Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]

in sie eingearbeitet hatten. Dem jetzigen
Geschlecht wird es leichter gemacht, ohne
daß duch die Leistungen deswegen ge¬
ringer geworden wären, wie jedes Wett¬
schreiben größerer'stenographischer Verbände
lehrt. Da gibt eS Dilettanten, die dreihundert
Silben und mehr schreiben.

So ist trotz der sinnreichen Anpassung
des Phonographen an die Bedürfnisse des
heutigen Geschäftszimmers die Stenographie,
ohne Übertreibung gesprochen, auf einem
Siegeszuge begriffen, und die Parlamente
wie die Reichsregieruug verdienen Dank,
nicht Spott, wenn sie sich bemühen, ihr das
zu geben, was ihr leider noch fehlt, die Ein¬
heitlichkeit. Es ist gewiß verdrießlich, daß eS
nicht eine deutsche Stenographie, sondern eine
Anzahl von Stenographien gibt, daß ins¬
besondere auch in dieser Hinsicht der Gegen¬
satz zwischen Süd- und Norddeutschland stark
ausgeprägt ist. Gelänge es, daß die Vertreter
der verschiedenen Systeme sich auf einer mitt¬
leren Linie einigten und sich so auf dem
ganzen Gebiete wiederholte, was auf einem
Teilgebiete vor fünfzehn Jahren gelungen ist,
daß dann die einzelnen deutschen Regierungen,
Preußen voran, der Kurzschrift in dieser Ge¬
stalt Eingang in die höheren Schulen ver¬
schafften, was durchaus nicht in der Form
eines Zwangsunterrichts zu geschehen brauchte,
so würden wir nicht nur dem Wunsche von
vielen Tausenden entgegenkommen, sondern
auch unser Schriftwesen ein tüchtiges Stück
weiter bringen und damit ganz gewiß einen
Kulturfortschritt machen. Die inneren wie
äußeren Schwierigkeiten des Unternehmens
sollen dabei durchaus nicht unterschätzt wer¬
den; aber daß, wenn es glücken sollte, nach
einem Menschenalter man sich sehr Wundern
wird, wie man überhaupt das Bedürfnis nach
einer solchen Kurzschrift je hat anzweifeln
können, das ist allerdings meine feste Über¬
zeugung.

Studienrat Dr. Amse
Ein Nachwort zum Extcmporalecrlnß.

Der
zustimmende Aufsatz Dr. Eduard Havensteins
zum Extemporaleerlaß des Kultusministers
(Ur. 3 der Grenzboten, Jahrg. 1912) hat post
Kstum im 37. Heft der Blätter für höheres
Schulwesen eine Erwiderung erfahren, die in

[Spaltenumbruch]

ihrer persönlichen Form entschieden verunglückt
ist. Ich will aber nicht weiter die Partei
Havensteins ergreifen, denn auch ich kann
seine überschwenglichen Hoffnungen nicht teilen.
Ich möchte hier -- ohne den Kunze auf¬
zuschlagen -- einige Worte der Entgegnung
vorbringen, damit die Frage in den Grenz¬
boten nicht einseitig beleuchtet wird.

Herr Dr. Havenstein legte bei dem Ex¬
temporale den Ton auf das Examen und
behauptete, die Auffassung von der Schule
als von einer Prüfungsanstalt sei eine grund¬
verkehrte. Ich halte sie für die richtige. Wir
brauchen eine strenge Prüfende Kontrolle, um
ständig über Fleiß, Auffassungsgabe und Fort¬
schritte jedes Schülers genau Bescheid zu
wissen, jenen tadeln oder ernähren, diesen
loben zu können. Nur dann ist es uns mög¬
lich, die Förderung an den richtigen Stellen
einsetzen zu lassen und den Rhythmus des
Unterrichts der Fassungskraft der Klasse an¬
zupassen. In der Praxis werden solche Examina
täglich angestellt, auch von solchen Lehrern,
die in der Schule nicht eine Prüfungsanstalt
sehen können. Jeder fragt am Anfang der
Stunde das Pensum ab, das er um Tage
vorher zum häuslichen Studium den Schülern
aufgegeben hat. Und wenn er Neues, Un¬
bekanntes entwickelt hat, stellt er Fragen, um
den Grad des Verständnisses festzustellen. Ist
das alles keine Prüfung? Ja, es gibt sogar
gewissenhafte Lehrer, die sich die Resultate
solcher "Examina" in jeder Stunde notieren,
um darauf ihr Gesamturteil aufzubauen.

Ein wertvolles schriftliches Examen, das
uns in vielen Dingen Auskunft und Anregung
gab, war das alte Extemporale. Hier kam
außerdem ein Moment hinzu, das uns der
Erlaß gerade genommen hat: die Vorberei¬
tung. Der Schüler wußte, an dem bestimmten
Tage wird Extemporale geschrieben, und war
dadurch gezwungen, sich in die Lektüre oder
Grammatik zu verliefen oder wenigstens seine
Gedanken auf den Gegenstand im voraus zu
konzentrieren. Diese Vorbereitung nennt Herr
Havenstein unsinnig. Glaubt er denn, daß
durch den Erlaß Plötzlich alle Schüler in den
Stand gesetzt werden, den Stoff schneller zu
beherrschen? Wir dürfen uns doch nichts vor¬
machen. Die Schüler bleiben so, wie sie waren
und können erst ganz allmählich in reiferen

[Ende Spaltensatz]
Maßgebliches und Unmaßgebliches

[Beginn Spaltensatz]

in sie eingearbeitet hatten. Dem jetzigen
Geschlecht wird es leichter gemacht, ohne
daß duch die Leistungen deswegen ge¬
ringer geworden wären, wie jedes Wett¬
schreiben größerer'stenographischer Verbände
lehrt. Da gibt eS Dilettanten, die dreihundert
Silben und mehr schreiben.

So ist trotz der sinnreichen Anpassung
des Phonographen an die Bedürfnisse des
heutigen Geschäftszimmers die Stenographie,
ohne Übertreibung gesprochen, auf einem
Siegeszuge begriffen, und die Parlamente
wie die Reichsregieruug verdienen Dank,
nicht Spott, wenn sie sich bemühen, ihr das
zu geben, was ihr leider noch fehlt, die Ein¬
heitlichkeit. Es ist gewiß verdrießlich, daß eS
nicht eine deutsche Stenographie, sondern eine
Anzahl von Stenographien gibt, daß ins¬
besondere auch in dieser Hinsicht der Gegen¬
satz zwischen Süd- und Norddeutschland stark
ausgeprägt ist. Gelänge es, daß die Vertreter
der verschiedenen Systeme sich auf einer mitt¬
leren Linie einigten und sich so auf dem
ganzen Gebiete wiederholte, was auf einem
Teilgebiete vor fünfzehn Jahren gelungen ist,
daß dann die einzelnen deutschen Regierungen,
Preußen voran, der Kurzschrift in dieser Ge¬
stalt Eingang in die höheren Schulen ver¬
schafften, was durchaus nicht in der Form
eines Zwangsunterrichts zu geschehen brauchte,
so würden wir nicht nur dem Wunsche von
vielen Tausenden entgegenkommen, sondern
auch unser Schriftwesen ein tüchtiges Stück
weiter bringen und damit ganz gewiß einen
Kulturfortschritt machen. Die inneren wie
äußeren Schwierigkeiten des Unternehmens
sollen dabei durchaus nicht unterschätzt wer¬
den; aber daß, wenn es glücken sollte, nach
einem Menschenalter man sich sehr Wundern
wird, wie man überhaupt das Bedürfnis nach
einer solchen Kurzschrift je hat anzweifeln
können, das ist allerdings meine feste Über¬
zeugung.

Studienrat Dr. Amse
Ein Nachwort zum Extcmporalecrlnß.

Der
zustimmende Aufsatz Dr. Eduard Havensteins
zum Extemporaleerlaß des Kultusministers
(Ur. 3 der Grenzboten, Jahrg. 1912) hat post
Kstum im 37. Heft der Blätter für höheres
Schulwesen eine Erwiderung erfahren, die in

[Spaltenumbruch]

ihrer persönlichen Form entschieden verunglückt
ist. Ich will aber nicht weiter die Partei
Havensteins ergreifen, denn auch ich kann
seine überschwenglichen Hoffnungen nicht teilen.
Ich möchte hier — ohne den Kunze auf¬
zuschlagen — einige Worte der Entgegnung
vorbringen, damit die Frage in den Grenz¬
boten nicht einseitig beleuchtet wird.

Herr Dr. Havenstein legte bei dem Ex¬
temporale den Ton auf das Examen und
behauptete, die Auffassung von der Schule
als von einer Prüfungsanstalt sei eine grund¬
verkehrte. Ich halte sie für die richtige. Wir
brauchen eine strenge Prüfende Kontrolle, um
ständig über Fleiß, Auffassungsgabe und Fort¬
schritte jedes Schülers genau Bescheid zu
wissen, jenen tadeln oder ernähren, diesen
loben zu können. Nur dann ist es uns mög¬
lich, die Förderung an den richtigen Stellen
einsetzen zu lassen und den Rhythmus des
Unterrichts der Fassungskraft der Klasse an¬
zupassen. In der Praxis werden solche Examina
täglich angestellt, auch von solchen Lehrern,
die in der Schule nicht eine Prüfungsanstalt
sehen können. Jeder fragt am Anfang der
Stunde das Pensum ab, das er um Tage
vorher zum häuslichen Studium den Schülern
aufgegeben hat. Und wenn er Neues, Un¬
bekanntes entwickelt hat, stellt er Fragen, um
den Grad des Verständnisses festzustellen. Ist
das alles keine Prüfung? Ja, es gibt sogar
gewissenhafte Lehrer, die sich die Resultate
solcher „Examina" in jeder Stunde notieren,
um darauf ihr Gesamturteil aufzubauen.

Ein wertvolles schriftliches Examen, das
uns in vielen Dingen Auskunft und Anregung
gab, war das alte Extemporale. Hier kam
außerdem ein Moment hinzu, das uns der
Erlaß gerade genommen hat: die Vorberei¬
tung. Der Schüler wußte, an dem bestimmten
Tage wird Extemporale geschrieben, und war
dadurch gezwungen, sich in die Lektüre oder
Grammatik zu verliefen oder wenigstens seine
Gedanken auf den Gegenstand im voraus zu
konzentrieren. Diese Vorbereitung nennt Herr
Havenstein unsinnig. Glaubt er denn, daß
durch den Erlaß Plötzlich alle Schüler in den
Stand gesetzt werden, den Stoff schneller zu
beherrschen? Wir dürfen uns doch nichts vor¬
machen. Die Schüler bleiben so, wie sie waren
und können erst ganz allmählich in reiferen

[Ende Spaltensatz]
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <div n="2">
            <div n="3">
              <pb facs="#f0287" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/322689"/>
              <fw type="header" place="top"> Maßgebliches und Unmaßgebliches</fw><lb/>
              <cb type="start"/>
              <p xml:id="ID_1358" prev="#ID_1357"> in sie eingearbeitet hatten. Dem jetzigen<lb/>
Geschlecht wird es leichter gemacht, ohne<lb/>
daß duch die Leistungen deswegen ge¬<lb/>
ringer geworden wären, wie jedes Wett¬<lb/>
schreiben größerer'stenographischer Verbände<lb/>
lehrt. Da gibt eS Dilettanten, die dreihundert<lb/>
Silben und mehr schreiben.</p>
              <p xml:id="ID_1359"> So ist trotz der sinnreichen Anpassung<lb/>
des Phonographen an die Bedürfnisse des<lb/>
heutigen Geschäftszimmers die Stenographie,<lb/>
ohne Übertreibung gesprochen, auf einem<lb/>
Siegeszuge begriffen, und die Parlamente<lb/>
wie die Reichsregieruug verdienen Dank,<lb/>
nicht Spott, wenn sie sich bemühen, ihr das<lb/>
zu geben, was ihr leider noch fehlt, die Ein¬<lb/>
heitlichkeit. Es ist gewiß verdrießlich, daß eS<lb/>
nicht eine deutsche Stenographie, sondern eine<lb/>
Anzahl von Stenographien gibt, daß ins¬<lb/>
besondere auch in dieser Hinsicht der Gegen¬<lb/>
satz zwischen Süd- und Norddeutschland stark<lb/>
ausgeprägt ist. Gelänge es, daß die Vertreter<lb/>
der verschiedenen Systeme sich auf einer mitt¬<lb/>
leren Linie einigten und sich so auf dem<lb/>
ganzen Gebiete wiederholte, was auf einem<lb/>
Teilgebiete vor fünfzehn Jahren gelungen ist,<lb/>
daß dann die einzelnen deutschen Regierungen,<lb/>
Preußen voran, der Kurzschrift in dieser Ge¬<lb/>
stalt Eingang in die höheren Schulen ver¬<lb/>
schafften, was durchaus nicht in der Form<lb/>
eines Zwangsunterrichts zu geschehen brauchte,<lb/>
so würden wir nicht nur dem Wunsche von<lb/>
vielen Tausenden entgegenkommen, sondern<lb/>
auch unser Schriftwesen ein tüchtiges Stück<lb/>
weiter bringen und damit ganz gewiß einen<lb/>
Kulturfortschritt machen. Die inneren wie<lb/>
äußeren Schwierigkeiten des Unternehmens<lb/>
sollen dabei durchaus nicht unterschätzt wer¬<lb/>
den; aber daß, wenn es glücken sollte, nach<lb/>
einem Menschenalter man sich sehr Wundern<lb/>
wird, wie man überhaupt das Bedürfnis nach<lb/>
einer solchen Kurzschrift je hat anzweifeln<lb/>
können, das ist allerdings meine feste Über¬<lb/>
zeugung.</p>
              <note type="byline"> Studienrat Dr. Amse</note>
            </div>
            <div n="3">
              <head> Ein Nachwort zum Extcmporalecrlnß. </head>
              <p xml:id="ID_1360" next="#ID_1361"> Der<lb/>
zustimmende Aufsatz Dr. Eduard Havensteins<lb/>
zum Extemporaleerlaß des Kultusministers<lb/>
(Ur. 3 der Grenzboten, Jahrg. 1912) hat post<lb/>
Kstum im 37. Heft der Blätter für höheres<lb/>
Schulwesen eine Erwiderung erfahren, die in</p>
              <cb/><lb/>
              <p xml:id="ID_1361" prev="#ID_1360"> ihrer persönlichen Form entschieden verunglückt<lb/>
ist. Ich will aber nicht weiter die Partei<lb/>
Havensteins ergreifen, denn auch ich kann<lb/>
seine überschwenglichen Hoffnungen nicht teilen.<lb/>
Ich möchte hier &#x2014; ohne den Kunze auf¬<lb/>
zuschlagen &#x2014; einige Worte der Entgegnung<lb/>
vorbringen, damit die Frage in den Grenz¬<lb/>
boten nicht einseitig beleuchtet wird.</p>
              <p xml:id="ID_1362"> Herr Dr. Havenstein legte bei dem Ex¬<lb/>
temporale den Ton auf das Examen und<lb/>
behauptete, die Auffassung von der Schule<lb/>
als von einer Prüfungsanstalt sei eine grund¬<lb/>
verkehrte. Ich halte sie für die richtige. Wir<lb/>
brauchen eine strenge Prüfende Kontrolle, um<lb/>
ständig über Fleiß, Auffassungsgabe und Fort¬<lb/>
schritte jedes Schülers genau Bescheid zu<lb/>
wissen, jenen tadeln oder ernähren, diesen<lb/>
loben zu können. Nur dann ist es uns mög¬<lb/>
lich, die Förderung an den richtigen Stellen<lb/>
einsetzen zu lassen und den Rhythmus des<lb/>
Unterrichts der Fassungskraft der Klasse an¬<lb/>
zupassen. In der Praxis werden solche Examina<lb/>
täglich angestellt, auch von solchen Lehrern,<lb/>
die in der Schule nicht eine Prüfungsanstalt<lb/>
sehen können. Jeder fragt am Anfang der<lb/>
Stunde das Pensum ab, das er um Tage<lb/>
vorher zum häuslichen Studium den Schülern<lb/>
aufgegeben hat. Und wenn er Neues, Un¬<lb/>
bekanntes entwickelt hat, stellt er Fragen, um<lb/>
den Grad des Verständnisses festzustellen. Ist<lb/>
das alles keine Prüfung? Ja, es gibt sogar<lb/>
gewissenhafte Lehrer, die sich die Resultate<lb/>
solcher &#x201E;Examina" in jeder Stunde notieren,<lb/>
um darauf ihr Gesamturteil aufzubauen.</p>
              <p xml:id="ID_1363" next="#ID_1364"> Ein wertvolles schriftliches Examen, das<lb/>
uns in vielen Dingen Auskunft und Anregung<lb/>
gab, war das alte Extemporale. Hier kam<lb/>
außerdem ein Moment hinzu, das uns der<lb/>
Erlaß gerade genommen hat: die Vorberei¬<lb/>
tung. Der Schüler wußte, an dem bestimmten<lb/>
Tage wird Extemporale geschrieben, und war<lb/>
dadurch gezwungen, sich in die Lektüre oder<lb/>
Grammatik zu verliefen oder wenigstens seine<lb/>
Gedanken auf den Gegenstand im voraus zu<lb/>
konzentrieren. Diese Vorbereitung nennt Herr<lb/>
Havenstein unsinnig. Glaubt er denn, daß<lb/>
durch den Erlaß Plötzlich alle Schüler in den<lb/>
Stand gesetzt werden, den Stoff schneller zu<lb/>
beherrschen? Wir dürfen uns doch nichts vor¬<lb/>
machen. Die Schüler bleiben so, wie sie waren<lb/>
und können erst ganz allmählich in reiferen</p>
              <cb type="end"/><lb/>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0287] Maßgebliches und Unmaßgebliches in sie eingearbeitet hatten. Dem jetzigen Geschlecht wird es leichter gemacht, ohne daß duch die Leistungen deswegen ge¬ ringer geworden wären, wie jedes Wett¬ schreiben größerer'stenographischer Verbände lehrt. Da gibt eS Dilettanten, die dreihundert Silben und mehr schreiben. So ist trotz der sinnreichen Anpassung des Phonographen an die Bedürfnisse des heutigen Geschäftszimmers die Stenographie, ohne Übertreibung gesprochen, auf einem Siegeszuge begriffen, und die Parlamente wie die Reichsregieruug verdienen Dank, nicht Spott, wenn sie sich bemühen, ihr das zu geben, was ihr leider noch fehlt, die Ein¬ heitlichkeit. Es ist gewiß verdrießlich, daß eS nicht eine deutsche Stenographie, sondern eine Anzahl von Stenographien gibt, daß ins¬ besondere auch in dieser Hinsicht der Gegen¬ satz zwischen Süd- und Norddeutschland stark ausgeprägt ist. Gelänge es, daß die Vertreter der verschiedenen Systeme sich auf einer mitt¬ leren Linie einigten und sich so auf dem ganzen Gebiete wiederholte, was auf einem Teilgebiete vor fünfzehn Jahren gelungen ist, daß dann die einzelnen deutschen Regierungen, Preußen voran, der Kurzschrift in dieser Ge¬ stalt Eingang in die höheren Schulen ver¬ schafften, was durchaus nicht in der Form eines Zwangsunterrichts zu geschehen brauchte, so würden wir nicht nur dem Wunsche von vielen Tausenden entgegenkommen, sondern auch unser Schriftwesen ein tüchtiges Stück weiter bringen und damit ganz gewiß einen Kulturfortschritt machen. Die inneren wie äußeren Schwierigkeiten des Unternehmens sollen dabei durchaus nicht unterschätzt wer¬ den; aber daß, wenn es glücken sollte, nach einem Menschenalter man sich sehr Wundern wird, wie man überhaupt das Bedürfnis nach einer solchen Kurzschrift je hat anzweifeln können, das ist allerdings meine feste Über¬ zeugung. Studienrat Dr. Amse Ein Nachwort zum Extcmporalecrlnß. Der zustimmende Aufsatz Dr. Eduard Havensteins zum Extemporaleerlaß des Kultusministers (Ur. 3 der Grenzboten, Jahrg. 1912) hat post Kstum im 37. Heft der Blätter für höheres Schulwesen eine Erwiderung erfahren, die in ihrer persönlichen Form entschieden verunglückt ist. Ich will aber nicht weiter die Partei Havensteins ergreifen, denn auch ich kann seine überschwenglichen Hoffnungen nicht teilen. Ich möchte hier — ohne den Kunze auf¬ zuschlagen — einige Worte der Entgegnung vorbringen, damit die Frage in den Grenz¬ boten nicht einseitig beleuchtet wird. Herr Dr. Havenstein legte bei dem Ex¬ temporale den Ton auf das Examen und behauptete, die Auffassung von der Schule als von einer Prüfungsanstalt sei eine grund¬ verkehrte. Ich halte sie für die richtige. Wir brauchen eine strenge Prüfende Kontrolle, um ständig über Fleiß, Auffassungsgabe und Fort¬ schritte jedes Schülers genau Bescheid zu wissen, jenen tadeln oder ernähren, diesen loben zu können. Nur dann ist es uns mög¬ lich, die Förderung an den richtigen Stellen einsetzen zu lassen und den Rhythmus des Unterrichts der Fassungskraft der Klasse an¬ zupassen. In der Praxis werden solche Examina täglich angestellt, auch von solchen Lehrern, die in der Schule nicht eine Prüfungsanstalt sehen können. Jeder fragt am Anfang der Stunde das Pensum ab, das er um Tage vorher zum häuslichen Studium den Schülern aufgegeben hat. Und wenn er Neues, Un¬ bekanntes entwickelt hat, stellt er Fragen, um den Grad des Verständnisses festzustellen. Ist das alles keine Prüfung? Ja, es gibt sogar gewissenhafte Lehrer, die sich die Resultate solcher „Examina" in jeder Stunde notieren, um darauf ihr Gesamturteil aufzubauen. Ein wertvolles schriftliches Examen, das uns in vielen Dingen Auskunft und Anregung gab, war das alte Extemporale. Hier kam außerdem ein Moment hinzu, das uns der Erlaß gerade genommen hat: die Vorberei¬ tung. Der Schüler wußte, an dem bestimmten Tage wird Extemporale geschrieben, und war dadurch gezwungen, sich in die Lektüre oder Grammatik zu verliefen oder wenigstens seine Gedanken auf den Gegenstand im voraus zu konzentrieren. Diese Vorbereitung nennt Herr Havenstein unsinnig. Glaubt er denn, daß durch den Erlaß Plötzlich alle Schüler in den Stand gesetzt werden, den Stoff schneller zu beherrschen? Wir dürfen uns doch nichts vor¬ machen. Die Schüler bleiben so, wie sie waren und können erst ganz allmählich in reiferen

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_322400
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_322400/287
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_322400/287>, abgerufen am 15.01.2025.