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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr.

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Prometheus und Zarathustra

Karl Spitteler eigentümlich sind Personifikationen seelischer Eigenschaften
und Vorgänge. So begleiten den Prometheus ein Löwe und ein Hündchen,
Personifikationen des Geistes und des Herzens, es kommen vor Kinder des
Löwen und Hündchens. Dieselben Figuren kehren auch in Zarathustra wieder;
auch dort erscheint der Held in Begleitung zweier Tiere: des Adlers und der
Schlange; auch dort wird der Geist unter anderm zu einem Löwen, die Weisheit
zu einer Löwin, und auch dort hat die Löwin Weisheit ein Junges."

In Übereinstimmung mit Bernouillis Auffassung der epischen Ingredienzien
im "Zarathustra" weist Ragaz noch nachdrücklich darauf hin, daß Nietzsche die
Verschmelzung der beiden Pläne: des Sentenzbuches und des Zarathustras im
Sinne des heutigen Werkes, Ende 1882, eben als "Prometheus" im Buchhandel
erschien, vollzog. Also auch Ragaz meint wohl, daß der Rahmen, die epische
Einheit dem "Prometheus" entnommen wäre und stützt die Annahme mit dem
Datum: Ende 1882.

Bei genauerem Hinsehen büßt das alles mächtig an Beweiskraft ein.

Weingärtner stutzt vor den verwandten Tiersymbolen: bei Spitteler Löwe
und Hündchen, bei Nietzsche Adler und Schlange.

Bekanntlich hat Nietzsche "zu einer Zeit (nämlich anfangs 1881), da der
erste Teil des Epimetheus ihm auch im günstigsten Falle kaum schon vorgelegen
haben könnte", in den "Fröhlichen Wissenschaften" (Aph. 314) den Löwen und
den Adler verwendet und da selbst seinen Schmerz "Hund" genannt.

Daß beide, Spitteler wie Nietzsche, unabhängig voneinander zu dieser Tier¬
symbolik gekommen sein konnten, liegt bei der großen Verwandtschaft ihrer
Bildungsquellen auf der Hand. Der Pastorsohn und Pforta-Schüler Nietzsche,
der Theologe Spitteler waren beide bibelsche, haben beide von der Bibel un¬
zählige inhaltliche und formelle Anregung erhalten. Der Prophet Daniel,
Kapitel 7, Vers 4, spricht von vier Tieren: "Das erste wie ein Löwe und hatte
Flügel wie ein Adler." Nietzsche vermochte seiner Schlange nicht einmal den
neutestamentarischen Dialekt, geschweige ihre Abstammung abzustreifen, wie der
umgestaltungskräftigere Spitteler: "Möchte ich klug von Grund aus sein, gleich
meiner Schlange," ist doch nur eine Wunschform der Mahnung: "Seid klug
wie die Schlangen." Beide waren auch in der Antike und besonders in den
Kultproblemen der Antike heimisch. Beide haben vielfach die Wandlung ver¬
folgt, wie ägyptische Gottheiten mit Tierköpfen, Osiris mit dem Sperberkopf,
die Göttin Sechmet mit dem Löwenkopf, zu griechischen Menschengöttern mit
Tierattributen wurden, und beide kannte" wohl Athene, als sie die Eule nicht
neben sich stehen ließ, sondern den Eulenkopf auf den eigenen Schultern trug.
Konnten dermaßen die zwei theologisch gebildeten und bewanderten Neuhumanisten
Nietzsche und Spitteler nicht nur zu leicht unabhängig voneinander auf den
Gedanken kommen, der Göttergestalt, die jeder sich selber erweckt, hie der Halb¬
gott Prometheus, hie der Titanide Zarathustra, Tiere beizugeben, wie sie allen
Göttern, die sie kannten, von jeher beigegeben waren?


Prometheus und Zarathustra

Karl Spitteler eigentümlich sind Personifikationen seelischer Eigenschaften
und Vorgänge. So begleiten den Prometheus ein Löwe und ein Hündchen,
Personifikationen des Geistes und des Herzens, es kommen vor Kinder des
Löwen und Hündchens. Dieselben Figuren kehren auch in Zarathustra wieder;
auch dort erscheint der Held in Begleitung zweier Tiere: des Adlers und der
Schlange; auch dort wird der Geist unter anderm zu einem Löwen, die Weisheit
zu einer Löwin, und auch dort hat die Löwin Weisheit ein Junges."

In Übereinstimmung mit Bernouillis Auffassung der epischen Ingredienzien
im „Zarathustra" weist Ragaz noch nachdrücklich darauf hin, daß Nietzsche die
Verschmelzung der beiden Pläne: des Sentenzbuches und des Zarathustras im
Sinne des heutigen Werkes, Ende 1882, eben als „Prometheus" im Buchhandel
erschien, vollzog. Also auch Ragaz meint wohl, daß der Rahmen, die epische
Einheit dem „Prometheus" entnommen wäre und stützt die Annahme mit dem
Datum: Ende 1882.

Bei genauerem Hinsehen büßt das alles mächtig an Beweiskraft ein.

Weingärtner stutzt vor den verwandten Tiersymbolen: bei Spitteler Löwe
und Hündchen, bei Nietzsche Adler und Schlange.

Bekanntlich hat Nietzsche „zu einer Zeit (nämlich anfangs 1881), da der
erste Teil des Epimetheus ihm auch im günstigsten Falle kaum schon vorgelegen
haben könnte", in den „Fröhlichen Wissenschaften" (Aph. 314) den Löwen und
den Adler verwendet und da selbst seinen Schmerz „Hund" genannt.

Daß beide, Spitteler wie Nietzsche, unabhängig voneinander zu dieser Tier¬
symbolik gekommen sein konnten, liegt bei der großen Verwandtschaft ihrer
Bildungsquellen auf der Hand. Der Pastorsohn und Pforta-Schüler Nietzsche,
der Theologe Spitteler waren beide bibelsche, haben beide von der Bibel un¬
zählige inhaltliche und formelle Anregung erhalten. Der Prophet Daniel,
Kapitel 7, Vers 4, spricht von vier Tieren: „Das erste wie ein Löwe und hatte
Flügel wie ein Adler." Nietzsche vermochte seiner Schlange nicht einmal den
neutestamentarischen Dialekt, geschweige ihre Abstammung abzustreifen, wie der
umgestaltungskräftigere Spitteler: „Möchte ich klug von Grund aus sein, gleich
meiner Schlange," ist doch nur eine Wunschform der Mahnung: „Seid klug
wie die Schlangen." Beide waren auch in der Antike und besonders in den
Kultproblemen der Antike heimisch. Beide haben vielfach die Wandlung ver¬
folgt, wie ägyptische Gottheiten mit Tierköpfen, Osiris mit dem Sperberkopf,
die Göttin Sechmet mit dem Löwenkopf, zu griechischen Menschengöttern mit
Tierattributen wurden, und beide kannte» wohl Athene, als sie die Eule nicht
neben sich stehen ließ, sondern den Eulenkopf auf den eigenen Schultern trug.
Konnten dermaßen die zwei theologisch gebildeten und bewanderten Neuhumanisten
Nietzsche und Spitteler nicht nur zu leicht unabhängig voneinander auf den
Gedanken kommen, der Göttergestalt, die jeder sich selber erweckt, hie der Halb¬
gott Prometheus, hie der Titanide Zarathustra, Tiere beizugeben, wie sie allen
Göttern, die sie kannten, von jeher beigegeben waren?


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[0315] Prometheus und Zarathustra Karl Spitteler eigentümlich sind Personifikationen seelischer Eigenschaften und Vorgänge. So begleiten den Prometheus ein Löwe und ein Hündchen, Personifikationen des Geistes und des Herzens, es kommen vor Kinder des Löwen und Hündchens. Dieselben Figuren kehren auch in Zarathustra wieder; auch dort erscheint der Held in Begleitung zweier Tiere: des Adlers und der Schlange; auch dort wird der Geist unter anderm zu einem Löwen, die Weisheit zu einer Löwin, und auch dort hat die Löwin Weisheit ein Junges." In Übereinstimmung mit Bernouillis Auffassung der epischen Ingredienzien im „Zarathustra" weist Ragaz noch nachdrücklich darauf hin, daß Nietzsche die Verschmelzung der beiden Pläne: des Sentenzbuches und des Zarathustras im Sinne des heutigen Werkes, Ende 1882, eben als „Prometheus" im Buchhandel erschien, vollzog. Also auch Ragaz meint wohl, daß der Rahmen, die epische Einheit dem „Prometheus" entnommen wäre und stützt die Annahme mit dem Datum: Ende 1882. Bei genauerem Hinsehen büßt das alles mächtig an Beweiskraft ein. Weingärtner stutzt vor den verwandten Tiersymbolen: bei Spitteler Löwe und Hündchen, bei Nietzsche Adler und Schlange. Bekanntlich hat Nietzsche „zu einer Zeit (nämlich anfangs 1881), da der erste Teil des Epimetheus ihm auch im günstigsten Falle kaum schon vorgelegen haben könnte", in den „Fröhlichen Wissenschaften" (Aph. 314) den Löwen und den Adler verwendet und da selbst seinen Schmerz „Hund" genannt. Daß beide, Spitteler wie Nietzsche, unabhängig voneinander zu dieser Tier¬ symbolik gekommen sein konnten, liegt bei der großen Verwandtschaft ihrer Bildungsquellen auf der Hand. Der Pastorsohn und Pforta-Schüler Nietzsche, der Theologe Spitteler waren beide bibelsche, haben beide von der Bibel un¬ zählige inhaltliche und formelle Anregung erhalten. Der Prophet Daniel, Kapitel 7, Vers 4, spricht von vier Tieren: „Das erste wie ein Löwe und hatte Flügel wie ein Adler." Nietzsche vermochte seiner Schlange nicht einmal den neutestamentarischen Dialekt, geschweige ihre Abstammung abzustreifen, wie der umgestaltungskräftigere Spitteler: „Möchte ich klug von Grund aus sein, gleich meiner Schlange," ist doch nur eine Wunschform der Mahnung: „Seid klug wie die Schlangen." Beide waren auch in der Antike und besonders in den Kultproblemen der Antike heimisch. Beide haben vielfach die Wandlung ver¬ folgt, wie ägyptische Gottheiten mit Tierköpfen, Osiris mit dem Sperberkopf, die Göttin Sechmet mit dem Löwenkopf, zu griechischen Menschengöttern mit Tierattributen wurden, und beide kannte» wohl Athene, als sie die Eule nicht neben sich stehen ließ, sondern den Eulenkopf auf den eigenen Schultern trug. Konnten dermaßen die zwei theologisch gebildeten und bewanderten Neuhumanisten Nietzsche und Spitteler nicht nur zu leicht unabhängig voneinander auf den Gedanken kommen, der Göttergestalt, die jeder sich selber erweckt, hie der Halb¬ gott Prometheus, hie der Titanide Zarathustra, Tiere beizugeben, wie sie allen Göttern, die sie kannten, von jeher beigegeben waren?

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_322400/315>, abgerufen am 15.01.2025.