Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr.Agrare Reformen in Rußland Besitz der Bauernschaft übergegangen sind, gelangten in den persönlichen Besitz Agrare Reformen in Rußland Besitz der Bauernschaft übergegangen sind, gelangten in den persönlichen Besitz <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0024" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/322425"/> <fw type="header" place="top"> Agrare Reformen in Rußland</fw><lb/> <p xml:id="ID_32" prev="#ID_31" next="#ID_33"> Besitz der Bauernschaft übergegangen sind, gelangten in den persönlichen Besitz<lb/> der Bauern nur 19 Millionen Dessjä'einen, während die restierenden 90 Millionen<lb/> der Gemeinde, dem Mir, übertragen wurden. Die Übertragung des Landes<lb/> zu Sonderbesitz geschah im wesentlichen nur in den ehemals polnischen und<lb/> littauischen Provinzen des sogenannten Westgebietes; im ganzen übrigen Ruß><lb/> land wurde es dem Mir zu Kollektiobesitz übertragen. In den Gebieten des<lb/> kollektiven Besitzes, des Gemeindebesitzes oder Mir, ist der einzelne Bauer nur<lb/> Eigentümer seines Hauses und des dieses umgebenen Hofraumes im Dorf, im<lb/> übrigen gehört das ganze Wirtschaftsland an Acker, Weide, Wiese und Wald<lb/> der Gemeinde. Ihr obliegt die Aufgabe, dieses Land nach Maßgabe bestimmter<lb/> Verteilungssysteme, die in den verschiedenen Gegenden voneinander abwichen<lb/> und in der Praxis verschieden gehandhabt wurden, zu verteilen. Damit war es<lb/> jedoch nicht getan. Nach der festen Überzeugung der russischen Bauern hat jeder<lb/> Bauer den unbedingten Anspruch, hinsichtlich des ihm zugewiesenen Anteils um<lb/> nichts schlechter gestellt zu sein als irgendeiner seiner Gemeindegenossen. Bei der<lb/> Verteilung des Gemeindelandes war daher vor allem auch Rücksicht auf eine<lb/> gleichwertige Gestaltung der einzelnen Anteile zu nehmen, eine Aufgabe, die<lb/> wegen der außerordentlich verschiedenartigen Beschaffenheit und Lage des Bodens<lb/> einerseits, der oft zahlreichen Bevölkerung der Gemeinden anderseits, mit den<lb/> größten Schwierigkeiten verknüpft war. Das unabweisliche Ergebnis der<lb/> Landverteilung war daher eine einfach ins Bizarre gehende Bodenzersplitterung.<lb/> „Es gibt Dörfer, in denen die Zahl der zum Anteil eines Wirtes gehörigen<lb/> Einzelstücke hundert und sogar mehr beträgt, und wenn die Zahl der Fetzen<lb/> zwanzig nicht übersteigt, so ist das müßig zu nennen. Die entfernteren Stücke<lb/> jedes Anteils liegen meist mehr als drei Kilometer von der Wohnstätte entfernt,<lb/> ja es gibt Fälle, wo diese Entfernungen 20 Kilometer übersteigen. Das<lb/> Bebungen solcher entfernter Parzellen macht sich natürlich nicht bezahlt und<lb/> der Boden wird ausgesogen solange er noch was trägt und dann, trotz Land¬<lb/> mangels, als Urlaub unbenutzt gelassen. Die Schnurstreifen im Felde sind<lb/> meist nur wenige Meter breit bei einer Länge von Hunderten von Metern und<lb/> manchmal bis zu einer Breite eines Schrittes zusammengeschrunipft. Dabei<lb/> wird das eine Stück von anderen durch einen mit Unkraut bewachsenen Strich<lb/> getrennt. Daß dabei von reiner Saat nicht die Rede sein kann, liegt auf der<lb/> Hand, und der unmittelbare Verlust an Feldareal durch diese Grenzstreifen<lb/> wird von Kennern auf ein Siebentel der Gesamtfläche veranschlagt. Ein Querpflügen<lb/> und -eggen ist ausgeschlossen." (von Wrangell.) Diese Zustände allein hätten<lb/> genügt, eine rationelle und intensive Bewirtschaftung des Bodens unmöglich zu<lb/> machen; hinzu kamen jedoch in derselben Richtung wirkende Momente. Zwei<lb/> von ihnen seien noch erwähnt. Das Fehlen arrondierter Wirtschaftsflächen,<lb/> die Gemenglage der Grundstücke, hatte zur notwendigen Folge, daß dem<lb/> Bauern jede Freiheit und Initiative bei der Bodenbearbeitung, der Saat,<lb/> der Ernte genommen wurde. Ein Bauer z. B., dessen Roggenfeld zwischen den</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0024]
Agrare Reformen in Rußland
Besitz der Bauernschaft übergegangen sind, gelangten in den persönlichen Besitz
der Bauern nur 19 Millionen Dessjä'einen, während die restierenden 90 Millionen
der Gemeinde, dem Mir, übertragen wurden. Die Übertragung des Landes
zu Sonderbesitz geschah im wesentlichen nur in den ehemals polnischen und
littauischen Provinzen des sogenannten Westgebietes; im ganzen übrigen Ruß>
land wurde es dem Mir zu Kollektiobesitz übertragen. In den Gebieten des
kollektiven Besitzes, des Gemeindebesitzes oder Mir, ist der einzelne Bauer nur
Eigentümer seines Hauses und des dieses umgebenen Hofraumes im Dorf, im
übrigen gehört das ganze Wirtschaftsland an Acker, Weide, Wiese und Wald
der Gemeinde. Ihr obliegt die Aufgabe, dieses Land nach Maßgabe bestimmter
Verteilungssysteme, die in den verschiedenen Gegenden voneinander abwichen
und in der Praxis verschieden gehandhabt wurden, zu verteilen. Damit war es
jedoch nicht getan. Nach der festen Überzeugung der russischen Bauern hat jeder
Bauer den unbedingten Anspruch, hinsichtlich des ihm zugewiesenen Anteils um
nichts schlechter gestellt zu sein als irgendeiner seiner Gemeindegenossen. Bei der
Verteilung des Gemeindelandes war daher vor allem auch Rücksicht auf eine
gleichwertige Gestaltung der einzelnen Anteile zu nehmen, eine Aufgabe, die
wegen der außerordentlich verschiedenartigen Beschaffenheit und Lage des Bodens
einerseits, der oft zahlreichen Bevölkerung der Gemeinden anderseits, mit den
größten Schwierigkeiten verknüpft war. Das unabweisliche Ergebnis der
Landverteilung war daher eine einfach ins Bizarre gehende Bodenzersplitterung.
„Es gibt Dörfer, in denen die Zahl der zum Anteil eines Wirtes gehörigen
Einzelstücke hundert und sogar mehr beträgt, und wenn die Zahl der Fetzen
zwanzig nicht übersteigt, so ist das müßig zu nennen. Die entfernteren Stücke
jedes Anteils liegen meist mehr als drei Kilometer von der Wohnstätte entfernt,
ja es gibt Fälle, wo diese Entfernungen 20 Kilometer übersteigen. Das
Bebungen solcher entfernter Parzellen macht sich natürlich nicht bezahlt und
der Boden wird ausgesogen solange er noch was trägt und dann, trotz Land¬
mangels, als Urlaub unbenutzt gelassen. Die Schnurstreifen im Felde sind
meist nur wenige Meter breit bei einer Länge von Hunderten von Metern und
manchmal bis zu einer Breite eines Schrittes zusammengeschrunipft. Dabei
wird das eine Stück von anderen durch einen mit Unkraut bewachsenen Strich
getrennt. Daß dabei von reiner Saat nicht die Rede sein kann, liegt auf der
Hand, und der unmittelbare Verlust an Feldareal durch diese Grenzstreifen
wird von Kennern auf ein Siebentel der Gesamtfläche veranschlagt. Ein Querpflügen
und -eggen ist ausgeschlossen." (von Wrangell.) Diese Zustände allein hätten
genügt, eine rationelle und intensive Bewirtschaftung des Bodens unmöglich zu
machen; hinzu kamen jedoch in derselben Richtung wirkende Momente. Zwei
von ihnen seien noch erwähnt. Das Fehlen arrondierter Wirtschaftsflächen,
die Gemenglage der Grundstücke, hatte zur notwendigen Folge, daß dem
Bauern jede Freiheit und Initiative bei der Bodenbearbeitung, der Saat,
der Ernte genommen wurde. Ein Bauer z. B., dessen Roggenfeld zwischen den
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