Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Karl Salzer

In der Graden Gasse steht auch das Pfarrhaus; eine Freitreppe führt zum
Eingang. Sie ist immer blank gefegt; wie geleckt, sagen die Bauern. Aber das
Pfarrhaus selbst ist nicht in bestem Zustande. Der Pfarrer ist selbstlos und will
aus dem Kirchenvermögen nur wenig für seine eigenen Bedürfnisse verwendet
haben. Der Olanstrich ist verwittert und blättert an vielen Stellen ab. Der
Regen hat schmutzige Streifen an die Wände gezeichnet. Die Haustür ist rissig.
Zur Rechten greift man nach dem rostigen Glockenzug. Karl zieht daran.
Die Pfarrersköchin öffnet ihm; sie ist rotbäckig und hat ein lachendes Gesicht.
Viele wundern sich, daß sie noch lachen kann, weil sie meinen, ein richtiges
frommes Pfarrhaus müsse sein wie ein Kloster: streng, ernst und schweigsam.
Aber Bawett, die Köchin, ist rotbäckig und froh. Als sie jedoch den Sohn des
Selbstmörders erblickt, wird auch sie ernst und gemessen und fragt mit veränderten
Mienen, was der Besucher wolle.

Den Herrn Pfarrer einmal sprechen.

Da müsse er ein wenig warten, es sei eine Schwester beim Herrn Pfarrer.
Eine junge Krankenschwester sei selbst krank geworden; die Strapazen seien zu
groß. Jawohl, und noch etwas: bei den Schwestern wäre gar manchmal Schmal¬
hans Küchenmeister, weil die Bauern nicht genug hinbrachten. Die Schwestern
seien doch arm und auf Almosen angewiesen. Aber Almosen! Pfeifen, Herzchen,
keine Almosen, sondern von dreckigen Lausbuben Grobheiten!

So sagt Bawett, die rotbäckige, sonst immer lachende Köchin, und verschwindet
in der Küche, indes Karl auf den großen roten Sandsteinplatten des Ganges steht
und denkt: wie die einem die Meinung sagen kann!

Es ist nichts langweiliger als das Warten in einem Pfarrhaus. Eine
gestorbene Ruhe geistert darin. Karl ist es, als müsse da auch eine Leiche in
einem der vielen Zimmer liegen. Und der Hausgang ist so kahl. Decke und
Wände sind weiß getüncht. Nur der einen Wand Leere ist durch ein großes
Kruzifix unterbrochen, von dem der wehleidende Gottessohn herabschaut in das
müde, durch rotes Glas schimmernde Lichtchen, das auf eisernem Arme vor ihm
zu seiner Ehre brennt.

Die Langeweile weckt seltsame Gefühle in dem Burschen. Er muß immer-
während an seine Grobheit gegen die Nonne denken. Vielleicht hätte er doch nicht
so heftig gegen sie sein sollen. Wenn Tante Seelchen ihm schon gesagt gehabt
hätte, was sie ihm dann abends gesagt hatte, wäre er es sicher nicht gewesen.
Und nun hört er, daß die Schwestern nicht immer satt zu essen haben. Da reut
es ihn tief, roh und brutal gegen eine dieser Krankenpflegerinnen gewesen zu sein,
und er denkt nicht mehr daran, daß auch sie hart und unchristlich an ihm
gehandelt hat.

Als die Schwester gegangen ist, macht der Pfarrer die Türe weit auf
und ruft:

"Das Nächste!"

Karl beeilt sich, einzutreten in die große Stube, die nach der Straße zu zwei
Fenster hat. Zwischen beiden ein weißangestrichener Stehpult, an den anderen
Wänden hohe, bis an die Decke reichende Büchergestelle. In der Mitte des
Zimmers steht ein runder Tisch von weitem Umfange. Ein paar Stühle sind
darunter geschoben.


Karl Salzer

In der Graden Gasse steht auch das Pfarrhaus; eine Freitreppe führt zum
Eingang. Sie ist immer blank gefegt; wie geleckt, sagen die Bauern. Aber das
Pfarrhaus selbst ist nicht in bestem Zustande. Der Pfarrer ist selbstlos und will
aus dem Kirchenvermögen nur wenig für seine eigenen Bedürfnisse verwendet
haben. Der Olanstrich ist verwittert und blättert an vielen Stellen ab. Der
Regen hat schmutzige Streifen an die Wände gezeichnet. Die Haustür ist rissig.
Zur Rechten greift man nach dem rostigen Glockenzug. Karl zieht daran.
Die Pfarrersköchin öffnet ihm; sie ist rotbäckig und hat ein lachendes Gesicht.
Viele wundern sich, daß sie noch lachen kann, weil sie meinen, ein richtiges
frommes Pfarrhaus müsse sein wie ein Kloster: streng, ernst und schweigsam.
Aber Bawett, die Köchin, ist rotbäckig und froh. Als sie jedoch den Sohn des
Selbstmörders erblickt, wird auch sie ernst und gemessen und fragt mit veränderten
Mienen, was der Besucher wolle.

Den Herrn Pfarrer einmal sprechen.

Da müsse er ein wenig warten, es sei eine Schwester beim Herrn Pfarrer.
Eine junge Krankenschwester sei selbst krank geworden; die Strapazen seien zu
groß. Jawohl, und noch etwas: bei den Schwestern wäre gar manchmal Schmal¬
hans Küchenmeister, weil die Bauern nicht genug hinbrachten. Die Schwestern
seien doch arm und auf Almosen angewiesen. Aber Almosen! Pfeifen, Herzchen,
keine Almosen, sondern von dreckigen Lausbuben Grobheiten!

So sagt Bawett, die rotbäckige, sonst immer lachende Köchin, und verschwindet
in der Küche, indes Karl auf den großen roten Sandsteinplatten des Ganges steht
und denkt: wie die einem die Meinung sagen kann!

Es ist nichts langweiliger als das Warten in einem Pfarrhaus. Eine
gestorbene Ruhe geistert darin. Karl ist es, als müsse da auch eine Leiche in
einem der vielen Zimmer liegen. Und der Hausgang ist so kahl. Decke und
Wände sind weiß getüncht. Nur der einen Wand Leere ist durch ein großes
Kruzifix unterbrochen, von dem der wehleidende Gottessohn herabschaut in das
müde, durch rotes Glas schimmernde Lichtchen, das auf eisernem Arme vor ihm
zu seiner Ehre brennt.

Die Langeweile weckt seltsame Gefühle in dem Burschen. Er muß immer-
während an seine Grobheit gegen die Nonne denken. Vielleicht hätte er doch nicht
so heftig gegen sie sein sollen. Wenn Tante Seelchen ihm schon gesagt gehabt
hätte, was sie ihm dann abends gesagt hatte, wäre er es sicher nicht gewesen.
Und nun hört er, daß die Schwestern nicht immer satt zu essen haben. Da reut
es ihn tief, roh und brutal gegen eine dieser Krankenpflegerinnen gewesen zu sein,
und er denkt nicht mehr daran, daß auch sie hart und unchristlich an ihm
gehandelt hat.

Als die Schwester gegangen ist, macht der Pfarrer die Türe weit auf
und ruft:

„Das Nächste!"

Karl beeilt sich, einzutreten in die große Stube, die nach der Straße zu zwei
Fenster hat. Zwischen beiden ein weißangestrichener Stehpult, an den anderen
Wänden hohe, bis an die Decke reichende Büchergestelle. In der Mitte des
Zimmers steht ein runder Tisch von weitem Umfange. Ein paar Stühle sind
darunter geschoben.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0333" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/322735"/>
          <fw type="header" place="top"> Karl Salzer</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1548"> In der Graden Gasse steht auch das Pfarrhaus; eine Freitreppe führt zum<lb/>
Eingang. Sie ist immer blank gefegt; wie geleckt, sagen die Bauern. Aber das<lb/>
Pfarrhaus selbst ist nicht in bestem Zustande. Der Pfarrer ist selbstlos und will<lb/>
aus dem Kirchenvermögen nur wenig für seine eigenen Bedürfnisse verwendet<lb/>
haben. Der Olanstrich ist verwittert und blättert an vielen Stellen ab. Der<lb/>
Regen hat schmutzige Streifen an die Wände gezeichnet. Die Haustür ist rissig.<lb/>
Zur Rechten greift man nach dem rostigen Glockenzug. Karl zieht daran.<lb/>
Die Pfarrersköchin öffnet ihm; sie ist rotbäckig und hat ein lachendes Gesicht.<lb/>
Viele wundern sich, daß sie noch lachen kann, weil sie meinen, ein richtiges<lb/>
frommes Pfarrhaus müsse sein wie ein Kloster: streng, ernst und schweigsam.<lb/>
Aber Bawett, die Köchin, ist rotbäckig und froh. Als sie jedoch den Sohn des<lb/>
Selbstmörders erblickt, wird auch sie ernst und gemessen und fragt mit veränderten<lb/>
Mienen, was der Besucher wolle.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1549"> Den Herrn Pfarrer einmal sprechen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1550"> Da müsse er ein wenig warten, es sei eine Schwester beim Herrn Pfarrer.<lb/>
Eine junge Krankenschwester sei selbst krank geworden; die Strapazen seien zu<lb/>
groß. Jawohl, und noch etwas: bei den Schwestern wäre gar manchmal Schmal¬<lb/>
hans Küchenmeister, weil die Bauern nicht genug hinbrachten. Die Schwestern<lb/>
seien doch arm und auf Almosen angewiesen. Aber Almosen! Pfeifen, Herzchen,<lb/>
keine Almosen, sondern von dreckigen Lausbuben Grobheiten!</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1551"> So sagt Bawett, die rotbäckige, sonst immer lachende Köchin, und verschwindet<lb/>
in der Küche, indes Karl auf den großen roten Sandsteinplatten des Ganges steht<lb/>
und denkt: wie die einem die Meinung sagen kann!</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1552"> Es ist nichts langweiliger als das Warten in einem Pfarrhaus. Eine<lb/>
gestorbene Ruhe geistert darin. Karl ist es, als müsse da auch eine Leiche in<lb/>
einem der vielen Zimmer liegen. Und der Hausgang ist so kahl. Decke und<lb/>
Wände sind weiß getüncht. Nur der einen Wand Leere ist durch ein großes<lb/>
Kruzifix unterbrochen, von dem der wehleidende Gottessohn herabschaut in das<lb/>
müde, durch rotes Glas schimmernde Lichtchen, das auf eisernem Arme vor ihm<lb/>
zu seiner Ehre brennt.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1553"> Die Langeweile weckt seltsame Gefühle in dem Burschen. Er muß immer-<lb/>
während an seine Grobheit gegen die Nonne denken. Vielleicht hätte er doch nicht<lb/>
so heftig gegen sie sein sollen. Wenn Tante Seelchen ihm schon gesagt gehabt<lb/>
hätte, was sie ihm dann abends gesagt hatte, wäre er es sicher nicht gewesen.<lb/>
Und nun hört er, daß die Schwestern nicht immer satt zu essen haben. Da reut<lb/>
es ihn tief, roh und brutal gegen eine dieser Krankenpflegerinnen gewesen zu sein,<lb/>
und er denkt nicht mehr daran, daß auch sie hart und unchristlich an ihm<lb/>
gehandelt hat.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1554"> Als die Schwester gegangen ist, macht der Pfarrer die Türe weit auf<lb/>
und ruft:</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1555"> &#x201E;Das Nächste!"</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1556"> Karl beeilt sich, einzutreten in die große Stube, die nach der Straße zu zwei<lb/>
Fenster hat. Zwischen beiden ein weißangestrichener Stehpult, an den anderen<lb/>
Wänden hohe, bis an die Decke reichende Büchergestelle. In der Mitte des<lb/>
Zimmers steht ein runder Tisch von weitem Umfange. Ein paar Stühle sind<lb/>
darunter geschoben.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0333] Karl Salzer In der Graden Gasse steht auch das Pfarrhaus; eine Freitreppe führt zum Eingang. Sie ist immer blank gefegt; wie geleckt, sagen die Bauern. Aber das Pfarrhaus selbst ist nicht in bestem Zustande. Der Pfarrer ist selbstlos und will aus dem Kirchenvermögen nur wenig für seine eigenen Bedürfnisse verwendet haben. Der Olanstrich ist verwittert und blättert an vielen Stellen ab. Der Regen hat schmutzige Streifen an die Wände gezeichnet. Die Haustür ist rissig. Zur Rechten greift man nach dem rostigen Glockenzug. Karl zieht daran. Die Pfarrersköchin öffnet ihm; sie ist rotbäckig und hat ein lachendes Gesicht. Viele wundern sich, daß sie noch lachen kann, weil sie meinen, ein richtiges frommes Pfarrhaus müsse sein wie ein Kloster: streng, ernst und schweigsam. Aber Bawett, die Köchin, ist rotbäckig und froh. Als sie jedoch den Sohn des Selbstmörders erblickt, wird auch sie ernst und gemessen und fragt mit veränderten Mienen, was der Besucher wolle. Den Herrn Pfarrer einmal sprechen. Da müsse er ein wenig warten, es sei eine Schwester beim Herrn Pfarrer. Eine junge Krankenschwester sei selbst krank geworden; die Strapazen seien zu groß. Jawohl, und noch etwas: bei den Schwestern wäre gar manchmal Schmal¬ hans Küchenmeister, weil die Bauern nicht genug hinbrachten. Die Schwestern seien doch arm und auf Almosen angewiesen. Aber Almosen! Pfeifen, Herzchen, keine Almosen, sondern von dreckigen Lausbuben Grobheiten! So sagt Bawett, die rotbäckige, sonst immer lachende Köchin, und verschwindet in der Küche, indes Karl auf den großen roten Sandsteinplatten des Ganges steht und denkt: wie die einem die Meinung sagen kann! Es ist nichts langweiliger als das Warten in einem Pfarrhaus. Eine gestorbene Ruhe geistert darin. Karl ist es, als müsse da auch eine Leiche in einem der vielen Zimmer liegen. Und der Hausgang ist so kahl. Decke und Wände sind weiß getüncht. Nur der einen Wand Leere ist durch ein großes Kruzifix unterbrochen, von dem der wehleidende Gottessohn herabschaut in das müde, durch rotes Glas schimmernde Lichtchen, das auf eisernem Arme vor ihm zu seiner Ehre brennt. Die Langeweile weckt seltsame Gefühle in dem Burschen. Er muß immer- während an seine Grobheit gegen die Nonne denken. Vielleicht hätte er doch nicht so heftig gegen sie sein sollen. Wenn Tante Seelchen ihm schon gesagt gehabt hätte, was sie ihm dann abends gesagt hatte, wäre er es sicher nicht gewesen. Und nun hört er, daß die Schwestern nicht immer satt zu essen haben. Da reut es ihn tief, roh und brutal gegen eine dieser Krankenpflegerinnen gewesen zu sein, und er denkt nicht mehr daran, daß auch sie hart und unchristlich an ihm gehandelt hat. Als die Schwester gegangen ist, macht der Pfarrer die Türe weit auf und ruft: „Das Nächste!" Karl beeilt sich, einzutreten in die große Stube, die nach der Straße zu zwei Fenster hat. Zwischen beiden ein weißangestrichener Stehpult, an den anderen Wänden hohe, bis an die Decke reichende Büchergestelle. In der Mitte des Zimmers steht ein runder Tisch von weitem Umfange. Ein paar Stühle sind darunter geschoben.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_322400
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_322400/333
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_322400/333>, abgerufen am 15.01.2025.