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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr.

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Rinderauswanderung aus England

überseeische Auswanderung als ein treffliches Mittel betrachtet, die zu ent¬
lassenden Zöglinge im Leben unterzubringen.

Aber diese regelmäßige Auswanderung, die durch einige Fürsorgeanstalten
betrieben wurde, betraf wieder nicht das eigentliche Kindesalter, sondern kam
nur für Jugendliche über fünfzehn Jahre in Betracht. Die Kinderauswanderung
aus Workhouses*), die vereinzelt durch Schiffahrtsagenten mit Genehmigung
der betreffenden Armenbehörde stattgefunden hatte, war aus verschiedenen Gründen
völlig eingeschlafen und von der heutigen Organisation der Kinderauswanderung
führen keinerlei Fäden zu ihr zurück. Sie beruht in ihren Anfängen durchaus
auf der Initiative von zwei in der sozialen Jugendfürsorge arbeitenden Frauen,
Miß Macpherson und Miß Rye, die Ende der sechziger Jahre unabhängig von
einander den unbestreitbaren ethischen Wert der Auswanderung gerade in den
Kinderjahren erkannten und propagierten. Beide waren mit den Verhältnissen
Kanadas, das als Ziel der jugendlichen Auswanderung immer mehr in den
Vordergrund trat, vertraut. Miß Macpherson indes, streng methodistischen
Kreisen angehörend, war von höchsten religiösen Idealen erfüllt, während Miß
Nye mehr aus praktischer Erkenntnis heraus handelte. An und für sich
bezweckten beide dasselbe: das größere Wohl des Kindes und seine bessere
Zukunft. Sie fanden, daß Farmerfamilien in Kanada bereit waren, Kinder
um ihrer geringen Dienste willen unentgeltlich aufzunehmen und damit dem
Kinde die Gelegenheit zu geben, sich im anpassungsfähigsten Alter im kanadischen
Sinne zu entwickeln, die Akklimatisation auf schmerzloseste Weise durchzumachen
und später die reichen Möglichkeiten des Landes in vollem Maße auszunutzen,
weit besser als ein erwachsener Neuling. War es aber möglich, mit Erfolg
Kinder schon in den Jahren zu emigrieren, in denen ihre Erziehung noch
erhebliche Ausgaben in der Heimat verursachte, so verwandelte sich das bisherige
Haupthindernis in der Emigrationsfrage Jugendlicher, der Kostenpunkt, in sein
Gegenteil, in einen Besürwortungsgrund. Die Aufbringung der nötigen Mittel
zur Ausführung ihrer Pläne bereitete daher beiden Frauen wenig Schwierigkeiten.

Miß Nye war die erste, die 1868 neunzig Kinder, Knaben und Mädchen
im Alter von acht bis vierzehn Jahren, zumeist aus einer Jndustrialschool**)
Lioerpols stammend, über das Wasser nach Kanada brachte. Für jedes Kind
erhielt sie von der Behörde 8 Pfund und außerdem 1 Pfund und 4 Shilling
als Kostenzuschuß von der kanadischen Negierung.

Im nächsten Jahre war auch Miß Macpherson so weit, daß sie eine
ähnliche Gesellschaft nach Kanada begleiten konnte. Als diese ersten Versuche sich
außerordentlich bewährten, wiederholten beide Frauen von nun an alljährlich
ein- bis zweimal die Überführung von Kindern aus englischen Waisenhäusern
und ähnlichen Anstalten nach Kanada.




") Armenhäuser, die unter der Nrmenbehörde (?vo>Jao (ZuardiÄns) standen.
*") Eine Art Fürst'rgean statt für Kinder bis zu vierzehn Jahren.
Rinderauswanderung aus England

überseeische Auswanderung als ein treffliches Mittel betrachtet, die zu ent¬
lassenden Zöglinge im Leben unterzubringen.

Aber diese regelmäßige Auswanderung, die durch einige Fürsorgeanstalten
betrieben wurde, betraf wieder nicht das eigentliche Kindesalter, sondern kam
nur für Jugendliche über fünfzehn Jahre in Betracht. Die Kinderauswanderung
aus Workhouses*), die vereinzelt durch Schiffahrtsagenten mit Genehmigung
der betreffenden Armenbehörde stattgefunden hatte, war aus verschiedenen Gründen
völlig eingeschlafen und von der heutigen Organisation der Kinderauswanderung
führen keinerlei Fäden zu ihr zurück. Sie beruht in ihren Anfängen durchaus
auf der Initiative von zwei in der sozialen Jugendfürsorge arbeitenden Frauen,
Miß Macpherson und Miß Rye, die Ende der sechziger Jahre unabhängig von
einander den unbestreitbaren ethischen Wert der Auswanderung gerade in den
Kinderjahren erkannten und propagierten. Beide waren mit den Verhältnissen
Kanadas, das als Ziel der jugendlichen Auswanderung immer mehr in den
Vordergrund trat, vertraut. Miß Macpherson indes, streng methodistischen
Kreisen angehörend, war von höchsten religiösen Idealen erfüllt, während Miß
Nye mehr aus praktischer Erkenntnis heraus handelte. An und für sich
bezweckten beide dasselbe: das größere Wohl des Kindes und seine bessere
Zukunft. Sie fanden, daß Farmerfamilien in Kanada bereit waren, Kinder
um ihrer geringen Dienste willen unentgeltlich aufzunehmen und damit dem
Kinde die Gelegenheit zu geben, sich im anpassungsfähigsten Alter im kanadischen
Sinne zu entwickeln, die Akklimatisation auf schmerzloseste Weise durchzumachen
und später die reichen Möglichkeiten des Landes in vollem Maße auszunutzen,
weit besser als ein erwachsener Neuling. War es aber möglich, mit Erfolg
Kinder schon in den Jahren zu emigrieren, in denen ihre Erziehung noch
erhebliche Ausgaben in der Heimat verursachte, so verwandelte sich das bisherige
Haupthindernis in der Emigrationsfrage Jugendlicher, der Kostenpunkt, in sein
Gegenteil, in einen Besürwortungsgrund. Die Aufbringung der nötigen Mittel
zur Ausführung ihrer Pläne bereitete daher beiden Frauen wenig Schwierigkeiten.

Miß Nye war die erste, die 1868 neunzig Kinder, Knaben und Mädchen
im Alter von acht bis vierzehn Jahren, zumeist aus einer Jndustrialschool**)
Lioerpols stammend, über das Wasser nach Kanada brachte. Für jedes Kind
erhielt sie von der Behörde 8 Pfund und außerdem 1 Pfund und 4 Shilling
als Kostenzuschuß von der kanadischen Negierung.

Im nächsten Jahre war auch Miß Macpherson so weit, daß sie eine
ähnliche Gesellschaft nach Kanada begleiten konnte. Als diese ersten Versuche sich
außerordentlich bewährten, wiederholten beide Frauen von nun an alljährlich
ein- bis zweimal die Überführung von Kindern aus englischen Waisenhäusern
und ähnlichen Anstalten nach Kanada.




") Armenhäuser, die unter der Nrmenbehörde (?vo>Jao (ZuardiÄns) standen.
*") Eine Art Fürst'rgean statt für Kinder bis zu vierzehn Jahren.
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[0270] Rinderauswanderung aus England überseeische Auswanderung als ein treffliches Mittel betrachtet, die zu ent¬ lassenden Zöglinge im Leben unterzubringen. Aber diese regelmäßige Auswanderung, die durch einige Fürsorgeanstalten betrieben wurde, betraf wieder nicht das eigentliche Kindesalter, sondern kam nur für Jugendliche über fünfzehn Jahre in Betracht. Die Kinderauswanderung aus Workhouses*), die vereinzelt durch Schiffahrtsagenten mit Genehmigung der betreffenden Armenbehörde stattgefunden hatte, war aus verschiedenen Gründen völlig eingeschlafen und von der heutigen Organisation der Kinderauswanderung führen keinerlei Fäden zu ihr zurück. Sie beruht in ihren Anfängen durchaus auf der Initiative von zwei in der sozialen Jugendfürsorge arbeitenden Frauen, Miß Macpherson und Miß Rye, die Ende der sechziger Jahre unabhängig von einander den unbestreitbaren ethischen Wert der Auswanderung gerade in den Kinderjahren erkannten und propagierten. Beide waren mit den Verhältnissen Kanadas, das als Ziel der jugendlichen Auswanderung immer mehr in den Vordergrund trat, vertraut. Miß Macpherson indes, streng methodistischen Kreisen angehörend, war von höchsten religiösen Idealen erfüllt, während Miß Nye mehr aus praktischer Erkenntnis heraus handelte. An und für sich bezweckten beide dasselbe: das größere Wohl des Kindes und seine bessere Zukunft. Sie fanden, daß Farmerfamilien in Kanada bereit waren, Kinder um ihrer geringen Dienste willen unentgeltlich aufzunehmen und damit dem Kinde die Gelegenheit zu geben, sich im anpassungsfähigsten Alter im kanadischen Sinne zu entwickeln, die Akklimatisation auf schmerzloseste Weise durchzumachen und später die reichen Möglichkeiten des Landes in vollem Maße auszunutzen, weit besser als ein erwachsener Neuling. War es aber möglich, mit Erfolg Kinder schon in den Jahren zu emigrieren, in denen ihre Erziehung noch erhebliche Ausgaben in der Heimat verursachte, so verwandelte sich das bisherige Haupthindernis in der Emigrationsfrage Jugendlicher, der Kostenpunkt, in sein Gegenteil, in einen Besürwortungsgrund. Die Aufbringung der nötigen Mittel zur Ausführung ihrer Pläne bereitete daher beiden Frauen wenig Schwierigkeiten. Miß Nye war die erste, die 1868 neunzig Kinder, Knaben und Mädchen im Alter von acht bis vierzehn Jahren, zumeist aus einer Jndustrialschool**) Lioerpols stammend, über das Wasser nach Kanada brachte. Für jedes Kind erhielt sie von der Behörde 8 Pfund und außerdem 1 Pfund und 4 Shilling als Kostenzuschuß von der kanadischen Negierung. Im nächsten Jahre war auch Miß Macpherson so weit, daß sie eine ähnliche Gesellschaft nach Kanada begleiten konnte. Als diese ersten Versuche sich außerordentlich bewährten, wiederholten beide Frauen von nun an alljährlich ein- bis zweimal die Überführung von Kindern aus englischen Waisenhäusern und ähnlichen Anstalten nach Kanada. ") Armenhäuser, die unter der Nrmenbehörde (?vo>Jao (ZuardiÄns) standen. *") Eine Art Fürst'rgean statt für Kinder bis zu vierzehn Jahren.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_322400/270>, abgerufen am 15.01.2025.