Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr.Maßgebliches und Unmaßgebliches [Beginn Spaltensatz] polnischen Bauer"" von dem Dichter Wla- Reymond führt in das Dorf Lipce im man noch erfassen und erkennen konnte, von Dann erwacht der Frühling, spät, hier in Mit sehr geschickter Steigerung steht am ... MazurkaS langgedehnt, wie Feldraine, Maßgebliches und Unmaßgebliches [Beginn Spaltensatz] polnischen Bauer»" von dem Dichter Wla- Reymond führt in das Dorf Lipce im man noch erfassen und erkennen konnte, von Dann erwacht der Frühling, spät, hier in Mit sehr geschickter Steigerung steht am ... MazurkaS langgedehnt, wie Feldraine, <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0391" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/322793"/> <fw type="header" place="top"> Maßgebliches und Unmaßgebliches</fw><lb/> <cb type="start"/> <p xml:id="ID_1930" prev="#ID_1929"> polnischen Bauer»" von dem Dichter Wla-<lb/> dislaw Stanislaw Reymond aber ist diese<lb/> Einführung ein nicht bestreitbares Verdienst.<lb/> Gewiß ist es viel verlangt, diese vier starken<lb/> Bände dem alljährlich mit einem Übermaß<lb/> von Büchern beschenkten deutschen Leserkreise<lb/> zuzumuten, aber der Übersetzer Jean Paul<lb/> d'Ardeschah und der Verleger Eugen Die-<lb/> derichs verdienen dafür wärmsten Dank. Denn<lb/> dieser vierteilige Roman „Die polnischen<lb/> Bauern" ist ein Lebensbild von zwingender<lb/> Gegenständlichkeit, handgreiflicher Echtheit und<lb/> dichterischer Gewalt. Er ist das Werk eines<lb/> lyrisch empfindenden Menschen, der doch zu¬<lb/> gleich die dem unbefangenen Erzähler eigene<lb/> epische Kraft jugendlicher Völker besitzt, die<lb/> ihnen später häufig abwelkt. Und das Werk<lb/> eröffnet uns Blicke ins polnische Volkstum,<lb/> die wir sonst kaum irgendwo haben, und ent¬<lb/> schleiert uns insbesondere mit der Selbstver¬<lb/> ständlichkeit des mitlebenden Volksgenossen<lb/> Empfindungen, die der deutsche Dichter nie¬<lb/> mals ganz verstehen und gestalten können<lb/> wird.</p> <p xml:id="ID_1931" next="#ID_1932"> Reymond führt in das Dorf Lipce im<lb/> russischen Polen und da insbesondere in das<lb/> Haus des Hofbauern Matthäus Boryna; er<lb/> geleitet uns in jedem der vier Bände durch<lb/> eine Jahreszeit, deren Äußerungen in der<lb/> Natur und in der menschlichen Arbeit breit<lb/> und mit Behagen am Kleinen, aber doch mit<lb/> jener zusammenhaltenden Kraft vorgeführt<lb/> werden, die den echten Erzähler auszeichnet,<lb/> ja, eigentlich erst macht. Da erleben wir die<lb/> unendliche Regenzeit des Spätherbstes, in der<lb/> das ganze Dorf zu ertrinken scheint, bis dann<lb/> der Winter mit klingendem und klirrenden<lb/> Frost einzieht, Frost, der nicht nur Bäume<lb/> und Bäche und den Dorfweiher erstarren<lb/> macht, sondern auch die Häuser durchkältet,<lb/> zumal die Häuser der Armen, wo „die Kälte<lb/> mit eisernen Klauen alles zusammenpreßt".<lb/> „Kein Schrei," so heißt es da von der Ode<lb/> des Winters, „zerriß das starre Schweigen<lb/> der Felder, keine lebendige Stimme zuckte<lb/> auf. Richt einmal ein Windstoß ließ den<lb/> trockenen, glitzernden Schnee aufrascheln, nur<lb/> selten kam von den ini Schneewehen ver¬<lb/> sunkenen Wegen ein klagendes Schellengeläut<lb/> oder das Knarren der Schlittenkufen herein-<lb/> geirrt, aber so schwach und fern, daß, ehe</p> <cb/><lb/> <p xml:id="ID_1932" prev="#ID_1931"> man noch erfassen und erkennen konnte, von<lb/> woher und wo, alles schon wieder verklungen<lb/> war, als hätte eS die Stille verschlungen."</p> <p xml:id="ID_1933"> Dann erwacht der Frühling, spät, hier in<lb/> der großen Ebene des Ostens, und mit ihm<lb/> erwacht das schlafende Dorf, in dem man im<lb/> Winter so wenig hat schaffen und manchmal,<lb/> wenn alles verweht war, nicht einmal in den<lb/> Spinnstuben hat zusammenkommen können.<lb/> Nun ziehen fahrende Bettler wieder ein, nun<lb/> kommt der wandernde, geheimnisvolle Volks¬<lb/> freund wieder, der alte Rochus, der die Kinder<lb/> im Polnischen unterweise und überall mit Rat<lb/> und gutem Wort und heiliger Erzählung zur<lb/> Hand ist. Bis dann der Sommer mit glü¬<lb/> hender, sengender, alles zum Reifen dringender<lb/> Hitze einherzieht und die goldenen Saaten<lb/> von Himmelsrand zu Himmelsrand das Ge¬<lb/> lände überwogen.</p> <p xml:id="ID_1934"> Mit sehr geschickter Steigerung steht am<lb/> Schluß jedes der vier Bücher eine Art Höhe¬<lb/> punkt: am Ende des ersten wird die Hochzeit<lb/> zwischen dem Hofbauern Boryna und der<lb/> schönen Jagua gefeiert, diese Hochzeit, derent¬<lb/> wegen Unfriede zwischen Vater und Sohn in<lb/> den Hof kommt, denn der Vater benachteiligt<lb/> nun die Kinder erster Ehe, und der Sohn<lb/> selbst liebt die Stiefmutter. Da tanzen sie<lb/> in der Schenke: „Die zappelnden, schäkernden<lb/> Krakowiaks mit der abgerissenen, klirrenden<lb/> Melodie, die wie mit Ziernäglein beschlagene<lb/> Gürtel mit tanzfrohen Liedlein aufgeputzt war;<lb/> die Krakowiaks voll Lachen und Mutwillen,<lb/> voll fröhlichen Sanges und üppiger, starker,<lb/> kecker Jugend und zugleich voll lustiger Possen,<lb/> voll Haschen und Greifen, und voll Glut des<lb/> jungen, liebeshungrigen Blutes. Heil</p> <p xml:id="ID_1935" next="#ID_1936"> ... MazurkaS langgedehnt, wie Feldraine,<lb/> breitgestreckt wie die Mathiasbirnbäume, rau¬<lb/> schend, und wie die unabsehbaren Ebenen so<lb/> breit, voll Schwergewicht und schlank auf¬<lb/> strebend, sehnsüchtig und verwegen, gleitend<lb/> und dräuend gepackt, würdevoll und drauf¬<lb/> gängerisch und steifnackig dazu, wie jene<lb/> Mannsleute, die zu einem Haufen zusammen¬<lb/> geschart, wie ein Wald aufragend, sich in den<lb/> Tanz werfen mit Juchzern und solcher Macht,<lb/> als ob es zu hundert gegen Tausende an¬<lb/> gehen sollte, und wenn man dabei die ganze<lb/> Welt zerreißen, verprügeln, zerstampfen, zu<lb/> Splittern zerschlagen, auf den Absätzen aus-</p> <cb type="end"/><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0391]
Maßgebliches und Unmaßgebliches
polnischen Bauer»" von dem Dichter Wla-
dislaw Stanislaw Reymond aber ist diese
Einführung ein nicht bestreitbares Verdienst.
Gewiß ist es viel verlangt, diese vier starken
Bände dem alljährlich mit einem Übermaß
von Büchern beschenkten deutschen Leserkreise
zuzumuten, aber der Übersetzer Jean Paul
d'Ardeschah und der Verleger Eugen Die-
derichs verdienen dafür wärmsten Dank. Denn
dieser vierteilige Roman „Die polnischen
Bauern" ist ein Lebensbild von zwingender
Gegenständlichkeit, handgreiflicher Echtheit und
dichterischer Gewalt. Er ist das Werk eines
lyrisch empfindenden Menschen, der doch zu¬
gleich die dem unbefangenen Erzähler eigene
epische Kraft jugendlicher Völker besitzt, die
ihnen später häufig abwelkt. Und das Werk
eröffnet uns Blicke ins polnische Volkstum,
die wir sonst kaum irgendwo haben, und ent¬
schleiert uns insbesondere mit der Selbstver¬
ständlichkeit des mitlebenden Volksgenossen
Empfindungen, die der deutsche Dichter nie¬
mals ganz verstehen und gestalten können
wird.
Reymond führt in das Dorf Lipce im
russischen Polen und da insbesondere in das
Haus des Hofbauern Matthäus Boryna; er
geleitet uns in jedem der vier Bände durch
eine Jahreszeit, deren Äußerungen in der
Natur und in der menschlichen Arbeit breit
und mit Behagen am Kleinen, aber doch mit
jener zusammenhaltenden Kraft vorgeführt
werden, die den echten Erzähler auszeichnet,
ja, eigentlich erst macht. Da erleben wir die
unendliche Regenzeit des Spätherbstes, in der
das ganze Dorf zu ertrinken scheint, bis dann
der Winter mit klingendem und klirrenden
Frost einzieht, Frost, der nicht nur Bäume
und Bäche und den Dorfweiher erstarren
macht, sondern auch die Häuser durchkältet,
zumal die Häuser der Armen, wo „die Kälte
mit eisernen Klauen alles zusammenpreßt".
„Kein Schrei," so heißt es da von der Ode
des Winters, „zerriß das starre Schweigen
der Felder, keine lebendige Stimme zuckte
auf. Richt einmal ein Windstoß ließ den
trockenen, glitzernden Schnee aufrascheln, nur
selten kam von den ini Schneewehen ver¬
sunkenen Wegen ein klagendes Schellengeläut
oder das Knarren der Schlittenkufen herein-
geirrt, aber so schwach und fern, daß, ehe
man noch erfassen und erkennen konnte, von
woher und wo, alles schon wieder verklungen
war, als hätte eS die Stille verschlungen."
Dann erwacht der Frühling, spät, hier in
der großen Ebene des Ostens, und mit ihm
erwacht das schlafende Dorf, in dem man im
Winter so wenig hat schaffen und manchmal,
wenn alles verweht war, nicht einmal in den
Spinnstuben hat zusammenkommen können.
Nun ziehen fahrende Bettler wieder ein, nun
kommt der wandernde, geheimnisvolle Volks¬
freund wieder, der alte Rochus, der die Kinder
im Polnischen unterweise und überall mit Rat
und gutem Wort und heiliger Erzählung zur
Hand ist. Bis dann der Sommer mit glü¬
hender, sengender, alles zum Reifen dringender
Hitze einherzieht und die goldenen Saaten
von Himmelsrand zu Himmelsrand das Ge¬
lände überwogen.
Mit sehr geschickter Steigerung steht am
Schluß jedes der vier Bücher eine Art Höhe¬
punkt: am Ende des ersten wird die Hochzeit
zwischen dem Hofbauern Boryna und der
schönen Jagua gefeiert, diese Hochzeit, derent¬
wegen Unfriede zwischen Vater und Sohn in
den Hof kommt, denn der Vater benachteiligt
nun die Kinder erster Ehe, und der Sohn
selbst liebt die Stiefmutter. Da tanzen sie
in der Schenke: „Die zappelnden, schäkernden
Krakowiaks mit der abgerissenen, klirrenden
Melodie, die wie mit Ziernäglein beschlagene
Gürtel mit tanzfrohen Liedlein aufgeputzt war;
die Krakowiaks voll Lachen und Mutwillen,
voll fröhlichen Sanges und üppiger, starker,
kecker Jugend und zugleich voll lustiger Possen,
voll Haschen und Greifen, und voll Glut des
jungen, liebeshungrigen Blutes. Heil
... MazurkaS langgedehnt, wie Feldraine,
breitgestreckt wie die Mathiasbirnbäume, rau¬
schend, und wie die unabsehbaren Ebenen so
breit, voll Schwergewicht und schlank auf¬
strebend, sehnsüchtig und verwegen, gleitend
und dräuend gepackt, würdevoll und drauf¬
gängerisch und steifnackig dazu, wie jene
Mannsleute, die zu einem Haufen zusammen¬
geschart, wie ein Wald aufragend, sich in den
Tanz werfen mit Juchzern und solcher Macht,
als ob es zu hundert gegen Tausende an¬
gehen sollte, und wenn man dabei die ganze
Welt zerreißen, verprügeln, zerstampfen, zu
Splittern zerschlagen, auf den Absätzen aus-
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