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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr.

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Die See in der plattdeutschen Lyrik

sich literarisch nicht haben durchsetzen können. Wir müßten, um dies zu erklären,
aus Zeitverhältnisse und bestimmte Entwicklungslinien der hochdeutschen Literatur
eingehen, ferner auf kurzsichtiges Mißverstehen eingeborener niederdeutscher
Literaten, die bis in die Neuzeit eine künstlerische Auffrischung, die z. B. französische
Maler für ihre Kunst längst als notwendig erkannt hatten, im Schoße des eigenen
Stammes bekämpften (Hermann Allmers). Man erkannte eben nicht, daß in
diesen sprachlich manchmal noch unbeholfen ringenden Poesien die Wurzel neuer
Dichterkraft faß, Keime, die längst trieben bevor die "Heimatkunst" literarisch
verkündet war. In diesem Punkte sind überhaupt die niederdeutschen Stämme,
besonders die der Küstenstriche, und ihre Lyrik mit anderen Sondervölkerschaften
und ihrer Literatur zusammenzustellen. Stets erscheinen dort Stolz auf Eigenart
und Heimatgefühl besonders ausgeprägt. Das Stammesgefühl der Nieder¬
deutschen erkennt man vor allem in der dichterischen Lobpreisung der platt¬
deutschen Sprache. Fast kein niederdeutscher Poet hat sie unbesungen gelassen;
Groths unvergleichliches "min Modersprak" löste diesen Ton bei allen späteren
aus. Das Heimatgefühl dagegen fand sich früher -- jetzt ist es nicht mehr
so -- in geradezu elementarer Stärke vornehmlich bei den Jnselfriesen, sowie
überhaupt bei den Bewohnern der entlegensten, ödesten und rauhesten Gegenden.
Das Heimweh der Halligleute war sprichwörtlich und hat seinen ergreifendsten
Ausdruck in dem Magnussenschen Gedicht "De Halligmatros" gefunden. Ich
setze die erste und letzte Strophe hierher.

Es beginnt nun ein Wechselgespräch. Der Kapitän will den Matrosen
zurückhalten und schildert ihm die Kleinheit und Verlassenheit der Hallig, und
als das nichts nützt, ihre Gefahren. Er schließt mit dem Bericht, daß des
Matrosen Schafe und Lämmer, Frau und Kind in einer Sturmflut ertrunken
sind und sein Haus fortgespült worden ist, aber der bleibt fest:

Wie groß auch die Gefahren der See sind und wie oft sich das Motiv
"dieweil" (geblieben) wiederholt: die See lockt Seemannsblut. Was kümmert
es den Jungen von der Waterkant, ob "Rasmus" auch ihn vielleicht einmal
holen wird, wie den Vater, die Brüder, den Nachbar. Er ist ein Kind der
See, denn das Land, auf dem sein Vaterhaus steht, ist von ihr gegeben, und
so gehört er zu ihr. So entwickelt sich überall, wo Schiffer und Fischer


Die See in der plattdeutschen Lyrik

sich literarisch nicht haben durchsetzen können. Wir müßten, um dies zu erklären,
aus Zeitverhältnisse und bestimmte Entwicklungslinien der hochdeutschen Literatur
eingehen, ferner auf kurzsichtiges Mißverstehen eingeborener niederdeutscher
Literaten, die bis in die Neuzeit eine künstlerische Auffrischung, die z. B. französische
Maler für ihre Kunst längst als notwendig erkannt hatten, im Schoße des eigenen
Stammes bekämpften (Hermann Allmers). Man erkannte eben nicht, daß in
diesen sprachlich manchmal noch unbeholfen ringenden Poesien die Wurzel neuer
Dichterkraft faß, Keime, die längst trieben bevor die „Heimatkunst" literarisch
verkündet war. In diesem Punkte sind überhaupt die niederdeutschen Stämme,
besonders die der Küstenstriche, und ihre Lyrik mit anderen Sondervölkerschaften
und ihrer Literatur zusammenzustellen. Stets erscheinen dort Stolz auf Eigenart
und Heimatgefühl besonders ausgeprägt. Das Stammesgefühl der Nieder¬
deutschen erkennt man vor allem in der dichterischen Lobpreisung der platt¬
deutschen Sprache. Fast kein niederdeutscher Poet hat sie unbesungen gelassen;
Groths unvergleichliches „min Modersprak" löste diesen Ton bei allen späteren
aus. Das Heimatgefühl dagegen fand sich früher — jetzt ist es nicht mehr
so — in geradezu elementarer Stärke vornehmlich bei den Jnselfriesen, sowie
überhaupt bei den Bewohnern der entlegensten, ödesten und rauhesten Gegenden.
Das Heimweh der Halligleute war sprichwörtlich und hat seinen ergreifendsten
Ausdruck in dem Magnussenschen Gedicht „De Halligmatros" gefunden. Ich
setze die erste und letzte Strophe hierher.

Es beginnt nun ein Wechselgespräch. Der Kapitän will den Matrosen
zurückhalten und schildert ihm die Kleinheit und Verlassenheit der Hallig, und
als das nichts nützt, ihre Gefahren. Er schließt mit dem Bericht, daß des
Matrosen Schafe und Lämmer, Frau und Kind in einer Sturmflut ertrunken
sind und sein Haus fortgespült worden ist, aber der bleibt fest:

Wie groß auch die Gefahren der See sind und wie oft sich das Motiv
„dieweil" (geblieben) wiederholt: die See lockt Seemannsblut. Was kümmert
es den Jungen von der Waterkant, ob „Rasmus" auch ihn vielleicht einmal
holen wird, wie den Vater, die Brüder, den Nachbar. Er ist ein Kind der
See, denn das Land, auf dem sein Vaterhaus steht, ist von ihr gegeben, und
so gehört er zu ihr. So entwickelt sich überall, wo Schiffer und Fischer


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[0191] Die See in der plattdeutschen Lyrik sich literarisch nicht haben durchsetzen können. Wir müßten, um dies zu erklären, aus Zeitverhältnisse und bestimmte Entwicklungslinien der hochdeutschen Literatur eingehen, ferner auf kurzsichtiges Mißverstehen eingeborener niederdeutscher Literaten, die bis in die Neuzeit eine künstlerische Auffrischung, die z. B. französische Maler für ihre Kunst längst als notwendig erkannt hatten, im Schoße des eigenen Stammes bekämpften (Hermann Allmers). Man erkannte eben nicht, daß in diesen sprachlich manchmal noch unbeholfen ringenden Poesien die Wurzel neuer Dichterkraft faß, Keime, die längst trieben bevor die „Heimatkunst" literarisch verkündet war. In diesem Punkte sind überhaupt die niederdeutschen Stämme, besonders die der Küstenstriche, und ihre Lyrik mit anderen Sondervölkerschaften und ihrer Literatur zusammenzustellen. Stets erscheinen dort Stolz auf Eigenart und Heimatgefühl besonders ausgeprägt. Das Stammesgefühl der Nieder¬ deutschen erkennt man vor allem in der dichterischen Lobpreisung der platt¬ deutschen Sprache. Fast kein niederdeutscher Poet hat sie unbesungen gelassen; Groths unvergleichliches „min Modersprak" löste diesen Ton bei allen späteren aus. Das Heimatgefühl dagegen fand sich früher — jetzt ist es nicht mehr so — in geradezu elementarer Stärke vornehmlich bei den Jnselfriesen, sowie überhaupt bei den Bewohnern der entlegensten, ödesten und rauhesten Gegenden. Das Heimweh der Halligleute war sprichwörtlich und hat seinen ergreifendsten Ausdruck in dem Magnussenschen Gedicht „De Halligmatros" gefunden. Ich setze die erste und letzte Strophe hierher. Es beginnt nun ein Wechselgespräch. Der Kapitän will den Matrosen zurückhalten und schildert ihm die Kleinheit und Verlassenheit der Hallig, und als das nichts nützt, ihre Gefahren. Er schließt mit dem Bericht, daß des Matrosen Schafe und Lämmer, Frau und Kind in einer Sturmflut ertrunken sind und sein Haus fortgespült worden ist, aber der bleibt fest: Wie groß auch die Gefahren der See sind und wie oft sich das Motiv „dieweil" (geblieben) wiederholt: die See lockt Seemannsblut. Was kümmert es den Jungen von der Waterkant, ob „Rasmus" auch ihn vielleicht einmal holen wird, wie den Vater, die Brüder, den Nachbar. Er ist ein Kind der See, denn das Land, auf dem sein Vaterhaus steht, ist von ihr gegeben, und so gehört er zu ihr. So entwickelt sich überall, wo Schiffer und Fischer

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_322400/191>, abgerufen am 15.01.2025.