ebenfalls von Roggen bestandenen Feldern anderer Bauern lag, konnte nur dann ernten, wenn es auch den anderen gefiel, dies zu tun, da er im andern Falle sein Land nur erreichen konnte, wenn er das ihre beschädigte. Daher bestimmte der Mir, wann die Feldarbeiten vorgenommen werden sollten. Und ferner: da jeder Bauer Anspruch auf Land hatte, die Bevölkerungszahl der Gemeinden im allgemeinen aber wuchs, so war von Zeit zu Zeit eine Ums¬ tellung des gesamten Gemeindelandes unabweislich. Derartige Anleitungen pflegten in vielen Gemeinden alle paar Jahre vom Mir beschlossen und vor¬ genommen zu werden; erst ein Gesetz von 1893 bestimmte, daß Anleitungen nicht häufiger als in zwölfjährigen Zwischenräumen durchgeführt werden sollten.
Es gab eine Zeit, in der man auch in Westeuropa in dem russischen Mir die vollendetste bäuerliche Wirtschaftsorganisation sah. Wie die Gestaltung der Verhältnisse in Rußland gezeigt hat, haben die Bewunderer des Mir seine ungeheuren Schwächen und Nachteile vor lauter Bewunderung übersehen. Eine Organisation der bäuerlichen Wirtschaft, die bei den Bauern das Bewußtsein, auf eigener Scholle und vererblichem Besitz zu arbeiten, nicht aufkommen läßt, die ihm jede Initiative unmöglich macht, ihm jede erst in der Zukunft Ertrag bringende Arbeit als für einen anderen geleistet erscheinen lassen muß, die jeden beabsichtigten Fortschritt im Keim erstickt, eine solche Organisationsform kann nur den Untergang der bäuerlichen Wirtschaft bedeuten. Wenn Nußland seit Jahrzehnten wieder und wieder Mißernten aufzuweisen hatte, wenn von Jahr zu Jahr die Steuerrückstände wuchsen, wenn nach einem im Jahre 1897 vom russischen Finanzministerium herausgegebenen Werke 70,7 Prozent der gesamten bäuerlichen Bevölkerung die auf 19 Pud") pro Kopf angenommene Menge an Getreide zur Ernährung, die auf 7,5 Pud angenommene Menge an Getreide zur Viehfütterung aus ihrem Landanteil nicht decken konnte, während nur 20,4 Prozent diese Mengen erreichte und nur 8,9 Prozent mehr als 26,5 Pud Getreide aus ihrem Landanteil herauswirtschaftete, wenn die Zahl der Arbeitspferde und des Arbeitsviehes von Jahrzehnt zu Jahrzehnt relativ sank, wenn die Prozentzahl der wegen physischer Defekte vom Militär¬ dienst befreiten Personen von 1874 bis 1901 mehr und mehr stieg -- so sind das alles Erscheinungen, deren Ursachen zu einem ganz erheblichen Teil in der Herrschaft des Mir, in der russischen Feldgemeinschaft lagen.
Dieser Erkenntnis hat man sich in Rußland lange Zeit hindurch ver¬ schlossen und die Ursachen der eben erwähnten und anderer Erscheinungen des bäuerlichen Wirtschaftslebens ganz wo anders gesucht. Im russischen Volke sowohl wie bei der Regierung war es noch bis vor verhältnismäßig wenigen Jahren eine ausgemachte Sache, daß es der Mangel an Bauernland sei, der die in vielen Gegenden Rußlands sast trostlosen bäuerlichen Zustände verschulde. Schon im Jahre 1882 hat diese Überzeugung zu der Gründung der Bauern"
1 Pud --^ 16,4 Kg.
Agrare Reformen in Rußland
ebenfalls von Roggen bestandenen Feldern anderer Bauern lag, konnte nur dann ernten, wenn es auch den anderen gefiel, dies zu tun, da er im andern Falle sein Land nur erreichen konnte, wenn er das ihre beschädigte. Daher bestimmte der Mir, wann die Feldarbeiten vorgenommen werden sollten. Und ferner: da jeder Bauer Anspruch auf Land hatte, die Bevölkerungszahl der Gemeinden im allgemeinen aber wuchs, so war von Zeit zu Zeit eine Ums¬ tellung des gesamten Gemeindelandes unabweislich. Derartige Anleitungen pflegten in vielen Gemeinden alle paar Jahre vom Mir beschlossen und vor¬ genommen zu werden; erst ein Gesetz von 1893 bestimmte, daß Anleitungen nicht häufiger als in zwölfjährigen Zwischenräumen durchgeführt werden sollten.
Es gab eine Zeit, in der man auch in Westeuropa in dem russischen Mir die vollendetste bäuerliche Wirtschaftsorganisation sah. Wie die Gestaltung der Verhältnisse in Rußland gezeigt hat, haben die Bewunderer des Mir seine ungeheuren Schwächen und Nachteile vor lauter Bewunderung übersehen. Eine Organisation der bäuerlichen Wirtschaft, die bei den Bauern das Bewußtsein, auf eigener Scholle und vererblichem Besitz zu arbeiten, nicht aufkommen läßt, die ihm jede Initiative unmöglich macht, ihm jede erst in der Zukunft Ertrag bringende Arbeit als für einen anderen geleistet erscheinen lassen muß, die jeden beabsichtigten Fortschritt im Keim erstickt, eine solche Organisationsform kann nur den Untergang der bäuerlichen Wirtschaft bedeuten. Wenn Nußland seit Jahrzehnten wieder und wieder Mißernten aufzuweisen hatte, wenn von Jahr zu Jahr die Steuerrückstände wuchsen, wenn nach einem im Jahre 1897 vom russischen Finanzministerium herausgegebenen Werke 70,7 Prozent der gesamten bäuerlichen Bevölkerung die auf 19 Pud") pro Kopf angenommene Menge an Getreide zur Ernährung, die auf 7,5 Pud angenommene Menge an Getreide zur Viehfütterung aus ihrem Landanteil nicht decken konnte, während nur 20,4 Prozent diese Mengen erreichte und nur 8,9 Prozent mehr als 26,5 Pud Getreide aus ihrem Landanteil herauswirtschaftete, wenn die Zahl der Arbeitspferde und des Arbeitsviehes von Jahrzehnt zu Jahrzehnt relativ sank, wenn die Prozentzahl der wegen physischer Defekte vom Militär¬ dienst befreiten Personen von 1874 bis 1901 mehr und mehr stieg — so sind das alles Erscheinungen, deren Ursachen zu einem ganz erheblichen Teil in der Herrschaft des Mir, in der russischen Feldgemeinschaft lagen.
Dieser Erkenntnis hat man sich in Rußland lange Zeit hindurch ver¬ schlossen und die Ursachen der eben erwähnten und anderer Erscheinungen des bäuerlichen Wirtschaftslebens ganz wo anders gesucht. Im russischen Volke sowohl wie bei der Regierung war es noch bis vor verhältnismäßig wenigen Jahren eine ausgemachte Sache, daß es der Mangel an Bauernland sei, der die in vielen Gegenden Rußlands sast trostlosen bäuerlichen Zustände verschulde. Schon im Jahre 1882 hat diese Überzeugung zu der Gründung der Bauern»
1 Pud --^ 16,4 Kg.
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Agrare Reformen in Rußland
ebenfalls von Roggen bestandenen Feldern anderer Bauern lag, konnte nur
dann ernten, wenn es auch den anderen gefiel, dies zu tun, da er im andern
Falle sein Land nur erreichen konnte, wenn er das ihre beschädigte. Daher
bestimmte der Mir, wann die Feldarbeiten vorgenommen werden sollten. Und
ferner: da jeder Bauer Anspruch auf Land hatte, die Bevölkerungszahl der
Gemeinden im allgemeinen aber wuchs, so war von Zeit zu Zeit eine Ums¬
tellung des gesamten Gemeindelandes unabweislich. Derartige Anleitungen
pflegten in vielen Gemeinden alle paar Jahre vom Mir beschlossen und vor¬
genommen zu werden; erst ein Gesetz von 1893 bestimmte, daß Anleitungen
nicht häufiger als in zwölfjährigen Zwischenräumen durchgeführt werden sollten.
Es gab eine Zeit, in der man auch in Westeuropa in dem russischen Mir
die vollendetste bäuerliche Wirtschaftsorganisation sah. Wie die Gestaltung der
Verhältnisse in Rußland gezeigt hat, haben die Bewunderer des Mir seine
ungeheuren Schwächen und Nachteile vor lauter Bewunderung übersehen. Eine
Organisation der bäuerlichen Wirtschaft, die bei den Bauern das Bewußtsein,
auf eigener Scholle und vererblichem Besitz zu arbeiten, nicht aufkommen läßt,
die ihm jede Initiative unmöglich macht, ihm jede erst in der Zukunft Ertrag
bringende Arbeit als für einen anderen geleistet erscheinen lassen muß, die
jeden beabsichtigten Fortschritt im Keim erstickt, eine solche Organisationsform
kann nur den Untergang der bäuerlichen Wirtschaft bedeuten. Wenn Nußland
seit Jahrzehnten wieder und wieder Mißernten aufzuweisen hatte, wenn von
Jahr zu Jahr die Steuerrückstände wuchsen, wenn nach einem im Jahre 1897
vom russischen Finanzministerium herausgegebenen Werke 70,7 Prozent der
gesamten bäuerlichen Bevölkerung die auf 19 Pud") pro Kopf angenommene
Menge an Getreide zur Ernährung, die auf 7,5 Pud angenommene Menge
an Getreide zur Viehfütterung aus ihrem Landanteil nicht decken konnte,
während nur 20,4 Prozent diese Mengen erreichte und nur 8,9 Prozent mehr
als 26,5 Pud Getreide aus ihrem Landanteil herauswirtschaftete, wenn die
Zahl der Arbeitspferde und des Arbeitsviehes von Jahrzehnt zu Jahrzehnt
relativ sank, wenn die Prozentzahl der wegen physischer Defekte vom Militär¬
dienst befreiten Personen von 1874 bis 1901 mehr und mehr stieg — so sind
das alles Erscheinungen, deren Ursachen zu einem ganz erheblichen Teil in der
Herrschaft des Mir, in der russischen Feldgemeinschaft lagen.
Dieser Erkenntnis hat man sich in Rußland lange Zeit hindurch ver¬
schlossen und die Ursachen der eben erwähnten und anderer Erscheinungen des
bäuerlichen Wirtschaftslebens ganz wo anders gesucht. Im russischen Volke
sowohl wie bei der Regierung war es noch bis vor verhältnismäßig wenigen
Jahren eine ausgemachte Sache, daß es der Mangel an Bauernland sei, der
die in vielen Gegenden Rußlands sast trostlosen bäuerlichen Zustände verschulde.
Schon im Jahre 1882 hat diese Überzeugung zu der Gründung der Bauern»
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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_322400/25>, abgerufen am 24.01.2025.
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