wahlrechts ist ja von dem
Gesichtspunkt aus erfolgt, daß es dem ideal gleichen Wahlrecht zweifellos näher
kommt als die gleiche Wahl communi sensu: Denn ziehen wir abschließend
den Vergleich:

1. Das Reichswahlrecht hat im Laufe einer Entwicklung, die schlechterdings
nicht alle zehn Jahre durch Neueinteilung berichtigt werden kann, zu einer ganz
erheblichen Ungleichheit der Kreise geführt, und damit zu einer Wahlrechts¬
minderung auf der einen, Wahlrechtsmehrung auf der anderen Seite. Die Spannung
zwischen den auf diese Weise Meist- und Mindestbegünstigten beträgt 25:1.
Sie ist kaum geringer als die bei einem ständischen Klassenwahlrecht, wie dem
zur Bremer Bürgerschaft mit 27 :1.

2. Während aber in Bremen die Privilegierung bestimmter Bildungs- und
Erwerbsgruppen in staatlichem Interesse beabsichtigt ist und wohl mit Vernunft¬
gründen verteidigt werden kann, ist im Reich die Bevorzugung und Entrechtung
einzelner Gegenden gänzlich sinnlos.

3. Nun mag immerhin zugunsten deS Reichs das Überwiegen der Kreise
mittlerer Größe betont werden: 57,5 Prozent der Reichswähler haben ein
mittleres, das heißt 6- bis lOfaches Wahlrecht, während in Bremen sich
55,3 Prozent mit der niedersten Stufe dem einfachen Stimmrecht begnügen
müssen.

4. Doch lehrt ein Blick auf die Mandatsverteilung der Bürgerschaft, daß
der Gefahr jedes Klassen Wahlrechts, der Erdrückung der Minderbemittelten durch
die Rücksichtslosigkeit des Kapitalismus wirksam vorgebeugt ist.

Wo aber sind die Bürgschaften unseres Reichstagswahlrechts, dessen Gleichheit
doch Gerechtigkeit bedeuten soll oder wenigstens sollte -- die Bürgschaften dafür,
daß nicht eines Tages der letzte Kulturträger im Reichstag von den Vertretern
der großen unschöpferischen Masse verdrängt wird?




Gleiches Wahlrecht?

Der oben entwickelte Satz: für gleiche Leistungen gleiche Rechte usw. ist
hier trefflich beleuchtet. Während in einem reinen Pluralwahlrecht jedes Indi¬
viduum nach bestimmten Merkmalen gewertet wird, liegt dem ständischen Prinzip
die Bedeutung eines ganzen Erwerbszweiges zugrunde. Und diese Bedeutung
muß das Ergebnis der Menge der Individuen sein, malgenommen mit dem
Interesse des Staats an dem einzelnen Glied des betreffenden Berufs.

Als eine Probe auf geschickte Machtverteilung in Bremen mag die Tat¬
sache gelten, daß es weder zum Terrorismus des Großkapitals noch zu dem
des Proletariats kommen kann, dank der Einschiebung einer kräftigen Mittel¬
standsvertretung. Es ist so verhütet, daß die Vermögenden die Rechte der
Minderbemittelten außer acht lassen, wie auch daß die Masse der Weniger¬
gebildeten sich über die soziale Bedeutung der Kulturträger hinwegsetze.

Die ausführliche Behandlung des Bremer Wahlrechts ist ja von dem
Gesichtspunkt aus erfolgt, daß es dem ideal gleichen Wahlrecht zweifellos näher
kommt als die gleiche Wahl communi sensu: Denn ziehen wir abschließend
den Vergleich:

1. Das Reichswahlrecht hat im Laufe einer Entwicklung, die schlechterdings
nicht alle zehn Jahre durch Neueinteilung berichtigt werden kann, zu einer ganz
erheblichen Ungleichheit der Kreise geführt, und damit zu einer Wahlrechts¬
minderung auf der einen, Wahlrechtsmehrung auf der anderen Seite. Die Spannung
zwischen den auf diese Weise Meist- und Mindestbegünstigten beträgt 25:1.
Sie ist kaum geringer als die bei einem ständischen Klassenwahlrecht, wie dem
zur Bremer Bürgerschaft mit 27 :1.

2. Während aber in Bremen die Privilegierung bestimmter Bildungs- und
Erwerbsgruppen in staatlichem Interesse beabsichtigt ist und wohl mit Vernunft¬
gründen verteidigt werden kann, ist im Reich die Bevorzugung und Entrechtung
einzelner Gegenden gänzlich sinnlos.

3. Nun mag immerhin zugunsten deS Reichs das Überwiegen der Kreise
mittlerer Größe betont werden: 57,5 Prozent der Reichswähler haben ein
mittleres, das heißt 6- bis lOfaches Wahlrecht, während in Bremen sich
55,3 Prozent mit der niedersten Stufe dem einfachen Stimmrecht begnügen
müssen.

4. Doch lehrt ein Blick auf die Mandatsverteilung der Bürgerschaft, daß
der Gefahr jedes Klassen Wahlrechts, der Erdrückung der Minderbemittelten durch
die Rücksichtslosigkeit des Kapitalismus wirksam vorgebeugt ist.

Wo aber sind die Bürgschaften unseres Reichstagswahlrechts, dessen Gleichheit
doch Gerechtigkeit bedeuten soll oder wenigstens sollte — die Bürgschaften dafür,
daß nicht eines Tages der letzte Kulturträger im Reichstag von den Vertretern
der großen unschöpferischen Masse verdrängt wird?




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[0414] Gleiches Wahlrecht? Der oben entwickelte Satz: für gleiche Leistungen gleiche Rechte usw. ist hier trefflich beleuchtet. Während in einem reinen Pluralwahlrecht jedes Indi¬ viduum nach bestimmten Merkmalen gewertet wird, liegt dem ständischen Prinzip die Bedeutung eines ganzen Erwerbszweiges zugrunde. Und diese Bedeutung muß das Ergebnis der Menge der Individuen sein, malgenommen mit dem Interesse des Staats an dem einzelnen Glied des betreffenden Berufs. Als eine Probe auf geschickte Machtverteilung in Bremen mag die Tat¬ sache gelten, daß es weder zum Terrorismus des Großkapitals noch zu dem des Proletariats kommen kann, dank der Einschiebung einer kräftigen Mittel¬ standsvertretung. Es ist so verhütet, daß die Vermögenden die Rechte der Minderbemittelten außer acht lassen, wie auch daß die Masse der Weniger¬ gebildeten sich über die soziale Bedeutung der Kulturträger hinwegsetze. Die ausführliche Behandlung des Bremer Wahlrechts ist ja von dem Gesichtspunkt aus erfolgt, daß es dem ideal gleichen Wahlrecht zweifellos näher kommt als die gleiche Wahl communi sensu: Denn ziehen wir abschließend den Vergleich: 1. Das Reichswahlrecht hat im Laufe einer Entwicklung, die schlechterdings nicht alle zehn Jahre durch Neueinteilung berichtigt werden kann, zu einer ganz erheblichen Ungleichheit der Kreise geführt, und damit zu einer Wahlrechts¬ minderung auf der einen, Wahlrechtsmehrung auf der anderen Seite. Die Spannung zwischen den auf diese Weise Meist- und Mindestbegünstigten beträgt 25:1. Sie ist kaum geringer als die bei einem ständischen Klassenwahlrecht, wie dem zur Bremer Bürgerschaft mit 27 :1. 2. Während aber in Bremen die Privilegierung bestimmter Bildungs- und Erwerbsgruppen in staatlichem Interesse beabsichtigt ist und wohl mit Vernunft¬ gründen verteidigt werden kann, ist im Reich die Bevorzugung und Entrechtung einzelner Gegenden gänzlich sinnlos. 3. Nun mag immerhin zugunsten deS Reichs das Überwiegen der Kreise mittlerer Größe betont werden: 57,5 Prozent der Reichswähler haben ein mittleres, das heißt 6- bis lOfaches Wahlrecht, während in Bremen sich 55,3 Prozent mit der niedersten Stufe dem einfachen Stimmrecht begnügen müssen. 4. Doch lehrt ein Blick auf die Mandatsverteilung der Bürgerschaft, daß der Gefahr jedes Klassen Wahlrechts, der Erdrückung der Minderbemittelten durch die Rücksichtslosigkeit des Kapitalismus wirksam vorgebeugt ist. Wo aber sind die Bürgschaften unseres Reichstagswahlrechts, dessen Gleichheit doch Gerechtigkeit bedeuten soll oder wenigstens sollte — die Bürgschaften dafür, daß nicht eines Tages der letzte Kulturträger im Reichstag von den Vertretern der großen unschöpferischen Masse verdrängt wird?

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_322400/414>, abgerufen am 15.01.2025.