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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr.

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Die See in der plattdeutschen Lyrik

tümlichen mathematischen Veranlagung niemals eine gemütliche Pflegestätte gehabt,
und so finden wir von poetischen Niederschlägen der Romantik, deren eigent¬
liches Feld sonst die Lyrik ist, kaum Spuren. Wohl aber von dem tiefen Natur¬
gefühl, das die scheinbar so reizlose Landschaft der Marschen, Moore und Küsten
in ihren Kindern auslöst. Man braucht nur eine Prosaschilderung der Eider-
marsch von Klaus Groth zu lesen, um die Bande zu erkennen, die in diesen
Landstrichen Menschen und Natur miteinander verknüpft. Wie aber beseelt sich
diese Natur erst in seinen Gedichten, und wie ist auch hier überall der Salz¬
geschmack der See, das Atmen des Haffs, der geheime plutonische Urgeist zu
spüren, der als zartester elementarer Duft ihren Poren entströmt. So kann
man mit Recht sagen: sie sind mittelbar durch das Meer erzeugt. Mitunter
steht die Natur geisterhaft, vom Irdischen losgelöst, für sich selbst da, wie im
Gedicht "Dat Moor". Meistens aber tritt sie in ihren Beziehungen zum
Menschenleben und Menschenschicksal auf. Durch die dezente Farbengebung,
den musikalischen Ton und die wie ein Strom leiser Elegien anmutende
sprachliche Weichheit erinnert Groths Dichtung an die Poesie des stammes¬
verwandten Theodor Storm. Groth hatte ein selbstwüchsiges poetisches Naturell;
darum hat er sich in seiner Lyrik auch niemals von Heine beeinflussen lassen,
obwohl dieser ihn sicher angeregt hat. Ich wenigstens finde Gefühlselemente
der Heineschen Poesie -- der sich ja zu damaliger Zeit kein Dichter ganz ent¬
ziehen konnte -- bei Groth wieder, besonders die packende Stimmungskraft der
Nordseelieder, wenn auch nicht die ihnen eigene traumhafte Süße.

De Fischerrat
Verladen is de Fischerkat,
Tobraken is de Daer,
De grauen Wnggen kamt und gat
Se kund ni mehr dervaer. Se kund ni mehr, so frisch un schön,
As keen se jus ut Has,
Se kund ni mehr, so but to sehn,
As keen de Maar Heras. Verladen fühl de Welt mi an,
Un düster geit dat Meer,
De bilde Maar is ünnergan
Un kund ni mehr hervaer.

Als ein weiteres Beispiel mag auch noch aus einem anderen Grunde die
erste Strophe aus dem Wiegenlied der "Schipperfru" angeführt werden:


Die See in der plattdeutschen Lyrik

tümlichen mathematischen Veranlagung niemals eine gemütliche Pflegestätte gehabt,
und so finden wir von poetischen Niederschlägen der Romantik, deren eigent¬
liches Feld sonst die Lyrik ist, kaum Spuren. Wohl aber von dem tiefen Natur¬
gefühl, das die scheinbar so reizlose Landschaft der Marschen, Moore und Küsten
in ihren Kindern auslöst. Man braucht nur eine Prosaschilderung der Eider-
marsch von Klaus Groth zu lesen, um die Bande zu erkennen, die in diesen
Landstrichen Menschen und Natur miteinander verknüpft. Wie aber beseelt sich
diese Natur erst in seinen Gedichten, und wie ist auch hier überall der Salz¬
geschmack der See, das Atmen des Haffs, der geheime plutonische Urgeist zu
spüren, der als zartester elementarer Duft ihren Poren entströmt. So kann
man mit Recht sagen: sie sind mittelbar durch das Meer erzeugt. Mitunter
steht die Natur geisterhaft, vom Irdischen losgelöst, für sich selbst da, wie im
Gedicht „Dat Moor". Meistens aber tritt sie in ihren Beziehungen zum
Menschenleben und Menschenschicksal auf. Durch die dezente Farbengebung,
den musikalischen Ton und die wie ein Strom leiser Elegien anmutende
sprachliche Weichheit erinnert Groths Dichtung an die Poesie des stammes¬
verwandten Theodor Storm. Groth hatte ein selbstwüchsiges poetisches Naturell;
darum hat er sich in seiner Lyrik auch niemals von Heine beeinflussen lassen,
obwohl dieser ihn sicher angeregt hat. Ich wenigstens finde Gefühlselemente
der Heineschen Poesie — der sich ja zu damaliger Zeit kein Dichter ganz ent¬
ziehen konnte — bei Groth wieder, besonders die packende Stimmungskraft der
Nordseelieder, wenn auch nicht die ihnen eigene traumhafte Süße.

De Fischerrat
Verladen is de Fischerkat,
Tobraken is de Daer,
De grauen Wnggen kamt und gat
Se kund ni mehr dervaer. Se kund ni mehr, so frisch un schön,
As keen se jus ut Has,
Se kund ni mehr, so but to sehn,
As keen de Maar Heras. Verladen fühl de Welt mi an,
Un düster geit dat Meer,
De bilde Maar is ünnergan
Un kund ni mehr hervaer.

Als ein weiteres Beispiel mag auch noch aus einem anderen Grunde die
erste Strophe aus dem Wiegenlied der „Schipperfru" angeführt werden:


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[0188] Die See in der plattdeutschen Lyrik tümlichen mathematischen Veranlagung niemals eine gemütliche Pflegestätte gehabt, und so finden wir von poetischen Niederschlägen der Romantik, deren eigent¬ liches Feld sonst die Lyrik ist, kaum Spuren. Wohl aber von dem tiefen Natur¬ gefühl, das die scheinbar so reizlose Landschaft der Marschen, Moore und Küsten in ihren Kindern auslöst. Man braucht nur eine Prosaschilderung der Eider- marsch von Klaus Groth zu lesen, um die Bande zu erkennen, die in diesen Landstrichen Menschen und Natur miteinander verknüpft. Wie aber beseelt sich diese Natur erst in seinen Gedichten, und wie ist auch hier überall der Salz¬ geschmack der See, das Atmen des Haffs, der geheime plutonische Urgeist zu spüren, der als zartester elementarer Duft ihren Poren entströmt. So kann man mit Recht sagen: sie sind mittelbar durch das Meer erzeugt. Mitunter steht die Natur geisterhaft, vom Irdischen losgelöst, für sich selbst da, wie im Gedicht „Dat Moor". Meistens aber tritt sie in ihren Beziehungen zum Menschenleben und Menschenschicksal auf. Durch die dezente Farbengebung, den musikalischen Ton und die wie ein Strom leiser Elegien anmutende sprachliche Weichheit erinnert Groths Dichtung an die Poesie des stammes¬ verwandten Theodor Storm. Groth hatte ein selbstwüchsiges poetisches Naturell; darum hat er sich in seiner Lyrik auch niemals von Heine beeinflussen lassen, obwohl dieser ihn sicher angeregt hat. Ich wenigstens finde Gefühlselemente der Heineschen Poesie — der sich ja zu damaliger Zeit kein Dichter ganz ent¬ ziehen konnte — bei Groth wieder, besonders die packende Stimmungskraft der Nordseelieder, wenn auch nicht die ihnen eigene traumhafte Süße. De Fischerrat Verladen is de Fischerkat, Tobraken is de Daer, De grauen Wnggen kamt und gat Se kund ni mehr dervaer. Se kund ni mehr, so frisch un schön, As keen se jus ut Has, Se kund ni mehr, so but to sehn, As keen de Maar Heras. Verladen fühl de Welt mi an, Un düster geit dat Meer, De bilde Maar is ünnergan Un kund ni mehr hervaer. Als ein weiteres Beispiel mag auch noch aus einem anderen Grunde die erste Strophe aus dem Wiegenlied der „Schipperfru" angeführt werden:

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_322400/188>, abgerufen am 15.01.2025.