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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr.

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Hceresvermehrung oder Heeresverstärkung?

Ministerium vom Reichstag gebilligte Heeresergänzungen nicht nur nicht so weit
vorbereitet hat, daß die neuen Formationen innerhalb vierundzwanzig Stunden
aufgestellt werden können, wir erleben es, daß z. B. die Maschinengewehr¬
abteilungen erst länger als ein Jahr nach der Bewilligung durch den Reichstag
aktiv werden können I

Unter diesen Umständen verdient eine Broschüre "Die Andern und wir"
von Hermann Hochwart, (Dieterichsche Verlagsbuchhandlung, Leipzig 1912)
Beachtung, die zu dem für manchen Leser wohl überraschenden Ergebnis kommt,
daß im Falle eines europäischen Krieges Frankreichs Überlegenheit über Deutsch¬
land vierzehn Infanterie- und vier Kavalleriedivisionen ausmache, während
Rußland den verbündeten Deutschen und Österreich-Ungarn um sechs Jnfanterie-
und elf Kavalleriedivisionen überlegen sei. Eine große Zahl von Einzelberech¬
nungen für die verschiedenen Waffen belegt die Behauptung im einzelnen,
soweit das Verhältnis Deutschland-Frankreich in Frage kommt. In einem
Kapitel "Was soll geschehen?" zieht der Verfasser die Konsequenzen seiner Fest¬
stellung. Er fordert eine Heeresverstärkung zugunsten der Infanterie um rund
achtzigtausend Mann, indem er sich auf alle die militärischen Autoritäten beruft, die
den Sieg immer nur dort mit Gewißheit erwarten, wo die Überlegenheit der
Zahl steht. Auch ich teile durchaus den Standpunkt, daß schon zu Friedens¬
zeiten die Sicherheit des kriegerischen Erfolges gewährleistet werden muß.
Ebenso gebe ich ohne weiteres zu, daß in der numerischen Überlegenheit eine
gewisse Garantie liegt. Aber doch nur eine gewisse. Denn der Geist der
Truppe und ihre Ausbildung sind die unerläßliche Voraussetzung für ihre praktische
Tüchtigkeit, und gute Ausbildung und kriegerischer Sinn werden, wie Friedrichs
des Großen "Wachtparade" bewiesen hat, den Mangel an Zahlen eher ausgleichen
können, als große Zahlen kriegerischen Sinn und Ausbildung ersetzen dürsten. --
Diese Zusammenhänge und Wechselwirkungen berücksichtigt Hermann Hochwart
nicht genügend. Vielleicht legt er sich aus den oben angegebenen Gründen
Zurückhaltung auf, vielleicht schätzt er die Wechselwirkung nicht hoch genug ein.
Und doch wäre in dem Abschnitt Offiziere und Unteroffiziere die Stelle gewesen,
wo das Problem "Einwirkung des Friedens auf die Armee" wenigstens hätte
berührt werden müssen. Denn die Offiziere und Unteroffiziere bilden für die
Heeresleitung den allejn zuverlässigen Maßstab dafür, was sie an kriegerischen
Leistungen von der Nation erwarten darf, nicht etwa die Hetzreden sozial¬
demokratischer Agitatoren oder die Tiraden der pazifistischen Presse. Und gerade
in dieser Beziehung sind in den letzten Jahren sporadisch Erscheinungen an die
Oberfläche gekommen, die jedem ernsten Patrioten doch Veranlassung geben
sollten, zu prüfen, ob unter den bestehenden Friedensverhältnissen jede Heeres¬
vermehrung auch ohne weiteres eine Heeresverstärkung wäre, und ob nicht
Fragen der inneren Heeresorganisation heute größere Berücksichtigung erheischen,
als man allgemein glaubt. Es soll und kann auch in diesen Worten keine
Herabsetzung der Heeresleitung .liegen; erinnern wir uns allein der Tatsache,


Hceresvermehrung oder Heeresverstärkung?

Ministerium vom Reichstag gebilligte Heeresergänzungen nicht nur nicht so weit
vorbereitet hat, daß die neuen Formationen innerhalb vierundzwanzig Stunden
aufgestellt werden können, wir erleben es, daß z. B. die Maschinengewehr¬
abteilungen erst länger als ein Jahr nach der Bewilligung durch den Reichstag
aktiv werden können I

Unter diesen Umständen verdient eine Broschüre „Die Andern und wir"
von Hermann Hochwart, (Dieterichsche Verlagsbuchhandlung, Leipzig 1912)
Beachtung, die zu dem für manchen Leser wohl überraschenden Ergebnis kommt,
daß im Falle eines europäischen Krieges Frankreichs Überlegenheit über Deutsch¬
land vierzehn Infanterie- und vier Kavalleriedivisionen ausmache, während
Rußland den verbündeten Deutschen und Österreich-Ungarn um sechs Jnfanterie-
und elf Kavalleriedivisionen überlegen sei. Eine große Zahl von Einzelberech¬
nungen für die verschiedenen Waffen belegt die Behauptung im einzelnen,
soweit das Verhältnis Deutschland-Frankreich in Frage kommt. In einem
Kapitel „Was soll geschehen?" zieht der Verfasser die Konsequenzen seiner Fest¬
stellung. Er fordert eine Heeresverstärkung zugunsten der Infanterie um rund
achtzigtausend Mann, indem er sich auf alle die militärischen Autoritäten beruft, die
den Sieg immer nur dort mit Gewißheit erwarten, wo die Überlegenheit der
Zahl steht. Auch ich teile durchaus den Standpunkt, daß schon zu Friedens¬
zeiten die Sicherheit des kriegerischen Erfolges gewährleistet werden muß.
Ebenso gebe ich ohne weiteres zu, daß in der numerischen Überlegenheit eine
gewisse Garantie liegt. Aber doch nur eine gewisse. Denn der Geist der
Truppe und ihre Ausbildung sind die unerläßliche Voraussetzung für ihre praktische
Tüchtigkeit, und gute Ausbildung und kriegerischer Sinn werden, wie Friedrichs
des Großen „Wachtparade" bewiesen hat, den Mangel an Zahlen eher ausgleichen
können, als große Zahlen kriegerischen Sinn und Ausbildung ersetzen dürsten. —
Diese Zusammenhänge und Wechselwirkungen berücksichtigt Hermann Hochwart
nicht genügend. Vielleicht legt er sich aus den oben angegebenen Gründen
Zurückhaltung auf, vielleicht schätzt er die Wechselwirkung nicht hoch genug ein.
Und doch wäre in dem Abschnitt Offiziere und Unteroffiziere die Stelle gewesen,
wo das Problem „Einwirkung des Friedens auf die Armee" wenigstens hätte
berührt werden müssen. Denn die Offiziere und Unteroffiziere bilden für die
Heeresleitung den allejn zuverlässigen Maßstab dafür, was sie an kriegerischen
Leistungen von der Nation erwarten darf, nicht etwa die Hetzreden sozial¬
demokratischer Agitatoren oder die Tiraden der pazifistischen Presse. Und gerade
in dieser Beziehung sind in den letzten Jahren sporadisch Erscheinungen an die
Oberfläche gekommen, die jedem ernsten Patrioten doch Veranlassung geben
sollten, zu prüfen, ob unter den bestehenden Friedensverhältnissen jede Heeres¬
vermehrung auch ohne weiteres eine Heeresverstärkung wäre, und ob nicht
Fragen der inneren Heeresorganisation heute größere Berücksichtigung erheischen,
als man allgemein glaubt. Es soll und kann auch in diesen Worten keine
Herabsetzung der Heeresleitung .liegen; erinnern wir uns allein der Tatsache,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_322400/404>, abgerufen am 15.01.2025.