Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr.Agrare Reformen in Rußland des Deutschen Reiches ausmacht, ist von etwa hundertfünfzig Millionen Menschen Eben erst sind fünfzig Jahre vergangen, seitdem die Hauptmasse der Agrare Reformen in Rußland des Deutschen Reiches ausmacht, ist von etwa hundertfünfzig Millionen Menschen Eben erst sind fünfzig Jahre vergangen, seitdem die Hauptmasse der <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0022" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/322423"/> <fw type="header" place="top"> Agrare Reformen in Rußland</fw><lb/> <p xml:id="ID_28" prev="#ID_27"> des Deutschen Reiches ausmacht, ist von etwa hundertfünfzig Millionen Menschen<lb/> bevölkert. Dieses Hundertfünfzig - Millionenvolk steht im Begriff zu erwachen,<lb/> sich wirtschaftlich zu regen und sich der in ihm ruhenden Kräfte bewußt zu<lb/> werden, seitdem ein verlorener Krieg und revolutionäre Wirren im Innern ihm<lb/> die Gefahr eines Zusammenbruches vor die Augen führten. Katastrophen<lb/> jedoch erzeugen große Männer. Wie vor hundert Jahren Preußen in der Zeit<lb/> seiner tiefsten Demütigung Männer hervorbrachte, die wie ein Stein, ein<lb/> Hardenberg, ein Schön usw. ihr Volk freimachten von drückender Gebundenheit,<lb/> so haben sich auch in Rußlands schwerster Zeit Männer gefunden, die bereit waren,<lb/> mit zäher Energie an der Umgestaltung der Grundlagen zu arbeiten, auf denen<lb/> sich bisher das Leben des weitaus größten Teiles der russischen Bevölkerung<lb/> vollzog. Ich denke dabei in erster Linie an die Maßnahmen zur Herbei¬<lb/> führung einer agraren Neugestaltung Rußlands, zur Befreiung des russischen<lb/> Bauern vom „Mir".</p><lb/> <p xml:id="ID_29" next="#ID_30"> Eben erst sind fünfzig Jahre vergangen, seitdem die Hauptmasse der<lb/> russischen Bauernschaft nach ungefähr zweihundertjähriger Knechtschaft, deren<lb/> Druck unter keinem Herrscher schwerer auf ihr gelastet hatte als unter der der<lb/> „Philosophin auf dem Kaiserthron", Katharinas der Zweiten, sich in eine völlig<lb/> veränderte Lebenslage versetzt sah, und schon wieder befindet sie sich mitten in<lb/> einer vollständigen Umgestaltung ihrer Verhältnisse. Wer die jetzigen Vorgänge<lb/> verstehen will, kann an den Maßnahmen Alexanders des Zweiten und ihren<lb/> Folgen nicht vorübergehen. Jahrzehntelang hatte die Frage der Leibeigenschaft,<lb/> in die die russischen Bauern mit dem Ausgang des sechzehnten Jahrhunderts<lb/> allmählich gesunken waren, das schwierigste politische Problem Rußlands gebildet,<lb/> an dessen Lösung die hervorragendsten Köpfe der russischen Intellektuellen selbst<lb/> zu einer Zeit gearbeitet hatten, in der ein offenes Wort der Verbannung in<lb/> das östliche Sibirien gleichstand. Dem Zarbefreier Alexander dem Zweiten war<lb/> es vorbehalten es zu lösen. Es wird berichtet, daß die Lektüre von Turgenjeffs<lb/> „Memoiren eines Jägers" ihm die Augen über die Lage der Bauern geöffnet<lb/> und in ihm die Überzeugung geweckt haben soll, daß trotz der ablehnenden Haltung<lb/> des überwiegenden Teiles der Grundbesitzer die Befreiung der Bauern durch¬<lb/> geführt werden müsse. Alexander der Zweite ging von der Anschauung aus,<lb/> daß eine Befreiung der Bauern von den Fesseln der Abhängigkeit allein, d. h.<lb/> ohne sie mit Grund und Boden auszustatten, ein ebenso unnützes wie staats¬<lb/> gefährliches Beginnen sein würde. Sie würde den in Unselbständigkeit groß<lb/> gewordenen Bauern aller Existenzmittel beraubt, ihm vollständiger Proletari¬<lb/> sierung und damit der Ausnutzung durch die Großgrundbesitzerschaft anheim¬<lb/> gegeben haben. Diesen Gedanken entsprach das „Allgemeine Gesetz", das<lb/> Freilassungsmanifest vom 19. Februar (3. März) 1861. Es erklärte die Bauern<lb/> für frei und übertrug ihnen zur wirtschaftlichen Benutzung, zur Nutznießung,<lb/> einen Teil des Landes der Grundbesitzer. Zunächst blieben zwar diese die<lb/> Eigentümer des abgetretenen Bauernlandes, für dessen Nutznießung die Bauern</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0022]
Agrare Reformen in Rußland
des Deutschen Reiches ausmacht, ist von etwa hundertfünfzig Millionen Menschen
bevölkert. Dieses Hundertfünfzig - Millionenvolk steht im Begriff zu erwachen,
sich wirtschaftlich zu regen und sich der in ihm ruhenden Kräfte bewußt zu
werden, seitdem ein verlorener Krieg und revolutionäre Wirren im Innern ihm
die Gefahr eines Zusammenbruches vor die Augen führten. Katastrophen
jedoch erzeugen große Männer. Wie vor hundert Jahren Preußen in der Zeit
seiner tiefsten Demütigung Männer hervorbrachte, die wie ein Stein, ein
Hardenberg, ein Schön usw. ihr Volk freimachten von drückender Gebundenheit,
so haben sich auch in Rußlands schwerster Zeit Männer gefunden, die bereit waren,
mit zäher Energie an der Umgestaltung der Grundlagen zu arbeiten, auf denen
sich bisher das Leben des weitaus größten Teiles der russischen Bevölkerung
vollzog. Ich denke dabei in erster Linie an die Maßnahmen zur Herbei¬
führung einer agraren Neugestaltung Rußlands, zur Befreiung des russischen
Bauern vom „Mir".
Eben erst sind fünfzig Jahre vergangen, seitdem die Hauptmasse der
russischen Bauernschaft nach ungefähr zweihundertjähriger Knechtschaft, deren
Druck unter keinem Herrscher schwerer auf ihr gelastet hatte als unter der der
„Philosophin auf dem Kaiserthron", Katharinas der Zweiten, sich in eine völlig
veränderte Lebenslage versetzt sah, und schon wieder befindet sie sich mitten in
einer vollständigen Umgestaltung ihrer Verhältnisse. Wer die jetzigen Vorgänge
verstehen will, kann an den Maßnahmen Alexanders des Zweiten und ihren
Folgen nicht vorübergehen. Jahrzehntelang hatte die Frage der Leibeigenschaft,
in die die russischen Bauern mit dem Ausgang des sechzehnten Jahrhunderts
allmählich gesunken waren, das schwierigste politische Problem Rußlands gebildet,
an dessen Lösung die hervorragendsten Köpfe der russischen Intellektuellen selbst
zu einer Zeit gearbeitet hatten, in der ein offenes Wort der Verbannung in
das östliche Sibirien gleichstand. Dem Zarbefreier Alexander dem Zweiten war
es vorbehalten es zu lösen. Es wird berichtet, daß die Lektüre von Turgenjeffs
„Memoiren eines Jägers" ihm die Augen über die Lage der Bauern geöffnet
und in ihm die Überzeugung geweckt haben soll, daß trotz der ablehnenden Haltung
des überwiegenden Teiles der Grundbesitzer die Befreiung der Bauern durch¬
geführt werden müsse. Alexander der Zweite ging von der Anschauung aus,
daß eine Befreiung der Bauern von den Fesseln der Abhängigkeit allein, d. h.
ohne sie mit Grund und Boden auszustatten, ein ebenso unnützes wie staats¬
gefährliches Beginnen sein würde. Sie würde den in Unselbständigkeit groß
gewordenen Bauern aller Existenzmittel beraubt, ihm vollständiger Proletari¬
sierung und damit der Ausnutzung durch die Großgrundbesitzerschaft anheim¬
gegeben haben. Diesen Gedanken entsprach das „Allgemeine Gesetz", das
Freilassungsmanifest vom 19. Februar (3. März) 1861. Es erklärte die Bauern
für frei und übertrug ihnen zur wirtschaftlichen Benutzung, zur Nutznießung,
einen Teil des Landes der Grundbesitzer. Zunächst blieben zwar diese die
Eigentümer des abgetretenen Bauernlandes, für dessen Nutznießung die Bauern
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