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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr.

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Agrcire Reformen in Rußland

rechtzeitig abgegangen, so ist die Aussaat in Frage gestellt; bleibt der Schnee
zu lange liegen, so ist der Acker so weich, daß er nicht zu bearbeiten ist;
ging der Schnee zu früh fort, so verwandelt die Erdrinde sich in Fels.
Einen allmählichen Übergang vom Winter zum Sommer gibt es nicht. Aus
dieser Beobachtung erklärt sich meine Bemerkung, daß die Bodenbearbeitung
"einen ganz minimalen Einfluß auf die Güte der Ernte" habe. Das gleiche
gilt von der Ernte und von der Herbstbestellung. In einigen wenigen Tagen
muß seitens der Landwirte ein Pensum bewältigt werden, zu dessen Erledigung
in Deutschland ebenso viele Wochen zur Verfügung stehen. Aus diesen klimatischen
und geologischen Eigentümlichkeiten ergibt sich die Wirtschaftsweise und aus allem
zusammen die soziale Gliederung der Landbewohner sowie deren Besitzverhältnisse.
Auf die Schwierigkeiten der Düngung infolge mangelnder Viehzucht und der
Unmöglichkeit den Acker im Frühjahr und Herbst zu befahren gehe ich hier
garnicht ein. Der Kampf gegen solche gewaltige natürliche Hindernisse, wie
sie sich in Rußland der Ackerbewirtschaftung entgegenstellen, setzt entweder das
Vorhandensein großer, stark disziplinierter Menschenmassen voraus oder riesiger
finanzieller und technischer Hilfsmittel oder beides. Wie steht es nun damit nach
der Reform Stolvpins?

Als Nußland vor einem halben Jahrhundert von der patriarchalischen
zur kapitalistischen Wirtschaftsordnung überging, da wurden die Eigenheiten des
Landes seitens der Slavjanophilen sehr sein berücksichtigt, indem diese das durch
die natürlichen Vorbedingungen begründete Bedürfnis nach genossenschaftlichem
Zusammenschluß auch auf die Besitzverhältnisse am Boden ausdehnten und die
freiwerdenden Bauern durch den Mir an den Boden fesselten. Daß das Ver
halten der Slavjanophilen mehr aus nationalen: Gefühl als durch kluge Er¬
kenntnis der wirtschaftlichen Bedürfnisse zu erklären ist, möge unberücksichtigt
bleiben. Im Mir waren jedenfalls eine Fülle starker Ansätze zu einer eigen¬
artigen russischen Kultur vorhanden; neben dem Ackerbau konnte sich auf dem
Lande eine Industrie entwickeln, die als Hausindustrie in ihrer Eigenart vielleicht
nur von Japanern und Chinesen übertroffen wird; eine Volkskunst blühte auf.
um die wir uns in Deutschland vergeblich mühen. Diese Faktoren wurden aber
in der Folge mit dem Eindringen westeuropäischer liberaler Ideen mehr
und mehr unterschützt, da man in Rußland wenigstens bezüglich der Wirt¬
schaft absolut modern, "europäisch", sogar "amerikanisch" sein will. Die
an sich schwache Regierung sah in der Mir-Verfassung vorwiegend ein be¬
quemes Mittel, die frei gewordenen Bauern "in Ruhe" zu erhalten und sie vor dem
"schädlichen" Einfluß der vom "faulen Westen" infizierten Intelligenz zu bewahren.
Der Bauernstand wurde isoliert; hinaus konnte jeder, aber nicht hinein. So
war es denn auch nicht der Mir, der die Entwicklung des Individuums hintan
hielt, sondern die Polizei und die Kirche, die das Mir-Statut zum "politischen"
Zwangsmittel machte. Aus gleichem Grunde unterblieb Volsbildung, Land¬
straßenbau usw. So floß den Betrieben innerhalb des Mir auch nicht das


Grenzboten IV 1912 4
Agrcire Reformen in Rußland

rechtzeitig abgegangen, so ist die Aussaat in Frage gestellt; bleibt der Schnee
zu lange liegen, so ist der Acker so weich, daß er nicht zu bearbeiten ist;
ging der Schnee zu früh fort, so verwandelt die Erdrinde sich in Fels.
Einen allmählichen Übergang vom Winter zum Sommer gibt es nicht. Aus
dieser Beobachtung erklärt sich meine Bemerkung, daß die Bodenbearbeitung
„einen ganz minimalen Einfluß auf die Güte der Ernte" habe. Das gleiche
gilt von der Ernte und von der Herbstbestellung. In einigen wenigen Tagen
muß seitens der Landwirte ein Pensum bewältigt werden, zu dessen Erledigung
in Deutschland ebenso viele Wochen zur Verfügung stehen. Aus diesen klimatischen
und geologischen Eigentümlichkeiten ergibt sich die Wirtschaftsweise und aus allem
zusammen die soziale Gliederung der Landbewohner sowie deren Besitzverhältnisse.
Auf die Schwierigkeiten der Düngung infolge mangelnder Viehzucht und der
Unmöglichkeit den Acker im Frühjahr und Herbst zu befahren gehe ich hier
garnicht ein. Der Kampf gegen solche gewaltige natürliche Hindernisse, wie
sie sich in Rußland der Ackerbewirtschaftung entgegenstellen, setzt entweder das
Vorhandensein großer, stark disziplinierter Menschenmassen voraus oder riesiger
finanzieller und technischer Hilfsmittel oder beides. Wie steht es nun damit nach
der Reform Stolvpins?

Als Nußland vor einem halben Jahrhundert von der patriarchalischen
zur kapitalistischen Wirtschaftsordnung überging, da wurden die Eigenheiten des
Landes seitens der Slavjanophilen sehr sein berücksichtigt, indem diese das durch
die natürlichen Vorbedingungen begründete Bedürfnis nach genossenschaftlichem
Zusammenschluß auch auf die Besitzverhältnisse am Boden ausdehnten und die
freiwerdenden Bauern durch den Mir an den Boden fesselten. Daß das Ver
halten der Slavjanophilen mehr aus nationalen: Gefühl als durch kluge Er¬
kenntnis der wirtschaftlichen Bedürfnisse zu erklären ist, möge unberücksichtigt
bleiben. Im Mir waren jedenfalls eine Fülle starker Ansätze zu einer eigen¬
artigen russischen Kultur vorhanden; neben dem Ackerbau konnte sich auf dem
Lande eine Industrie entwickeln, die als Hausindustrie in ihrer Eigenart vielleicht
nur von Japanern und Chinesen übertroffen wird; eine Volkskunst blühte auf.
um die wir uns in Deutschland vergeblich mühen. Diese Faktoren wurden aber
in der Folge mit dem Eindringen westeuropäischer liberaler Ideen mehr
und mehr unterschützt, da man in Rußland wenigstens bezüglich der Wirt¬
schaft absolut modern, „europäisch", sogar „amerikanisch" sein will. Die
an sich schwache Regierung sah in der Mir-Verfassung vorwiegend ein be¬
quemes Mittel, die frei gewordenen Bauern „in Ruhe" zu erhalten und sie vor dem
„schädlichen" Einfluß der vom „faulen Westen" infizierten Intelligenz zu bewahren.
Der Bauernstand wurde isoliert; hinaus konnte jeder, aber nicht hinein. So
war es denn auch nicht der Mir, der die Entwicklung des Individuums hintan
hielt, sondern die Polizei und die Kirche, die das Mir-Statut zum „politischen"
Zwangsmittel machte. Aus gleichem Grunde unterblieb Volsbildung, Land¬
straßenbau usw. So floß den Betrieben innerhalb des Mir auch nicht das


Grenzboten IV 1912 4
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[0037] Agrcire Reformen in Rußland rechtzeitig abgegangen, so ist die Aussaat in Frage gestellt; bleibt der Schnee zu lange liegen, so ist der Acker so weich, daß er nicht zu bearbeiten ist; ging der Schnee zu früh fort, so verwandelt die Erdrinde sich in Fels. Einen allmählichen Übergang vom Winter zum Sommer gibt es nicht. Aus dieser Beobachtung erklärt sich meine Bemerkung, daß die Bodenbearbeitung „einen ganz minimalen Einfluß auf die Güte der Ernte" habe. Das gleiche gilt von der Ernte und von der Herbstbestellung. In einigen wenigen Tagen muß seitens der Landwirte ein Pensum bewältigt werden, zu dessen Erledigung in Deutschland ebenso viele Wochen zur Verfügung stehen. Aus diesen klimatischen und geologischen Eigentümlichkeiten ergibt sich die Wirtschaftsweise und aus allem zusammen die soziale Gliederung der Landbewohner sowie deren Besitzverhältnisse. Auf die Schwierigkeiten der Düngung infolge mangelnder Viehzucht und der Unmöglichkeit den Acker im Frühjahr und Herbst zu befahren gehe ich hier garnicht ein. Der Kampf gegen solche gewaltige natürliche Hindernisse, wie sie sich in Rußland der Ackerbewirtschaftung entgegenstellen, setzt entweder das Vorhandensein großer, stark disziplinierter Menschenmassen voraus oder riesiger finanzieller und technischer Hilfsmittel oder beides. Wie steht es nun damit nach der Reform Stolvpins? Als Nußland vor einem halben Jahrhundert von der patriarchalischen zur kapitalistischen Wirtschaftsordnung überging, da wurden die Eigenheiten des Landes seitens der Slavjanophilen sehr sein berücksichtigt, indem diese das durch die natürlichen Vorbedingungen begründete Bedürfnis nach genossenschaftlichem Zusammenschluß auch auf die Besitzverhältnisse am Boden ausdehnten und die freiwerdenden Bauern durch den Mir an den Boden fesselten. Daß das Ver halten der Slavjanophilen mehr aus nationalen: Gefühl als durch kluge Er¬ kenntnis der wirtschaftlichen Bedürfnisse zu erklären ist, möge unberücksichtigt bleiben. Im Mir waren jedenfalls eine Fülle starker Ansätze zu einer eigen¬ artigen russischen Kultur vorhanden; neben dem Ackerbau konnte sich auf dem Lande eine Industrie entwickeln, die als Hausindustrie in ihrer Eigenart vielleicht nur von Japanern und Chinesen übertroffen wird; eine Volkskunst blühte auf. um die wir uns in Deutschland vergeblich mühen. Diese Faktoren wurden aber in der Folge mit dem Eindringen westeuropäischer liberaler Ideen mehr und mehr unterschützt, da man in Rußland wenigstens bezüglich der Wirt¬ schaft absolut modern, „europäisch", sogar „amerikanisch" sein will. Die an sich schwache Regierung sah in der Mir-Verfassung vorwiegend ein be¬ quemes Mittel, die frei gewordenen Bauern „in Ruhe" zu erhalten und sie vor dem „schädlichen" Einfluß der vom „faulen Westen" infizierten Intelligenz zu bewahren. Der Bauernstand wurde isoliert; hinaus konnte jeder, aber nicht hinein. So war es denn auch nicht der Mir, der die Entwicklung des Individuums hintan hielt, sondern die Polizei und die Kirche, die das Mir-Statut zum „politischen" Zwangsmittel machte. Aus gleichem Grunde unterblieb Volsbildung, Land¬ straßenbau usw. So floß den Betrieben innerhalb des Mir auch nicht das Grenzboten IV 1912 4

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_322400/37>, abgerufen am 15.01.2025.