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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr.

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Agrare Reformen in Rußland

wenn Rußland herrenloses Neuland wäre und plötzlich in den Dienst
der Weltwirtschaft träte. , Im Gegenteil liegt die Sache aber so: Ein
unter starkem behördlichen Druck stehender, von Steuerlast fast erdrückter, wirt¬
schaftlich absolut rückständiger, kapitalschwacher, ungebildeter Bauernstand ist
vorhanden. Ein solcher Millionen von Angehörigen zählender Stand kann nicht
in kurzer Zeit beseitigt werden; er wird auf lange Zeit hinaus die Grundlage
der Landwirtschaft bleiben, er wird an die Städte abstoßen, was er sich nicht
assimilieren kann, wird die städtische Entwicklung dadurch fördern, aber sein Kern
wird bleiben, was er war: kleine Bauern. Würde es in Rußland nicht so
kommen, so wäre das, an den Vorgängen in anderen Staaten gemessen, eine
einzigartige Entwicklung; mir scheint jedoch diese Entwicklung in Anbetracht der
Lage des russischen Bauernstandes für lange, lange Zeiten unmöglich.

Sie sprechen zum Schluß von der Bedeutung des guten Erntewetters
für die russische Bauernschaft und sagen, daß die Bodenbearbeitung nur ganz
minimalen Einfluß auf die Güte der Ernte habe. Die Bedeutung des Ernte¬
wetters in allen Ehren -- leider haben wir ja soeben erst erfahren, daß
schlechtes Erntewetter auch eine gute Ernte zugrunde richtet. Aber ganz ent¬
schieden glaube ich doch den Wert der Bodenbearbeitung für die Landwirtschaft
betonen zu müssen. Unsers deutschen Erfahrungen haben uns doch jedenfalls
gezeigt, daß die Vervollkommnung der Bodenbearbeitung, daß Meliorationen,
Düngung, Aussaat usw. von ausschlaggebender Bedeutung für die Erträgnisse
sind. Ich kann nur nach alledem, was ich von Rußland weiß, nicht vorstellen,
daß es dort anders ist. Aber das erinnere ich mich, an mehr als einer Stelle
gelesen zu haben, daß man in Rußland vielfach ohne weiteres erkennen kann,
wo Bauernland, wo gutsherrliches Land liegt. Der -- mir plausibel erscheinende
-- Grund soll darin liegen, daß eben die Bauernschaft vielfach rein extensiv
arbeitet, der Bodenbearbeitung keine Sorgfalt widmet, nicht düngt, während der
Gutsherr intensiv wirtschaftet und sich neuere technische Erfahrungen zu nutze
macht. Das wird in Zukunft der Bauer auch tun können, und darin eben sehe
ich gerade ein Moment, das zur Erträgnissteigerung führen muß. Der
vom Mir freigewordene Bauer wird düngen, wird eine rationelle Bodenkultur
treiben, wird vorwärts kommen wollen, da er auf eigener Scholle sitzt und für
sich selbst und seine Kinder arbeiten kann."

Soweit Herr Dr. Linde. Unsere Meinungsverschiedenheit wurzelt in der
verschiedenartigen Bewertung der natürlichen Vorbedingungen für die
russische Landwirtschaft. Herr Dr. Linde stellt durchaus im Einklang mit
den Gepflogenheiten der deutschen Wissenschaft dauernd die russischen und deutschen
Verhältnisse in Parallele. Ich halte solche Gegenüberstellung dort für unzulässig,
wo nicht theoretische, sondern praktische Schlüsse gezogen werden sollen. Im
Gebiete des russischen Getreidebaues, also in der Südhälfte Rußlands, -- vor¬
wiegend schwarze Erde, -- stehen für die eigentlichen Feldarbeiten, wie Acker¬
bestellung und Aussaat, nur wenige Tage zur Verfügung. Ist der Schnee nicht


Agrare Reformen in Rußland

wenn Rußland herrenloses Neuland wäre und plötzlich in den Dienst
der Weltwirtschaft träte. , Im Gegenteil liegt die Sache aber so: Ein
unter starkem behördlichen Druck stehender, von Steuerlast fast erdrückter, wirt¬
schaftlich absolut rückständiger, kapitalschwacher, ungebildeter Bauernstand ist
vorhanden. Ein solcher Millionen von Angehörigen zählender Stand kann nicht
in kurzer Zeit beseitigt werden; er wird auf lange Zeit hinaus die Grundlage
der Landwirtschaft bleiben, er wird an die Städte abstoßen, was er sich nicht
assimilieren kann, wird die städtische Entwicklung dadurch fördern, aber sein Kern
wird bleiben, was er war: kleine Bauern. Würde es in Rußland nicht so
kommen, so wäre das, an den Vorgängen in anderen Staaten gemessen, eine
einzigartige Entwicklung; mir scheint jedoch diese Entwicklung in Anbetracht der
Lage des russischen Bauernstandes für lange, lange Zeiten unmöglich.

Sie sprechen zum Schluß von der Bedeutung des guten Erntewetters
für die russische Bauernschaft und sagen, daß die Bodenbearbeitung nur ganz
minimalen Einfluß auf die Güte der Ernte habe. Die Bedeutung des Ernte¬
wetters in allen Ehren — leider haben wir ja soeben erst erfahren, daß
schlechtes Erntewetter auch eine gute Ernte zugrunde richtet. Aber ganz ent¬
schieden glaube ich doch den Wert der Bodenbearbeitung für die Landwirtschaft
betonen zu müssen. Unsers deutschen Erfahrungen haben uns doch jedenfalls
gezeigt, daß die Vervollkommnung der Bodenbearbeitung, daß Meliorationen,
Düngung, Aussaat usw. von ausschlaggebender Bedeutung für die Erträgnisse
sind. Ich kann nur nach alledem, was ich von Rußland weiß, nicht vorstellen,
daß es dort anders ist. Aber das erinnere ich mich, an mehr als einer Stelle
gelesen zu haben, daß man in Rußland vielfach ohne weiteres erkennen kann,
wo Bauernland, wo gutsherrliches Land liegt. Der — mir plausibel erscheinende
— Grund soll darin liegen, daß eben die Bauernschaft vielfach rein extensiv
arbeitet, der Bodenbearbeitung keine Sorgfalt widmet, nicht düngt, während der
Gutsherr intensiv wirtschaftet und sich neuere technische Erfahrungen zu nutze
macht. Das wird in Zukunft der Bauer auch tun können, und darin eben sehe
ich gerade ein Moment, das zur Erträgnissteigerung führen muß. Der
vom Mir freigewordene Bauer wird düngen, wird eine rationelle Bodenkultur
treiben, wird vorwärts kommen wollen, da er auf eigener Scholle sitzt und für
sich selbst und seine Kinder arbeiten kann."

Soweit Herr Dr. Linde. Unsere Meinungsverschiedenheit wurzelt in der
verschiedenartigen Bewertung der natürlichen Vorbedingungen für die
russische Landwirtschaft. Herr Dr. Linde stellt durchaus im Einklang mit
den Gepflogenheiten der deutschen Wissenschaft dauernd die russischen und deutschen
Verhältnisse in Parallele. Ich halte solche Gegenüberstellung dort für unzulässig,
wo nicht theoretische, sondern praktische Schlüsse gezogen werden sollen. Im
Gebiete des russischen Getreidebaues, also in der Südhälfte Rußlands, — vor¬
wiegend schwarze Erde, — stehen für die eigentlichen Feldarbeiten, wie Acker¬
bestellung und Aussaat, nur wenige Tage zur Verfügung. Ist der Schnee nicht


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[0036] Agrare Reformen in Rußland wenn Rußland herrenloses Neuland wäre und plötzlich in den Dienst der Weltwirtschaft träte. , Im Gegenteil liegt die Sache aber so: Ein unter starkem behördlichen Druck stehender, von Steuerlast fast erdrückter, wirt¬ schaftlich absolut rückständiger, kapitalschwacher, ungebildeter Bauernstand ist vorhanden. Ein solcher Millionen von Angehörigen zählender Stand kann nicht in kurzer Zeit beseitigt werden; er wird auf lange Zeit hinaus die Grundlage der Landwirtschaft bleiben, er wird an die Städte abstoßen, was er sich nicht assimilieren kann, wird die städtische Entwicklung dadurch fördern, aber sein Kern wird bleiben, was er war: kleine Bauern. Würde es in Rußland nicht so kommen, so wäre das, an den Vorgängen in anderen Staaten gemessen, eine einzigartige Entwicklung; mir scheint jedoch diese Entwicklung in Anbetracht der Lage des russischen Bauernstandes für lange, lange Zeiten unmöglich. Sie sprechen zum Schluß von der Bedeutung des guten Erntewetters für die russische Bauernschaft und sagen, daß die Bodenbearbeitung nur ganz minimalen Einfluß auf die Güte der Ernte habe. Die Bedeutung des Ernte¬ wetters in allen Ehren — leider haben wir ja soeben erst erfahren, daß schlechtes Erntewetter auch eine gute Ernte zugrunde richtet. Aber ganz ent¬ schieden glaube ich doch den Wert der Bodenbearbeitung für die Landwirtschaft betonen zu müssen. Unsers deutschen Erfahrungen haben uns doch jedenfalls gezeigt, daß die Vervollkommnung der Bodenbearbeitung, daß Meliorationen, Düngung, Aussaat usw. von ausschlaggebender Bedeutung für die Erträgnisse sind. Ich kann nur nach alledem, was ich von Rußland weiß, nicht vorstellen, daß es dort anders ist. Aber das erinnere ich mich, an mehr als einer Stelle gelesen zu haben, daß man in Rußland vielfach ohne weiteres erkennen kann, wo Bauernland, wo gutsherrliches Land liegt. Der — mir plausibel erscheinende — Grund soll darin liegen, daß eben die Bauernschaft vielfach rein extensiv arbeitet, der Bodenbearbeitung keine Sorgfalt widmet, nicht düngt, während der Gutsherr intensiv wirtschaftet und sich neuere technische Erfahrungen zu nutze macht. Das wird in Zukunft der Bauer auch tun können, und darin eben sehe ich gerade ein Moment, das zur Erträgnissteigerung führen muß. Der vom Mir freigewordene Bauer wird düngen, wird eine rationelle Bodenkultur treiben, wird vorwärts kommen wollen, da er auf eigener Scholle sitzt und für sich selbst und seine Kinder arbeiten kann." Soweit Herr Dr. Linde. Unsere Meinungsverschiedenheit wurzelt in der verschiedenartigen Bewertung der natürlichen Vorbedingungen für die russische Landwirtschaft. Herr Dr. Linde stellt durchaus im Einklang mit den Gepflogenheiten der deutschen Wissenschaft dauernd die russischen und deutschen Verhältnisse in Parallele. Ich halte solche Gegenüberstellung dort für unzulässig, wo nicht theoretische, sondern praktische Schlüsse gezogen werden sollen. Im Gebiete des russischen Getreidebaues, also in der Südhälfte Rußlands, — vor¬ wiegend schwarze Erde, — stehen für die eigentlichen Feldarbeiten, wie Acker¬ bestellung und Aussaat, nur wenige Tage zur Verfügung. Ist der Schnee nicht

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_322400/36>, abgerufen am 15.01.2025.