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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr.

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Hcercsvermehrung oder Heercsverstärkung?

Die Ansichten hierüber gehen gerade bei den berufenen Spezialisten weit
auseinander. Rein militärische, politische, wirtschaftliche, historische und persön¬
liche Momente beeinflussen die verschiedenen Ansichten ebenso wie auch lediglich
tief eingefressene Vorurteile. Daneben vermissen wir sowohl an den verant¬
wortlichen Stellen wie in der unverantwortlichen Publizistik eine gewisse Un¬
befangenheit des Urteils, ohne die es in Fragen des Gemeinwohls -- und
Heeresfragen sind Fragen des Gemeinwohls -- nun einmal nicht geht. Jeder
fürchtet die Tradition anzutasten und doch versteht jeder unter der
Tradition etwas anderes. Jeder, der etwas über militärische Dinge zu sagen
weiß, hält mit seiner Auffassung gern zurück, wenn sie nicht peinlich genau
parallel mit der von der Armeeleitung befohlenen läuft, um nicht in den Verdacht
zu geraten, daß er an die Rechte der obersten Kommandogewalt rühre und damit
zugleich der antimonarchischen Presse Stoff zur Agitation gebe. So kommt es,
daß es eine allgemeine sachliche Erörterung von prinzipiellen Armeefragen
eigentlich nicht gibt und daß die öffentlichen Kundgebungen dauernd zusammen¬
laufen in einer einzigen Forderung: Vermehrung! Für Vermehrung des Heeres
kann und darf jeder öffentlich eintreten, gleichgültig, ob es sich um neue
Bataillone, neue Batterien, Bespannungen, Flieger oder Telegraphendrähte
handelt. Die Sache ändert sich schon, wenn es sich um Spezialfragen handelt:
schwere oder leichte Geschütze? Einzelfeuer oder Salven? Zeppelin oder Parseval?
Dann wird der berufene Kritiker, der mit den Ansichten des Kriegsministers
nicht übereinstimmt, bald an die Schranken gelangen, die die oberste Kommando¬
gewalt ihm gezogen hat. Fast unmöglich aber ist es dem Offizier gemacht, sich
über die inneren Einrichtungen und Verhältnisse der Armee auszusprechen.
Welches Thema er auch in Angriff nehmen wollte: Beförderung, Verpflegung,
Train, Ausbildung, Alter der Offiziere oder Ehrengerichte, -- immer wird ihm
wie Papageno in der "Zauberflöte" ein energisches "Zurück!" entgegenschallen
und: "Sie tasten an die Kommandogewalt!" oder "Sie gefährden die Sicherheit
des Staates!" hinterdreingrollen/)




Gegenwärtig geht wieder der Ruf nach einer Vermehrung des Heeres durch
die Lande. Er schallt um so lauter, als die verantwortlichen Stellen nicht
geneigt scheinen, die Unterlassungen wieder gut zu machen, die bei der Auf¬
stellung des letzten Armeevermehrungsplanes begangen wurden. Wir stehen wohl
zum erstenmal seit der Reichsgründung vor der Tatsache, daß das Kriegs-



*) Ich möchte die Gelegenheit nicht versäumen, auf eine Schrift staatsrechtlichen
Charakters hinzuweisen, auf die dickleibige (XXVIII-j-60S Seneri), streng wissenschaftliche
Untersuchung von Dr. zur. F. Freiherrn Marschall von Bieberstein-Heidelberg "Verantwort¬
lichkeit und Gegenzeichnung bei Anordnungen des Obersten Kriegsherrn" (Verlag von Franz
Vahlen, Berlin), die auch dem Militärschriftsteller zeigt, bis zu welchem Grade er militärische
Fragen öffentlich behandeln kann, ohne sich quasi in Angelegenheiten der Kommandogewalt
zu mischen.
Hcercsvermehrung oder Heercsverstärkung?

Die Ansichten hierüber gehen gerade bei den berufenen Spezialisten weit
auseinander. Rein militärische, politische, wirtschaftliche, historische und persön¬
liche Momente beeinflussen die verschiedenen Ansichten ebenso wie auch lediglich
tief eingefressene Vorurteile. Daneben vermissen wir sowohl an den verant¬
wortlichen Stellen wie in der unverantwortlichen Publizistik eine gewisse Un¬
befangenheit des Urteils, ohne die es in Fragen des Gemeinwohls — und
Heeresfragen sind Fragen des Gemeinwohls — nun einmal nicht geht. Jeder
fürchtet die Tradition anzutasten und doch versteht jeder unter der
Tradition etwas anderes. Jeder, der etwas über militärische Dinge zu sagen
weiß, hält mit seiner Auffassung gern zurück, wenn sie nicht peinlich genau
parallel mit der von der Armeeleitung befohlenen läuft, um nicht in den Verdacht
zu geraten, daß er an die Rechte der obersten Kommandogewalt rühre und damit
zugleich der antimonarchischen Presse Stoff zur Agitation gebe. So kommt es,
daß es eine allgemeine sachliche Erörterung von prinzipiellen Armeefragen
eigentlich nicht gibt und daß die öffentlichen Kundgebungen dauernd zusammen¬
laufen in einer einzigen Forderung: Vermehrung! Für Vermehrung des Heeres
kann und darf jeder öffentlich eintreten, gleichgültig, ob es sich um neue
Bataillone, neue Batterien, Bespannungen, Flieger oder Telegraphendrähte
handelt. Die Sache ändert sich schon, wenn es sich um Spezialfragen handelt:
schwere oder leichte Geschütze? Einzelfeuer oder Salven? Zeppelin oder Parseval?
Dann wird der berufene Kritiker, der mit den Ansichten des Kriegsministers
nicht übereinstimmt, bald an die Schranken gelangen, die die oberste Kommando¬
gewalt ihm gezogen hat. Fast unmöglich aber ist es dem Offizier gemacht, sich
über die inneren Einrichtungen und Verhältnisse der Armee auszusprechen.
Welches Thema er auch in Angriff nehmen wollte: Beförderung, Verpflegung,
Train, Ausbildung, Alter der Offiziere oder Ehrengerichte, — immer wird ihm
wie Papageno in der „Zauberflöte" ein energisches „Zurück!" entgegenschallen
und: „Sie tasten an die Kommandogewalt!" oder „Sie gefährden die Sicherheit
des Staates!" hinterdreingrollen/)




Gegenwärtig geht wieder der Ruf nach einer Vermehrung des Heeres durch
die Lande. Er schallt um so lauter, als die verantwortlichen Stellen nicht
geneigt scheinen, die Unterlassungen wieder gut zu machen, die bei der Auf¬
stellung des letzten Armeevermehrungsplanes begangen wurden. Wir stehen wohl
zum erstenmal seit der Reichsgründung vor der Tatsache, daß das Kriegs-



*) Ich möchte die Gelegenheit nicht versäumen, auf eine Schrift staatsrechtlichen
Charakters hinzuweisen, auf die dickleibige (XXVIII-j-60S Seneri), streng wissenschaftliche
Untersuchung von Dr. zur. F. Freiherrn Marschall von Bieberstein-Heidelberg „Verantwort¬
lichkeit und Gegenzeichnung bei Anordnungen des Obersten Kriegsherrn" (Verlag von Franz
Vahlen, Berlin), die auch dem Militärschriftsteller zeigt, bis zu welchem Grade er militärische
Fragen öffentlich behandeln kann, ohne sich quasi in Angelegenheiten der Kommandogewalt
zu mischen.
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[0403] Hcercsvermehrung oder Heercsverstärkung? Die Ansichten hierüber gehen gerade bei den berufenen Spezialisten weit auseinander. Rein militärische, politische, wirtschaftliche, historische und persön¬ liche Momente beeinflussen die verschiedenen Ansichten ebenso wie auch lediglich tief eingefressene Vorurteile. Daneben vermissen wir sowohl an den verant¬ wortlichen Stellen wie in der unverantwortlichen Publizistik eine gewisse Un¬ befangenheit des Urteils, ohne die es in Fragen des Gemeinwohls — und Heeresfragen sind Fragen des Gemeinwohls — nun einmal nicht geht. Jeder fürchtet die Tradition anzutasten und doch versteht jeder unter der Tradition etwas anderes. Jeder, der etwas über militärische Dinge zu sagen weiß, hält mit seiner Auffassung gern zurück, wenn sie nicht peinlich genau parallel mit der von der Armeeleitung befohlenen läuft, um nicht in den Verdacht zu geraten, daß er an die Rechte der obersten Kommandogewalt rühre und damit zugleich der antimonarchischen Presse Stoff zur Agitation gebe. So kommt es, daß es eine allgemeine sachliche Erörterung von prinzipiellen Armeefragen eigentlich nicht gibt und daß die öffentlichen Kundgebungen dauernd zusammen¬ laufen in einer einzigen Forderung: Vermehrung! Für Vermehrung des Heeres kann und darf jeder öffentlich eintreten, gleichgültig, ob es sich um neue Bataillone, neue Batterien, Bespannungen, Flieger oder Telegraphendrähte handelt. Die Sache ändert sich schon, wenn es sich um Spezialfragen handelt: schwere oder leichte Geschütze? Einzelfeuer oder Salven? Zeppelin oder Parseval? Dann wird der berufene Kritiker, der mit den Ansichten des Kriegsministers nicht übereinstimmt, bald an die Schranken gelangen, die die oberste Kommando¬ gewalt ihm gezogen hat. Fast unmöglich aber ist es dem Offizier gemacht, sich über die inneren Einrichtungen und Verhältnisse der Armee auszusprechen. Welches Thema er auch in Angriff nehmen wollte: Beförderung, Verpflegung, Train, Ausbildung, Alter der Offiziere oder Ehrengerichte, — immer wird ihm wie Papageno in der „Zauberflöte" ein energisches „Zurück!" entgegenschallen und: „Sie tasten an die Kommandogewalt!" oder „Sie gefährden die Sicherheit des Staates!" hinterdreingrollen/) Gegenwärtig geht wieder der Ruf nach einer Vermehrung des Heeres durch die Lande. Er schallt um so lauter, als die verantwortlichen Stellen nicht geneigt scheinen, die Unterlassungen wieder gut zu machen, die bei der Auf¬ stellung des letzten Armeevermehrungsplanes begangen wurden. Wir stehen wohl zum erstenmal seit der Reichsgründung vor der Tatsache, daß das Kriegs- *) Ich möchte die Gelegenheit nicht versäumen, auf eine Schrift staatsrechtlichen Charakters hinzuweisen, auf die dickleibige (XXVIII-j-60S Seneri), streng wissenschaftliche Untersuchung von Dr. zur. F. Freiherrn Marschall von Bieberstein-Heidelberg „Verantwort¬ lichkeit und Gegenzeichnung bei Anordnungen des Obersten Kriegsherrn" (Verlag von Franz Vahlen, Berlin), die auch dem Militärschriftsteller zeigt, bis zu welchem Grade er militärische Fragen öffentlich behandeln kann, ohne sich quasi in Angelegenheiten der Kommandogewalt zu mischen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_322400/403>, abgerufen am 15.01.2025.