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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr.

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geworden ist, wäre nicht zu denken gewesen, wenn nicht Habsucht und Genußgier
die Spekulation der Finanzgenies beflügelt hätten. Dieselben Leidenschaften ziehen
in Wechselwirkung mit wirklichem Bedürfnis die Welt der Farbigen in die
europäische Kulturentwicklung hinein, die zugleich Verbreitung des Christentums
bedeutet, und Rost mahnt wiederholt, tüchtig Geld zu verdienen um der Seelen
Seligkeit willen, weil die Befriedigung der religiösen Bedürfnisse des Volkes
schrecklich viel Geld koste. Wenn alle armen Katholiken in geduldigen Leiden,
in frommer Entsagung und im Vertrauen auf Gott sich bei ihrer Armut be¬
scheiden wollten, dann würde die "verdammte Bedürfnislosigkeit" sie allmählich
in jenes Proletarierelend hinäbdrücken, in welchem das geistige wie das sittliche
und das religiöse Leben verkümmert oder in Lastern erstickt, so daß also die
wider-kirchliche sozialdemokratische Arbeiterbewegung nicht allein für Staat,
Gesellschaft und Volkswirtschaft, sondern auch fürs Christentum eine Not¬
wendigkeit gewesen ist. Die bildenden Künste endlich und die Poesie können
sich nicht voll entfalten ohne einen Stärkegrad der Sinnlichkeit, den ein zartes
christliches Gewissen als Sünde oder wenigstens als Gefahr der Sünde fürchtet.
Anderseits beweist die ganze Weltgeschichte, daß die Völker zugrunde gehen,
wenn diese Triebe ungezügelt walten, und daß unter den Zügeln, zwar nicht
bei jedem einzelnen, aber wenn im Volke verbreitet, im großen und ganzen
das christliche Gewissen das wirksamste ist, während zugleich der christliche Glaube,
die christliche Liebe und die christliche Hoffnung das soziale, das Geistes- und
das Phantasieleben mit Inspirationen, Idealen und Antrieben befruchten, die
nirgend anderswoher geschöpft werden können. Es ist demnach klar, daß Gott
beide Seiten der Menschennatur, die ja beide von ihm geschaffen find, die
niedere und die höhere, wirken lassen will; in Wechselwirkung, einander ab¬
wechselnd spornend und beschränkend, sollen sie Kultur schaffen und dadurch das
Reich Gottes vorbereiten, das also ohne die Hilfe vom Reiche der Welt nicht
gebaut werden kann. Dieses ist uns Heutigen nicht mehr das Reich des Teufels,
aber da eben jedes der beiden Reiche seine besondere Aufgabe hat, die der des
anderen entgegengesetzt ist, war es keine Übertreibung, wenn Luther den Papst
den Antichrist nannte. Das ist er besonders in der Zeit von Bonifaz dem Achten
bis Leo dem Zehnten gewesen, wo die Kurie die größte Finanzmacht Europas
war. Daß diese von Gott angeordnete Arbeittcilung unaufhörlich Selbst¬
widersprüche und Gewissenskonflikte erzeugt, ist in der Weltordnung gegründet,
die darauf beruht, daß das Weltgetriebe durch Gegensätze in Bewegung erhalten
und vorwärts gedrängt wird.

Eine rege Teilnahme der Katholiken am Geistesleben liegt im Interesse
des Vaterlandes, und ihre stärkere Vertretung auf Gymnasien und Universitäten
wäre besonders deswegen zu wünschen, weil der Aufenthalt in der akademischen
Atmosphäre allmählich das Eis des Orthodoxismus zum Schmelzen bringen
muß. Oft habe ich nachgewiesen, daß der moderne Gebildete noch Christ sein
kann; keine der modernen Wissenschaften verbietet den Glauben an die christ-


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geworden ist, wäre nicht zu denken gewesen, wenn nicht Habsucht und Genußgier
die Spekulation der Finanzgenies beflügelt hätten. Dieselben Leidenschaften ziehen
in Wechselwirkung mit wirklichem Bedürfnis die Welt der Farbigen in die
europäische Kulturentwicklung hinein, die zugleich Verbreitung des Christentums
bedeutet, und Rost mahnt wiederholt, tüchtig Geld zu verdienen um der Seelen
Seligkeit willen, weil die Befriedigung der religiösen Bedürfnisse des Volkes
schrecklich viel Geld koste. Wenn alle armen Katholiken in geduldigen Leiden,
in frommer Entsagung und im Vertrauen auf Gott sich bei ihrer Armut be¬
scheiden wollten, dann würde die „verdammte Bedürfnislosigkeit" sie allmählich
in jenes Proletarierelend hinäbdrücken, in welchem das geistige wie das sittliche
und das religiöse Leben verkümmert oder in Lastern erstickt, so daß also die
wider-kirchliche sozialdemokratische Arbeiterbewegung nicht allein für Staat,
Gesellschaft und Volkswirtschaft, sondern auch fürs Christentum eine Not¬
wendigkeit gewesen ist. Die bildenden Künste endlich und die Poesie können
sich nicht voll entfalten ohne einen Stärkegrad der Sinnlichkeit, den ein zartes
christliches Gewissen als Sünde oder wenigstens als Gefahr der Sünde fürchtet.
Anderseits beweist die ganze Weltgeschichte, daß die Völker zugrunde gehen,
wenn diese Triebe ungezügelt walten, und daß unter den Zügeln, zwar nicht
bei jedem einzelnen, aber wenn im Volke verbreitet, im großen und ganzen
das christliche Gewissen das wirksamste ist, während zugleich der christliche Glaube,
die christliche Liebe und die christliche Hoffnung das soziale, das Geistes- und
das Phantasieleben mit Inspirationen, Idealen und Antrieben befruchten, die
nirgend anderswoher geschöpft werden können. Es ist demnach klar, daß Gott
beide Seiten der Menschennatur, die ja beide von ihm geschaffen find, die
niedere und die höhere, wirken lassen will; in Wechselwirkung, einander ab¬
wechselnd spornend und beschränkend, sollen sie Kultur schaffen und dadurch das
Reich Gottes vorbereiten, das also ohne die Hilfe vom Reiche der Welt nicht
gebaut werden kann. Dieses ist uns Heutigen nicht mehr das Reich des Teufels,
aber da eben jedes der beiden Reiche seine besondere Aufgabe hat, die der des
anderen entgegengesetzt ist, war es keine Übertreibung, wenn Luther den Papst
den Antichrist nannte. Das ist er besonders in der Zeit von Bonifaz dem Achten
bis Leo dem Zehnten gewesen, wo die Kurie die größte Finanzmacht Europas
war. Daß diese von Gott angeordnete Arbeittcilung unaufhörlich Selbst¬
widersprüche und Gewissenskonflikte erzeugt, ist in der Weltordnung gegründet,
die darauf beruht, daß das Weltgetriebe durch Gegensätze in Bewegung erhalten
und vorwärts gedrängt wird.

Eine rege Teilnahme der Katholiken am Geistesleben liegt im Interesse
des Vaterlandes, und ihre stärkere Vertretung auf Gymnasien und Universitäten
wäre besonders deswegen zu wünschen, weil der Aufenthalt in der akademischen
Atmosphäre allmählich das Eis des Orthodoxismus zum Schmelzen bringen
muß. Oft habe ich nachgewiesen, daß der moderne Gebildete noch Christ sein
kann; keine der modernen Wissenschaften verbietet den Glauben an die christ-


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[0227] Katholizismus »ut Rnltnr geworden ist, wäre nicht zu denken gewesen, wenn nicht Habsucht und Genußgier die Spekulation der Finanzgenies beflügelt hätten. Dieselben Leidenschaften ziehen in Wechselwirkung mit wirklichem Bedürfnis die Welt der Farbigen in die europäische Kulturentwicklung hinein, die zugleich Verbreitung des Christentums bedeutet, und Rost mahnt wiederholt, tüchtig Geld zu verdienen um der Seelen Seligkeit willen, weil die Befriedigung der religiösen Bedürfnisse des Volkes schrecklich viel Geld koste. Wenn alle armen Katholiken in geduldigen Leiden, in frommer Entsagung und im Vertrauen auf Gott sich bei ihrer Armut be¬ scheiden wollten, dann würde die „verdammte Bedürfnislosigkeit" sie allmählich in jenes Proletarierelend hinäbdrücken, in welchem das geistige wie das sittliche und das religiöse Leben verkümmert oder in Lastern erstickt, so daß also die wider-kirchliche sozialdemokratische Arbeiterbewegung nicht allein für Staat, Gesellschaft und Volkswirtschaft, sondern auch fürs Christentum eine Not¬ wendigkeit gewesen ist. Die bildenden Künste endlich und die Poesie können sich nicht voll entfalten ohne einen Stärkegrad der Sinnlichkeit, den ein zartes christliches Gewissen als Sünde oder wenigstens als Gefahr der Sünde fürchtet. Anderseits beweist die ganze Weltgeschichte, daß die Völker zugrunde gehen, wenn diese Triebe ungezügelt walten, und daß unter den Zügeln, zwar nicht bei jedem einzelnen, aber wenn im Volke verbreitet, im großen und ganzen das christliche Gewissen das wirksamste ist, während zugleich der christliche Glaube, die christliche Liebe und die christliche Hoffnung das soziale, das Geistes- und das Phantasieleben mit Inspirationen, Idealen und Antrieben befruchten, die nirgend anderswoher geschöpft werden können. Es ist demnach klar, daß Gott beide Seiten der Menschennatur, die ja beide von ihm geschaffen find, die niedere und die höhere, wirken lassen will; in Wechselwirkung, einander ab¬ wechselnd spornend und beschränkend, sollen sie Kultur schaffen und dadurch das Reich Gottes vorbereiten, das also ohne die Hilfe vom Reiche der Welt nicht gebaut werden kann. Dieses ist uns Heutigen nicht mehr das Reich des Teufels, aber da eben jedes der beiden Reiche seine besondere Aufgabe hat, die der des anderen entgegengesetzt ist, war es keine Übertreibung, wenn Luther den Papst den Antichrist nannte. Das ist er besonders in der Zeit von Bonifaz dem Achten bis Leo dem Zehnten gewesen, wo die Kurie die größte Finanzmacht Europas war. Daß diese von Gott angeordnete Arbeittcilung unaufhörlich Selbst¬ widersprüche und Gewissenskonflikte erzeugt, ist in der Weltordnung gegründet, die darauf beruht, daß das Weltgetriebe durch Gegensätze in Bewegung erhalten und vorwärts gedrängt wird. Eine rege Teilnahme der Katholiken am Geistesleben liegt im Interesse des Vaterlandes, und ihre stärkere Vertretung auf Gymnasien und Universitäten wäre besonders deswegen zu wünschen, weil der Aufenthalt in der akademischen Atmosphäre allmählich das Eis des Orthodoxismus zum Schmelzen bringen muß. Oft habe ich nachgewiesen, daß der moderne Gebildete noch Christ sein kann; keine der modernen Wissenschaften verbietet den Glauben an die christ-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_322400/227>, abgerufen am 15.01.2025.