Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr.Heeresvermehrung oder Hecresverstärkung? daß wir die Mobilmachung Roons als eine außerordentliche Leistung feiern. Eine diese Fragen sachlich angreifende Literatur steht der Öffentlichkeit aus Es ist merkwürdig, daß es gerade verabschiedete Offiziere sind, die an Heeresvermehrung oder Hecresverstärkung? daß wir die Mobilmachung Roons als eine außerordentliche Leistung feiern. Eine diese Fragen sachlich angreifende Literatur steht der Öffentlichkeit aus Es ist merkwürdig, daß es gerade verabschiedete Offiziere sind, die an <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0405" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/322807"/> <fw type="header" place="top"> Heeresvermehrung oder Hecresverstärkung?</fw><lb/> <p xml:id="ID_1978" prev="#ID_1977"> daß wir die Mobilmachung Roons als eine außerordentliche Leistung feiern.<lb/> Und doch hatte dieser Paladin nur acht Armeekorps aufzustellen und kriegs¬<lb/> bereit zu machen, während der heutige Kriegsminister dreimal soviel und oben¬<lb/> drein noch Waffen marschieren lassen müßte, an die man vor fünfzig Jahren<lb/> überhaupt noch nicht gedacht hatte.</p><lb/> <p xml:id="ID_1979"> Eine diese Fragen sachlich angreifende Literatur steht der Öffentlichkeit aus<lb/> den früher erwähnten Gründen so gut wie garnicht zur Versügung. Neuer¬<lb/> dings fangen Offiziere an, sich um die finanzielle Rüstung des Reichs zu<lb/> kümmern, aber über das ihnen zunächstliegende müssen sie schweigen. Nur<lb/> die Frage der Überalterung des Offizierkorps ist einigermaßen häufig erörtert<lb/> worden, aber — und das ist das Unerfreuliche daran — unter viel zu starker<lb/> Betonung des dabei mitspielenden finanziellen Momentes und ohne zu praktisch<lb/> brauchbaren Vorschlägen zu gelangen. Und doch ist gerade die Überalterung<lb/> des Offizierkorps die Wurzel allen Übels: mangelhafte oder in den verschiedenen<lb/> Teilen der Armee von einander abweichende Ausbildung, Byzantinismus, Springer-<lb/> tum mit dem notwendig daranhängenden Nepotismus und der Untergrabung<lb/> der Kameradschaft, Verletzung der gerichtlichen und ehrengerichtlichen Bestimmungen,<lb/> allmähliche Zweiteilung des Offizierkorps — alles das hängt innig zusammen<lb/> mit der Überalterung der Offiziere. In einem bösen Zirkel zieht eine<lb/> unerfreuliche Erscheinung die andere nach: die Aussichtslosigkeit für<lb/> die Mehrzahl, in jungen Jahren zu halbwegs selbständigen Stellungen<lb/> zu gelangen, hindert viele Tüchtige, überhaupt zur Armee zu gehen;<lb/> die Notwendigkeit, sich gegen eine zahlreiche Konkurrenz zu behaupten, veranlaßt<lb/> die Untergebenen, auch da ihre Überzeugung zu opfern, wo sie durch Vorschrift<lb/> und Gesetz gestützt wird, während die Vorgesetzten absolut gefügige Untergebene<lb/> bevorzugen, um ja nicht „oben" unliebsam aufzufallen. Wo sind die wunder¬<lb/> voll klaren Verhältnisse und Auffassungen, die noch in den 1870er Jahren<lb/> keine Kompromisse aufkommen ließen! ? Aber nicht das Offizierskorps kann dafür<lb/> verantwortlich gemacht werden! Aus dem Offizierkorps muß sich unter solchen<lb/> Umständen, und würden die schärfsten und besten Verordnungen erlassen um der<lb/> Tendenz zu begegnen, nach und nach das Verantwortungsgefühl zurückziehen, die abso¬<lb/> lute Zuverlässigkeit muß verkümmern, denn nicht mehr höchste Leistungsfähigkeit<lb/> bleibt maßgebend, sondern tausend Rücksichten, die sich aus der Verfassung der über¬<lb/> alterten Vorgesetzten unmerklich von selbst ergeben, erzwingen sich Anerkennung. Und<lb/> sollte nicht gerade diese Perspektive alle die auf den Plan rufen, die da wissen,<lb/> welch einen ungeheuren Kulturwert gerade ein gesundes Heer für die Nation<lb/> darstellt, die es besitzt?! Wer darum für die Stärkung der Armee eintritt, muß<lb/> in erster Linie hier den Hebel einsetzen. Gelingt es nämlich, hier gesunde Verhältnisse<lb/> zu schaffen, dann wird man mit Leichtigkeit auch eine andere angebliche Folge¬<lb/> erscheinung des Friedens beseitigen: die sogenannte Abneigung gegen das Heer.</p><lb/> <p xml:id="ID_1980" next="#ID_1981"> Es ist merkwürdig, daß es gerade verabschiedete Offiziere sind, die an<lb/> allen Orten glauben, einen Rückgang der Achtung vor der Armee feststellen zu</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0405]
Heeresvermehrung oder Hecresverstärkung?
daß wir die Mobilmachung Roons als eine außerordentliche Leistung feiern.
Und doch hatte dieser Paladin nur acht Armeekorps aufzustellen und kriegs¬
bereit zu machen, während der heutige Kriegsminister dreimal soviel und oben¬
drein noch Waffen marschieren lassen müßte, an die man vor fünfzig Jahren
überhaupt noch nicht gedacht hatte.
Eine diese Fragen sachlich angreifende Literatur steht der Öffentlichkeit aus
den früher erwähnten Gründen so gut wie garnicht zur Versügung. Neuer¬
dings fangen Offiziere an, sich um die finanzielle Rüstung des Reichs zu
kümmern, aber über das ihnen zunächstliegende müssen sie schweigen. Nur
die Frage der Überalterung des Offizierkorps ist einigermaßen häufig erörtert
worden, aber — und das ist das Unerfreuliche daran — unter viel zu starker
Betonung des dabei mitspielenden finanziellen Momentes und ohne zu praktisch
brauchbaren Vorschlägen zu gelangen. Und doch ist gerade die Überalterung
des Offizierkorps die Wurzel allen Übels: mangelhafte oder in den verschiedenen
Teilen der Armee von einander abweichende Ausbildung, Byzantinismus, Springer-
tum mit dem notwendig daranhängenden Nepotismus und der Untergrabung
der Kameradschaft, Verletzung der gerichtlichen und ehrengerichtlichen Bestimmungen,
allmähliche Zweiteilung des Offizierkorps — alles das hängt innig zusammen
mit der Überalterung der Offiziere. In einem bösen Zirkel zieht eine
unerfreuliche Erscheinung die andere nach: die Aussichtslosigkeit für
die Mehrzahl, in jungen Jahren zu halbwegs selbständigen Stellungen
zu gelangen, hindert viele Tüchtige, überhaupt zur Armee zu gehen;
die Notwendigkeit, sich gegen eine zahlreiche Konkurrenz zu behaupten, veranlaßt
die Untergebenen, auch da ihre Überzeugung zu opfern, wo sie durch Vorschrift
und Gesetz gestützt wird, während die Vorgesetzten absolut gefügige Untergebene
bevorzugen, um ja nicht „oben" unliebsam aufzufallen. Wo sind die wunder¬
voll klaren Verhältnisse und Auffassungen, die noch in den 1870er Jahren
keine Kompromisse aufkommen ließen! ? Aber nicht das Offizierskorps kann dafür
verantwortlich gemacht werden! Aus dem Offizierkorps muß sich unter solchen
Umständen, und würden die schärfsten und besten Verordnungen erlassen um der
Tendenz zu begegnen, nach und nach das Verantwortungsgefühl zurückziehen, die abso¬
lute Zuverlässigkeit muß verkümmern, denn nicht mehr höchste Leistungsfähigkeit
bleibt maßgebend, sondern tausend Rücksichten, die sich aus der Verfassung der über¬
alterten Vorgesetzten unmerklich von selbst ergeben, erzwingen sich Anerkennung. Und
sollte nicht gerade diese Perspektive alle die auf den Plan rufen, die da wissen,
welch einen ungeheuren Kulturwert gerade ein gesundes Heer für die Nation
darstellt, die es besitzt?! Wer darum für die Stärkung der Armee eintritt, muß
in erster Linie hier den Hebel einsetzen. Gelingt es nämlich, hier gesunde Verhältnisse
zu schaffen, dann wird man mit Leichtigkeit auch eine andere angebliche Folge¬
erscheinung des Friedens beseitigen: die sogenannte Abneigung gegen das Heer.
Es ist merkwürdig, daß es gerade verabschiedete Offiziere sind, die an
allen Orten glauben, einen Rückgang der Achtung vor der Armee feststellen zu
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