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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr.

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Wall einer Festung zusammenzubringen. Der einzelne Soldat war nicht etwa
feige, aber die Truppe als ganzes war es, weil sie nicht geführt wurde. Die
einzelnen Truppenteile wirkten nicht zusammen, sie fügten sich nicht zu dem
stolzen Begriff Armee. Schon die zahlreichen Meldungen über Fortnahme
von türkischen Geschützen ließen vermuten, daß die drei Hauptwaffen nicht
zusammenarbeiteten; jede von ihnen kämpfte für sich, keine Kameradschaft ver¬
band die Führer.

Trotz dieser Tatsachen ist es heute unmöglich ein abschließendes Urteil
abzugeben. Das Kriegsglück ist launisch und geht gern mit demjenigen, der
den längsten Atem hat. Solange die Bulgaren nicht Konstantinopel erobert,
solange Ferdinand, Zar von Bulgarien, nicht das Kreuz auf der Hagia Sofia
wieder errichtet, solange können noch Ereignisse eintreten, deren Möglichkeit
wir vielleicht erraten aber nicht bestimmt voraussagen können. Der ganze
Balkankrieg ist aber eine viel zu ernste, in ihren Folgeerscheinungen noch völlig
unübersehbare Katastrophe, als das es ratsam erscheint, heute die Zukunft vor¬
auszusagen. Nur das folgende steht fest: die Türken sind bisher an allen
Stellen geschlagen, die Bulgaren haben sich als ein Heldenvolk gezeigt, das
glänzend geführt wurde; doch noch sind die türkischen Hilfsquellen nicht erschöpft;
sonnt ist auch noch nicht die Klärung auf dem Balkan eingetreten, die absolut
notwendig ist, um das den europäischen Frieden ständig bedrohende Balkan¬
problem nunmehr unter Wahrung der europäischen Interessen zu lösen. Sollte
die Türkei stark genug sein, um sich auf dem europäischen Festlande zu be¬
haupten, dann wird sie niemand am Bleiben hindern; fehlt ihr die Kraft dazu,
so möge sie sich nach Asien zurückziehen.

Erst wenn die Entscheidung hierüber gefallen sein wird, dürfte der geeignete
Augenblick zum Eingreifen der interessierten Mächte eintreten. Eine starke
Türkei würde die Bundesgenossen finden, die ihr den territorialen 8tatus que>
garantieren; die geschlagene Türkei würde die europäischen Interessenten ver¬
sammelt sehen, sich den finanziellen und wirtschaftlichen 8tatus c>no gegenseitig
zu garantieren. Diesen Zeitpunkt wollen wir abwarten. Denn dann gewinnt
die Bälkanfrage erst den Charakter einer speziellen Angelegenheit der Gro߬
mächte; freilich tritt sie dann in ein gefährliches Stadium. Das darf und
muß sogar unumwunden ausgesprochen werden, damit wir beim Eintritt des
Kriegsfalles für uns nicht aus den Wolken fallen.

Gegenwärtig ist die Haltung Deutschlands unverändert die des stillen
Beobachters, der sich natürlich auf die verschiedensten Eventualitäten vor¬
bereiten muß. Frankreich und England mahnen zum schnellen Frieden; auch
Nußland wäre eine Intervention vor Eroberung Konstantinopels durch Zar
Ferdinand willkommen. Österreich-Ungarn will scheinbar nicht eher etwas von
einer Intervention wissen, bis es sich mit Serbien wegen des Sandschak ver¬
ständigt hat, um dann auf einer etwaigen internationalen Konferenz mit einem
kalt accompli erscheinen zu können.


Rcichsspicgel

Wall einer Festung zusammenzubringen. Der einzelne Soldat war nicht etwa
feige, aber die Truppe als ganzes war es, weil sie nicht geführt wurde. Die
einzelnen Truppenteile wirkten nicht zusammen, sie fügten sich nicht zu dem
stolzen Begriff Armee. Schon die zahlreichen Meldungen über Fortnahme
von türkischen Geschützen ließen vermuten, daß die drei Hauptwaffen nicht
zusammenarbeiteten; jede von ihnen kämpfte für sich, keine Kameradschaft ver¬
band die Führer.

Trotz dieser Tatsachen ist es heute unmöglich ein abschließendes Urteil
abzugeben. Das Kriegsglück ist launisch und geht gern mit demjenigen, der
den längsten Atem hat. Solange die Bulgaren nicht Konstantinopel erobert,
solange Ferdinand, Zar von Bulgarien, nicht das Kreuz auf der Hagia Sofia
wieder errichtet, solange können noch Ereignisse eintreten, deren Möglichkeit
wir vielleicht erraten aber nicht bestimmt voraussagen können. Der ganze
Balkankrieg ist aber eine viel zu ernste, in ihren Folgeerscheinungen noch völlig
unübersehbare Katastrophe, als das es ratsam erscheint, heute die Zukunft vor¬
auszusagen. Nur das folgende steht fest: die Türken sind bisher an allen
Stellen geschlagen, die Bulgaren haben sich als ein Heldenvolk gezeigt, das
glänzend geführt wurde; doch noch sind die türkischen Hilfsquellen nicht erschöpft;
sonnt ist auch noch nicht die Klärung auf dem Balkan eingetreten, die absolut
notwendig ist, um das den europäischen Frieden ständig bedrohende Balkan¬
problem nunmehr unter Wahrung der europäischen Interessen zu lösen. Sollte
die Türkei stark genug sein, um sich auf dem europäischen Festlande zu be¬
haupten, dann wird sie niemand am Bleiben hindern; fehlt ihr die Kraft dazu,
so möge sie sich nach Asien zurückziehen.

Erst wenn die Entscheidung hierüber gefallen sein wird, dürfte der geeignete
Augenblick zum Eingreifen der interessierten Mächte eintreten. Eine starke
Türkei würde die Bundesgenossen finden, die ihr den territorialen 8tatus que>
garantieren; die geschlagene Türkei würde die europäischen Interessenten ver¬
sammelt sehen, sich den finanziellen und wirtschaftlichen 8tatus c>no gegenseitig
zu garantieren. Diesen Zeitpunkt wollen wir abwarten. Denn dann gewinnt
die Bälkanfrage erst den Charakter einer speziellen Angelegenheit der Gro߬
mächte; freilich tritt sie dann in ein gefährliches Stadium. Das darf und
muß sogar unumwunden ausgesprochen werden, damit wir beim Eintritt des
Kriegsfalles für uns nicht aus den Wolken fallen.

Gegenwärtig ist die Haltung Deutschlands unverändert die des stillen
Beobachters, der sich natürlich auf die verschiedensten Eventualitäten vor¬
bereiten muß. Frankreich und England mahnen zum schnellen Frieden; auch
Nußland wäre eine Intervention vor Eroberung Konstantinopels durch Zar
Ferdinand willkommen. Österreich-Ungarn will scheinbar nicht eher etwas von
einer Intervention wissen, bis es sich mit Serbien wegen des Sandschak ver¬
ständigt hat, um dann auf einer etwaigen internationalen Konferenz mit einem
kalt accompli erscheinen zu können.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_322400/294>, abgerufen am 15.01.2025.