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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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Was die fremden Vorbilder angeht, so
Wird man Scheffler beipflichten, wenn er
unier ihnen die meisten Nichtfranzosen als
überflüssig bezeichnet; sie sind in der Tat
nichts weniger als "vorbildlich". Aber er
hätte weiter gehen und auch einigen Erwer¬
bungen französischer Herkunft die höhere
Qualität absprechen sollen. Der Degas war
gewiß keine glänzende Erwerbung, und Bilder
wie der Kastanienbaum von Renoir, oder die
von Fantin, Latour, Ccizin, Vuillard, Boldini
hätte man sicherlich entbehren können. Das
Programm sollte hinsichtlich der Fremden
lauten: die schmerzlichsten Lücken, wie Dela-
croix, Corot, van Gogh, Gauguin baldigst
mit hervorragenden Meisterwerken füllen und
dafür alles Leibliche und Mäßige rücksichtslos
entfernen. Hier ist mindestens ebensoviel zu
reinigen wie zu ergänzen. Die Hauptauf¬
gabe der Galerie wird aber immer darin
bestehen müssen, die deutsche Kunst des neun¬
zehnten Jahrhunderts in möglichster Voll¬
ständigkeit zu zeigen, und was da für Unter¬
lassungssünden -- gerade auch von Tschudi
-- begangen find, wird jeder ermessen, der
das Gebiet einigermaßen überschaut und der
ihm ohne jede Voreingenommenheit gegen¬
übersteht. Die kühlen Wendungen, mit denen
in aller Nebensächlichkeit Leute wie Thoma
erledigt werden, geben deutlich genug zu
verstehen, von welcher Tonart die tendenziöse
Note dieses Buches sei.

Hier wie in manchen anderen Fällen ver¬
rät sich der Verfasser als einen allzu willigen
Schüler Meier-Grases, dem gegenüber man
ihm wirklich mehr Selbständigkeit zugetraut
hätte. Hoffentlich findet er sie bei weiterer
Vertiefung in diesen ihm so naheliegenden
Gegenstand. Die Bekehrung von der im¬
pressionistischen Tendenzmethode zur sach¬
lichen Kunstschreivung ist Wohl auch für ihn
nur eine Frage der Zeit.

Noch einige Äußerlichkeiten. Die Sprache,
in der Scheffler diesmal schreibt, wimmelt
von Schlagworten aus dem Redaktions- und
Atelierjargon, die man bei dieser Gelegenheit
lieber vermißt hätte. stilistische Entglei¬
sungen, wie sie mehrfach vorkommen, stehen
einem Buche, das offenbar vornehm gehalten
sein will, schlecht an; triviale Ausdrücke, wie
"Charme", mag man überhaupt nicht, We¬

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nigstens aber nicht immerfort in der Pein¬
lichen Schreibung "Chara" lesen, und be¬
leidigende Druckfehler, wie "Triumphircit",
müßten Verfasser und Setzer untereinander
mit den Waffen austragen.

Druck und Ausstattung des Buches sind
im übrigen ausgezeichnet; die etwa auf¬
tauchende Besorgnis, der Adler auf Titel und
Umschlag könnte naive Gemüter bewegen, den
Schefflerschen Ausführungen halbamtliche Be¬
deutung zuzumessen, erweist sich Wohl selbst
bei oberflächlicher Einsichtnahme als völlig
unbegründet.

Mag man immerhin die guten Seiten
dieses Buches erwägen, zum Schluß bleibt
einem doch wieder nur die nun bald legenda¬
rische Preisfrage: Wann findet sich endlich
jemand, der sine irs et stuäio die Geschichte
der deutschen Kunst des neunzehnten Jahr¬
tVlomos hunderts schriebe?

Tagesfragen

Hand und Gehirn. Unter dieser Spitz¬
marke schreibt die Deutsche Tageszeitung in
ihrer Ur. SS4 vom 31. Oktober d. I.: "In dem
neuesten Hefte der Grenzboten beschäftigt
sich der Herausgeber wieder einmal mit
dem neuen Mittelstande, den er als das Ge¬
hirn des Volkskörpers bezeichnet, während er
die Produzenten, also Landwirtschaft, Gewerbe
und Industrie, mit den Händen vergleicht.
Bekanntlich hinkt jeder Vergleich. Das Hinken
dieses Vergleichs ist aber außergewöhnlich stark.
Im menschlichen Körper Pflegt das Gehirn
die Hände zu lenken. Daß der neue Mittel¬
stand einen ähnlichen Einfluß auf die schaffen¬
den Stände ausübte, kann doch ernstlich selbst
von dem begeistertsten Freunde dieses neuen
Mittelstandes nicht behauptet werden."

Sehen wir zu, wer recht hat.

Der neue Mittelstand setzt sich zusammen aus
allen den "An geht eilten", die nicht einer täg¬
lichen Kündigung unterworfen werden können,
die also nicht "Arbeiter" sind, nämlich aus:
Werkmeistern, Handlungsgehilfen, Zeichnern,
Technikern, Ingenieuren, Privaten und öffent¬
lichen Beamten, Lehrern, Offizieren, Gelehrten,
Pastoren, Redakteuren, Direktoren usw. In
den neuen Mittelstand gehören somit alle
diejenigen, die ihre Kopfarbeit nicht in
eigenen Betrieben verwerten, sondern diese

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

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Was die fremden Vorbilder angeht, so
Wird man Scheffler beipflichten, wenn er
unier ihnen die meisten Nichtfranzosen als
überflüssig bezeichnet; sie sind in der Tat
nichts weniger als „vorbildlich". Aber er
hätte weiter gehen und auch einigen Erwer¬
bungen französischer Herkunft die höhere
Qualität absprechen sollen. Der Degas war
gewiß keine glänzende Erwerbung, und Bilder
wie der Kastanienbaum von Renoir, oder die
von Fantin, Latour, Ccizin, Vuillard, Boldini
hätte man sicherlich entbehren können. Das
Programm sollte hinsichtlich der Fremden
lauten: die schmerzlichsten Lücken, wie Dela-
croix, Corot, van Gogh, Gauguin baldigst
mit hervorragenden Meisterwerken füllen und
dafür alles Leibliche und Mäßige rücksichtslos
entfernen. Hier ist mindestens ebensoviel zu
reinigen wie zu ergänzen. Die Hauptauf¬
gabe der Galerie wird aber immer darin
bestehen müssen, die deutsche Kunst des neun¬
zehnten Jahrhunderts in möglichster Voll¬
ständigkeit zu zeigen, und was da für Unter¬
lassungssünden — gerade auch von Tschudi
— begangen find, wird jeder ermessen, der
das Gebiet einigermaßen überschaut und der
ihm ohne jede Voreingenommenheit gegen¬
übersteht. Die kühlen Wendungen, mit denen
in aller Nebensächlichkeit Leute wie Thoma
erledigt werden, geben deutlich genug zu
verstehen, von welcher Tonart die tendenziöse
Note dieses Buches sei.

Hier wie in manchen anderen Fällen ver¬
rät sich der Verfasser als einen allzu willigen
Schüler Meier-Grases, dem gegenüber man
ihm wirklich mehr Selbständigkeit zugetraut
hätte. Hoffentlich findet er sie bei weiterer
Vertiefung in diesen ihm so naheliegenden
Gegenstand. Die Bekehrung von der im¬
pressionistischen Tendenzmethode zur sach¬
lichen Kunstschreivung ist Wohl auch für ihn
nur eine Frage der Zeit.

Noch einige Äußerlichkeiten. Die Sprache,
in der Scheffler diesmal schreibt, wimmelt
von Schlagworten aus dem Redaktions- und
Atelierjargon, die man bei dieser Gelegenheit
lieber vermißt hätte. stilistische Entglei¬
sungen, wie sie mehrfach vorkommen, stehen
einem Buche, das offenbar vornehm gehalten
sein will, schlecht an; triviale Ausdrücke, wie
„Charme", mag man überhaupt nicht, We¬

[Spaltenumbruch]

nigstens aber nicht immerfort in der Pein¬
lichen Schreibung „Chara" lesen, und be¬
leidigende Druckfehler, wie „Triumphircit",
müßten Verfasser und Setzer untereinander
mit den Waffen austragen.

Druck und Ausstattung des Buches sind
im übrigen ausgezeichnet; die etwa auf¬
tauchende Besorgnis, der Adler auf Titel und
Umschlag könnte naive Gemüter bewegen, den
Schefflerschen Ausführungen halbamtliche Be¬
deutung zuzumessen, erweist sich Wohl selbst
bei oberflächlicher Einsichtnahme als völlig
unbegründet.

Mag man immerhin die guten Seiten
dieses Buches erwägen, zum Schluß bleibt
einem doch wieder nur die nun bald legenda¬
rische Preisfrage: Wann findet sich endlich
jemand, der sine irs et stuäio die Geschichte
der deutschen Kunst des neunzehnten Jahr¬
tVlomos hunderts schriebe?

Tagesfragen

Hand und Gehirn. Unter dieser Spitz¬
marke schreibt die Deutsche Tageszeitung in
ihrer Ur. SS4 vom 31. Oktober d. I.: „In dem
neuesten Hefte der Grenzboten beschäftigt
sich der Herausgeber wieder einmal mit
dem neuen Mittelstande, den er als das Ge¬
hirn des Volkskörpers bezeichnet, während er
die Produzenten, also Landwirtschaft, Gewerbe
und Industrie, mit den Händen vergleicht.
Bekanntlich hinkt jeder Vergleich. Das Hinken
dieses Vergleichs ist aber außergewöhnlich stark.
Im menschlichen Körper Pflegt das Gehirn
die Hände zu lenken. Daß der neue Mittel¬
stand einen ähnlichen Einfluß auf die schaffen¬
den Stände ausübte, kann doch ernstlich selbst
von dem begeistertsten Freunde dieses neuen
Mittelstandes nicht behauptet werden."

Sehen wir zu, wer recht hat.

Der neue Mittelstand setzt sich zusammen aus
allen den „An geht eilten", die nicht einer täg¬
lichen Kündigung unterworfen werden können,
die also nicht „Arbeiter" sind, nämlich aus:
Werkmeistern, Handlungsgehilfen, Zeichnern,
Technikern, Ingenieuren, Privaten und öffent¬
lichen Beamten, Lehrern, Offizieren, Gelehrten,
Pastoren, Redakteuren, Direktoren usw. In
den neuen Mittelstand gehören somit alle
diejenigen, die ihre Kopfarbeit nicht in
eigenen Betrieben verwerten, sondern diese

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[0292] Maßgebliches und Unmaßgebliches Was die fremden Vorbilder angeht, so Wird man Scheffler beipflichten, wenn er unier ihnen die meisten Nichtfranzosen als überflüssig bezeichnet; sie sind in der Tat nichts weniger als „vorbildlich". Aber er hätte weiter gehen und auch einigen Erwer¬ bungen französischer Herkunft die höhere Qualität absprechen sollen. Der Degas war gewiß keine glänzende Erwerbung, und Bilder wie der Kastanienbaum von Renoir, oder die von Fantin, Latour, Ccizin, Vuillard, Boldini hätte man sicherlich entbehren können. Das Programm sollte hinsichtlich der Fremden lauten: die schmerzlichsten Lücken, wie Dela- croix, Corot, van Gogh, Gauguin baldigst mit hervorragenden Meisterwerken füllen und dafür alles Leibliche und Mäßige rücksichtslos entfernen. Hier ist mindestens ebensoviel zu reinigen wie zu ergänzen. Die Hauptauf¬ gabe der Galerie wird aber immer darin bestehen müssen, die deutsche Kunst des neun¬ zehnten Jahrhunderts in möglichster Voll¬ ständigkeit zu zeigen, und was da für Unter¬ lassungssünden — gerade auch von Tschudi — begangen find, wird jeder ermessen, der das Gebiet einigermaßen überschaut und der ihm ohne jede Voreingenommenheit gegen¬ übersteht. Die kühlen Wendungen, mit denen in aller Nebensächlichkeit Leute wie Thoma erledigt werden, geben deutlich genug zu verstehen, von welcher Tonart die tendenziöse Note dieses Buches sei. Hier wie in manchen anderen Fällen ver¬ rät sich der Verfasser als einen allzu willigen Schüler Meier-Grases, dem gegenüber man ihm wirklich mehr Selbständigkeit zugetraut hätte. Hoffentlich findet er sie bei weiterer Vertiefung in diesen ihm so naheliegenden Gegenstand. Die Bekehrung von der im¬ pressionistischen Tendenzmethode zur sach¬ lichen Kunstschreivung ist Wohl auch für ihn nur eine Frage der Zeit. Noch einige Äußerlichkeiten. Die Sprache, in der Scheffler diesmal schreibt, wimmelt von Schlagworten aus dem Redaktions- und Atelierjargon, die man bei dieser Gelegenheit lieber vermißt hätte. stilistische Entglei¬ sungen, wie sie mehrfach vorkommen, stehen einem Buche, das offenbar vornehm gehalten sein will, schlecht an; triviale Ausdrücke, wie „Charme", mag man überhaupt nicht, We¬ nigstens aber nicht immerfort in der Pein¬ lichen Schreibung „Chara" lesen, und be¬ leidigende Druckfehler, wie „Triumphircit", müßten Verfasser und Setzer untereinander mit den Waffen austragen. Druck und Ausstattung des Buches sind im übrigen ausgezeichnet; die etwa auf¬ tauchende Besorgnis, der Adler auf Titel und Umschlag könnte naive Gemüter bewegen, den Schefflerschen Ausführungen halbamtliche Be¬ deutung zuzumessen, erweist sich Wohl selbst bei oberflächlicher Einsichtnahme als völlig unbegründet. Mag man immerhin die guten Seiten dieses Buches erwägen, zum Schluß bleibt einem doch wieder nur die nun bald legenda¬ rische Preisfrage: Wann findet sich endlich jemand, der sine irs et stuäio die Geschichte der deutschen Kunst des neunzehnten Jahr¬ tVlomos hunderts schriebe? Tagesfragen Hand und Gehirn. Unter dieser Spitz¬ marke schreibt die Deutsche Tageszeitung in ihrer Ur. SS4 vom 31. Oktober d. I.: „In dem neuesten Hefte der Grenzboten beschäftigt sich der Herausgeber wieder einmal mit dem neuen Mittelstande, den er als das Ge¬ hirn des Volkskörpers bezeichnet, während er die Produzenten, also Landwirtschaft, Gewerbe und Industrie, mit den Händen vergleicht. Bekanntlich hinkt jeder Vergleich. Das Hinken dieses Vergleichs ist aber außergewöhnlich stark. Im menschlichen Körper Pflegt das Gehirn die Hände zu lenken. Daß der neue Mittel¬ stand einen ähnlichen Einfluß auf die schaffen¬ den Stände ausübte, kann doch ernstlich selbst von dem begeistertsten Freunde dieses neuen Mittelstandes nicht behauptet werden." Sehen wir zu, wer recht hat. Der neue Mittelstand setzt sich zusammen aus allen den „An geht eilten", die nicht einer täg¬ lichen Kündigung unterworfen werden können, die also nicht „Arbeiter" sind, nämlich aus: Werkmeistern, Handlungsgehilfen, Zeichnern, Technikern, Ingenieuren, Privaten und öffent¬ lichen Beamten, Lehrern, Offizieren, Gelehrten, Pastoren, Redakteuren, Direktoren usw. In den neuen Mittelstand gehören somit alle diejenigen, die ihre Kopfarbeit nicht in eigenen Betrieben verwerten, sondern diese

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_322400/292>, abgerufen am 15.01.2025.