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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr.

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Agrare Reformen in Rußland

fühlbar. Durch besondere Vorkehrungen wurde ihre Zahl innerhalb dreier
Jahre (1907/10) von 200 auf mehr als 5000 erhöht, aber auch jetzt reicht ihre
Zahl noch nicht hin, alle Anträge auf Auseinandersetzung sofort zu bearbeiten.
Gegen 11 Millionen Dessjätinen Landes sind von 1906 bis 1911 umgelegt worden;
von diesen rund 11 Millionen entfallen auf die Ausscheidung einzelner Bauern¬
höfe und die Auseinandersetzung ganzer Gemeinden etwa 6^ Millionen, auf die
Auseinandersetzung verschiedener Dörfer einer Gemeinde etwa 4^ Millionen.

Diese Erfolge der jetzigen Agrarreform Rußlands übersteigen selbst die
kühnsten Hoffnungen, die bei der Einleitung der Reform gehegt wurden.*) Es hat
sich gezeigt, daß in weiten Kreisen der Bauernschaft völliges Verständnis für
die Nachteile der sozialistischen Organisationsform des Mir bestand oder doch sich
bald durchsetzte und daß die Bauernschaft sich davon überzeugte, daß ein wirt¬
schaftlicher Fortschritt nur auf dem Boden des Individualismus möglich ist.
Die Zukunft wird lehren müssen, welchen Nutzen die vom Zwange des Mir
befreiten, wirtschaftlich selbständig gemachten Bauern aus der gewonnenen Frei¬
heit ziehen werden. Der russische Bauer ist kein Dummkopf, wenngleich es ihm
bei seiner Schwerfälligkeit nicht leicht wird aus sich selbst heraus vorwärts zu
schreiten und Initiative zu entwickeln; daran mag die lange Zeit hindurch
ertragene Unselbständigkeit schuld sein. Immerhin muß die Regierung diesem
Umstände Rechnung tragen, wenn die Zertrümmerung des Mir die erhofften
wirtschaftlichen Vorteile zeitigen soll. Sie ist sich dieser Aufgabe auch bewußt
und sucht ihr gerecht zu werden durch die Ausgestaltung des landwirtschaftlichen
Bildungswesens. Ein Heer von Agronomen, Landwirtschaftslehrern usw. ist von
den Landeinrichtungskommissionen angeworben worden, damit den Bauern geholfen
werde, sich in die neuen Verhältnisse zu finden, indem ihnen Mittel und Wege zu
einer zweckentsprechenden Ausnutzung ihres Landbesitzes, zur Hebung ihrer Vieh¬
wirtschaft und dergleichen mehr gezeigt werden. Demselben Zwecke dienen die
vielen neu eingerichteten Musterwirtschaften, Stationen zum Verleihen von
Maschinen und Geräten, Molkereien usw.

Der Erfolg aller dieser Maßnahmen und Einrichtungen wird nicht ausbleiben
können, um so weniger, wenn Regierung und Parlament die auch auf anderen
Gebieten des kulturellen und wirtschaftlichen Lebens des großen Reiches in An¬
griff genommenen Reformen und Neuerungen fortsetzen. Insbesondere werden
sie die Bestrebungen zur Hebung des geistigen Niveaus der Bauern tatkräftig
fördern müssen, um diesen die im wirtschaftlichen Kampfe unentbehrlichen Hilfs¬
mittel in die Hand zu geben. Von einer Bevölkerungsgruppe, die zu einem
außerordentlich hohen Prozentsatz aus Analphabeten besteht, wird man keine
wirtschaftliche Aufwärtsbewegung erwarten dürfen. Ein gewisses Maß allgemeiner
Kenntnisse kann auch der Bauer nicht entbehren sobald er seinen Betrieb rationell
gestalten, unzweckmäßige extensive Anbaumethoden durch ertragreiche intensive



y Siehe Nachwort des Herausgebers.
Agrare Reformen in Rußland

fühlbar. Durch besondere Vorkehrungen wurde ihre Zahl innerhalb dreier
Jahre (1907/10) von 200 auf mehr als 5000 erhöht, aber auch jetzt reicht ihre
Zahl noch nicht hin, alle Anträge auf Auseinandersetzung sofort zu bearbeiten.
Gegen 11 Millionen Dessjätinen Landes sind von 1906 bis 1911 umgelegt worden;
von diesen rund 11 Millionen entfallen auf die Ausscheidung einzelner Bauern¬
höfe und die Auseinandersetzung ganzer Gemeinden etwa 6^ Millionen, auf die
Auseinandersetzung verschiedener Dörfer einer Gemeinde etwa 4^ Millionen.

Diese Erfolge der jetzigen Agrarreform Rußlands übersteigen selbst die
kühnsten Hoffnungen, die bei der Einleitung der Reform gehegt wurden.*) Es hat
sich gezeigt, daß in weiten Kreisen der Bauernschaft völliges Verständnis für
die Nachteile der sozialistischen Organisationsform des Mir bestand oder doch sich
bald durchsetzte und daß die Bauernschaft sich davon überzeugte, daß ein wirt¬
schaftlicher Fortschritt nur auf dem Boden des Individualismus möglich ist.
Die Zukunft wird lehren müssen, welchen Nutzen die vom Zwange des Mir
befreiten, wirtschaftlich selbständig gemachten Bauern aus der gewonnenen Frei¬
heit ziehen werden. Der russische Bauer ist kein Dummkopf, wenngleich es ihm
bei seiner Schwerfälligkeit nicht leicht wird aus sich selbst heraus vorwärts zu
schreiten und Initiative zu entwickeln; daran mag die lange Zeit hindurch
ertragene Unselbständigkeit schuld sein. Immerhin muß die Regierung diesem
Umstände Rechnung tragen, wenn die Zertrümmerung des Mir die erhofften
wirtschaftlichen Vorteile zeitigen soll. Sie ist sich dieser Aufgabe auch bewußt
und sucht ihr gerecht zu werden durch die Ausgestaltung des landwirtschaftlichen
Bildungswesens. Ein Heer von Agronomen, Landwirtschaftslehrern usw. ist von
den Landeinrichtungskommissionen angeworben worden, damit den Bauern geholfen
werde, sich in die neuen Verhältnisse zu finden, indem ihnen Mittel und Wege zu
einer zweckentsprechenden Ausnutzung ihres Landbesitzes, zur Hebung ihrer Vieh¬
wirtschaft und dergleichen mehr gezeigt werden. Demselben Zwecke dienen die
vielen neu eingerichteten Musterwirtschaften, Stationen zum Verleihen von
Maschinen und Geräten, Molkereien usw.

Der Erfolg aller dieser Maßnahmen und Einrichtungen wird nicht ausbleiben
können, um so weniger, wenn Regierung und Parlament die auch auf anderen
Gebieten des kulturellen und wirtschaftlichen Lebens des großen Reiches in An¬
griff genommenen Reformen und Neuerungen fortsetzen. Insbesondere werden
sie die Bestrebungen zur Hebung des geistigen Niveaus der Bauern tatkräftig
fördern müssen, um diesen die im wirtschaftlichen Kampfe unentbehrlichen Hilfs¬
mittel in die Hand zu geben. Von einer Bevölkerungsgruppe, die zu einem
außerordentlich hohen Prozentsatz aus Analphabeten besteht, wird man keine
wirtschaftliche Aufwärtsbewegung erwarten dürfen. Ein gewisses Maß allgemeiner
Kenntnisse kann auch der Bauer nicht entbehren sobald er seinen Betrieb rationell
gestalten, unzweckmäßige extensive Anbaumethoden durch ertragreiche intensive



y Siehe Nachwort des Herausgebers.
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[0031] Agrare Reformen in Rußland fühlbar. Durch besondere Vorkehrungen wurde ihre Zahl innerhalb dreier Jahre (1907/10) von 200 auf mehr als 5000 erhöht, aber auch jetzt reicht ihre Zahl noch nicht hin, alle Anträge auf Auseinandersetzung sofort zu bearbeiten. Gegen 11 Millionen Dessjätinen Landes sind von 1906 bis 1911 umgelegt worden; von diesen rund 11 Millionen entfallen auf die Ausscheidung einzelner Bauern¬ höfe und die Auseinandersetzung ganzer Gemeinden etwa 6^ Millionen, auf die Auseinandersetzung verschiedener Dörfer einer Gemeinde etwa 4^ Millionen. Diese Erfolge der jetzigen Agrarreform Rußlands übersteigen selbst die kühnsten Hoffnungen, die bei der Einleitung der Reform gehegt wurden.*) Es hat sich gezeigt, daß in weiten Kreisen der Bauernschaft völliges Verständnis für die Nachteile der sozialistischen Organisationsform des Mir bestand oder doch sich bald durchsetzte und daß die Bauernschaft sich davon überzeugte, daß ein wirt¬ schaftlicher Fortschritt nur auf dem Boden des Individualismus möglich ist. Die Zukunft wird lehren müssen, welchen Nutzen die vom Zwange des Mir befreiten, wirtschaftlich selbständig gemachten Bauern aus der gewonnenen Frei¬ heit ziehen werden. Der russische Bauer ist kein Dummkopf, wenngleich es ihm bei seiner Schwerfälligkeit nicht leicht wird aus sich selbst heraus vorwärts zu schreiten und Initiative zu entwickeln; daran mag die lange Zeit hindurch ertragene Unselbständigkeit schuld sein. Immerhin muß die Regierung diesem Umstände Rechnung tragen, wenn die Zertrümmerung des Mir die erhofften wirtschaftlichen Vorteile zeitigen soll. Sie ist sich dieser Aufgabe auch bewußt und sucht ihr gerecht zu werden durch die Ausgestaltung des landwirtschaftlichen Bildungswesens. Ein Heer von Agronomen, Landwirtschaftslehrern usw. ist von den Landeinrichtungskommissionen angeworben worden, damit den Bauern geholfen werde, sich in die neuen Verhältnisse zu finden, indem ihnen Mittel und Wege zu einer zweckentsprechenden Ausnutzung ihres Landbesitzes, zur Hebung ihrer Vieh¬ wirtschaft und dergleichen mehr gezeigt werden. Demselben Zwecke dienen die vielen neu eingerichteten Musterwirtschaften, Stationen zum Verleihen von Maschinen und Geräten, Molkereien usw. Der Erfolg aller dieser Maßnahmen und Einrichtungen wird nicht ausbleiben können, um so weniger, wenn Regierung und Parlament die auch auf anderen Gebieten des kulturellen und wirtschaftlichen Lebens des großen Reiches in An¬ griff genommenen Reformen und Neuerungen fortsetzen. Insbesondere werden sie die Bestrebungen zur Hebung des geistigen Niveaus der Bauern tatkräftig fördern müssen, um diesen die im wirtschaftlichen Kampfe unentbehrlichen Hilfs¬ mittel in die Hand zu geben. Von einer Bevölkerungsgruppe, die zu einem außerordentlich hohen Prozentsatz aus Analphabeten besteht, wird man keine wirtschaftliche Aufwärtsbewegung erwarten dürfen. Ein gewisses Maß allgemeiner Kenntnisse kann auch der Bauer nicht entbehren sobald er seinen Betrieb rationell gestalten, unzweckmäßige extensive Anbaumethoden durch ertragreiche intensive y Siehe Nachwort des Herausgebers.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_322400/31>, abgerufen am 15.01.2025.