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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr.

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Die See in der plattdeutschen Lyrik

Man kann dies Urteil mit einigen Einschränkungen ruhig gelten lassen: in
der Tat ist die plattdeutsche Sprache nicht nur die Prägerin der nautischen
Technologie vor allem für die Segelschiffahrt gewesen, das mit ihr verbundene,
jetzt allerdings schon greulich mit chinesischem "Pidgin" und anderem exotischen
Mischmasch versetzte Schiffs- und Matrosenplatt ist für Auswanderer und
sonstige Heimatfremdlinge das letzte seelische Band, das sie mit dem Mutterlande
verknüpft. Diese Klänge ertönen in ihnen noch, wenn andere Stimmen aus
dem Vaterlande nicht mehr in ihnen leben.

Auch das Leben des Janmaats vorm Grootmast, des "Fahrensmannes",
des plattdeutschen Matrosen und Schiffers klingt, leider weniger von ihm selbst
als durch stammesgenösftsche Kunstdichter gepflegt, in der neuniederdeutschen Lyrik
wieder. Aber ihre feinsten Töne erwachen darin nicht; die Seele der See
schlummert in vertrauteren, und zugleich in stärkeren Registern der plattdeutschen
Sprache. Die See vermählt sich, in Liebe und Haß, gewährend und verlangend zu¬
gleich, mit der Seele des Plattlands, und dieses seltsame salomisch anmutende Ver¬
hältnis fand, wie die Seele Niederdeutschlands überhaupt, unter allen plattdeutschen
Lyrikern bei Groth seinen feinsten und poetisch vollendetsten Ausdruck. Man
braucht nur das "Oil Bühnen"-Gedicht im "Quickborn" -- vor sechzig Jahren
schenkte Groth dies wundervolle Buch den Deutschen, nicht nur seinen Stammes¬
genossen -- sprechen zu lassen: lebt in ihm nicht die ewig schenkende, ewig
raubende See, die allem durch sie ins Dasein Gerufenen -- Kirchturm, Haus,
Steen, Past, Insel, Beche, Hund, Mensch mit der Laune einer Nacht das Leben
wieder nimmt, dieses seltsam spukhafte, scheinbar nur für drei, sechs, höchstens
zehn Menschengenerationen berechnete Leben des Wattenreichs, wie es uns aus
den Schriften der alten Chronisten mit ihren entsetzlichen "Mandrenke"berichten
entgegenstarrt? Oder man erlebe das weniger bekannte Gedicht "De Flot" mit.
Packt uns die Tücke, mit der das Wattenmeer in Verbindung mit der grauen
Nebelftau den Jäger, den Kraut(Krabben)fischer, den Halligmann zur Hohl¬
ebbezeit in das unentwirrbare Netz ihrer Pricke, Auen und Tiefe verstrickt,
nicht mit Polypenarmen, schüttelt uns das Grauen, mit dem der in hundert
Schlangenleibern heranschleichende Tod seinen Opfern langsam zum Herzen
hinaufkriecht, nicht mit Fäusten? Sieht man sie nicht laufen, hört man nicht
das Zischen der See gegen ihre Leiber:

Wi lepen längs den matten Sand
In Drap, de Bussen inno Hand,
Man jümmer längs de flacksten Stellen I
Man jümmer vorwärts as de WellenI
De eersten weern all lang ut Sicht,
Noch jümmer nie dicht an dicht,
Wi lepen as de Schum un Blasen,
Wi lepen as vaern Hund de Hasen,
Un mit de Mewen, de der Schreger,
Un mit de Waggen, de der siegen --

Die See in der plattdeutschen Lyrik

Man kann dies Urteil mit einigen Einschränkungen ruhig gelten lassen: in
der Tat ist die plattdeutsche Sprache nicht nur die Prägerin der nautischen
Technologie vor allem für die Segelschiffahrt gewesen, das mit ihr verbundene,
jetzt allerdings schon greulich mit chinesischem „Pidgin" und anderem exotischen
Mischmasch versetzte Schiffs- und Matrosenplatt ist für Auswanderer und
sonstige Heimatfremdlinge das letzte seelische Band, das sie mit dem Mutterlande
verknüpft. Diese Klänge ertönen in ihnen noch, wenn andere Stimmen aus
dem Vaterlande nicht mehr in ihnen leben.

Auch das Leben des Janmaats vorm Grootmast, des „Fahrensmannes",
des plattdeutschen Matrosen und Schiffers klingt, leider weniger von ihm selbst
als durch stammesgenösftsche Kunstdichter gepflegt, in der neuniederdeutschen Lyrik
wieder. Aber ihre feinsten Töne erwachen darin nicht; die Seele der See
schlummert in vertrauteren, und zugleich in stärkeren Registern der plattdeutschen
Sprache. Die See vermählt sich, in Liebe und Haß, gewährend und verlangend zu¬
gleich, mit der Seele des Plattlands, und dieses seltsame salomisch anmutende Ver¬
hältnis fand, wie die Seele Niederdeutschlands überhaupt, unter allen plattdeutschen
Lyrikern bei Groth seinen feinsten und poetisch vollendetsten Ausdruck. Man
braucht nur das „Oil Bühnen"-Gedicht im „Quickborn" — vor sechzig Jahren
schenkte Groth dies wundervolle Buch den Deutschen, nicht nur seinen Stammes¬
genossen — sprechen zu lassen: lebt in ihm nicht die ewig schenkende, ewig
raubende See, die allem durch sie ins Dasein Gerufenen — Kirchturm, Haus,
Steen, Past, Insel, Beche, Hund, Mensch mit der Laune einer Nacht das Leben
wieder nimmt, dieses seltsam spukhafte, scheinbar nur für drei, sechs, höchstens
zehn Menschengenerationen berechnete Leben des Wattenreichs, wie es uns aus
den Schriften der alten Chronisten mit ihren entsetzlichen „Mandrenke"berichten
entgegenstarrt? Oder man erlebe das weniger bekannte Gedicht „De Flot" mit.
Packt uns die Tücke, mit der das Wattenmeer in Verbindung mit der grauen
Nebelftau den Jäger, den Kraut(Krabben)fischer, den Halligmann zur Hohl¬
ebbezeit in das unentwirrbare Netz ihrer Pricke, Auen und Tiefe verstrickt,
nicht mit Polypenarmen, schüttelt uns das Grauen, mit dem der in hundert
Schlangenleibern heranschleichende Tod seinen Opfern langsam zum Herzen
hinaufkriecht, nicht mit Fäusten? Sieht man sie nicht laufen, hört man nicht
das Zischen der See gegen ihre Leiber:

Wi lepen längs den matten Sand
In Drap, de Bussen inno Hand,
Man jümmer längs de flacksten Stellen I
Man jümmer vorwärts as de WellenI
De eersten weern all lang ut Sicht,
Noch jümmer nie dicht an dicht,
Wi lepen as de Schum un Blasen,
Wi lepen as vaern Hund de Hasen,
Un mit de Mewen, de der Schreger,
Un mit de Waggen, de der siegen —

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[0185] Die See in der plattdeutschen Lyrik Man kann dies Urteil mit einigen Einschränkungen ruhig gelten lassen: in der Tat ist die plattdeutsche Sprache nicht nur die Prägerin der nautischen Technologie vor allem für die Segelschiffahrt gewesen, das mit ihr verbundene, jetzt allerdings schon greulich mit chinesischem „Pidgin" und anderem exotischen Mischmasch versetzte Schiffs- und Matrosenplatt ist für Auswanderer und sonstige Heimatfremdlinge das letzte seelische Band, das sie mit dem Mutterlande verknüpft. Diese Klänge ertönen in ihnen noch, wenn andere Stimmen aus dem Vaterlande nicht mehr in ihnen leben. Auch das Leben des Janmaats vorm Grootmast, des „Fahrensmannes", des plattdeutschen Matrosen und Schiffers klingt, leider weniger von ihm selbst als durch stammesgenösftsche Kunstdichter gepflegt, in der neuniederdeutschen Lyrik wieder. Aber ihre feinsten Töne erwachen darin nicht; die Seele der See schlummert in vertrauteren, und zugleich in stärkeren Registern der plattdeutschen Sprache. Die See vermählt sich, in Liebe und Haß, gewährend und verlangend zu¬ gleich, mit der Seele des Plattlands, und dieses seltsame salomisch anmutende Ver¬ hältnis fand, wie die Seele Niederdeutschlands überhaupt, unter allen plattdeutschen Lyrikern bei Groth seinen feinsten und poetisch vollendetsten Ausdruck. Man braucht nur das „Oil Bühnen"-Gedicht im „Quickborn" — vor sechzig Jahren schenkte Groth dies wundervolle Buch den Deutschen, nicht nur seinen Stammes¬ genossen — sprechen zu lassen: lebt in ihm nicht die ewig schenkende, ewig raubende See, die allem durch sie ins Dasein Gerufenen — Kirchturm, Haus, Steen, Past, Insel, Beche, Hund, Mensch mit der Laune einer Nacht das Leben wieder nimmt, dieses seltsam spukhafte, scheinbar nur für drei, sechs, höchstens zehn Menschengenerationen berechnete Leben des Wattenreichs, wie es uns aus den Schriften der alten Chronisten mit ihren entsetzlichen „Mandrenke"berichten entgegenstarrt? Oder man erlebe das weniger bekannte Gedicht „De Flot" mit. Packt uns die Tücke, mit der das Wattenmeer in Verbindung mit der grauen Nebelftau den Jäger, den Kraut(Krabben)fischer, den Halligmann zur Hohl¬ ebbezeit in das unentwirrbare Netz ihrer Pricke, Auen und Tiefe verstrickt, nicht mit Polypenarmen, schüttelt uns das Grauen, mit dem der in hundert Schlangenleibern heranschleichende Tod seinen Opfern langsam zum Herzen hinaufkriecht, nicht mit Fäusten? Sieht man sie nicht laufen, hört man nicht das Zischen der See gegen ihre Leiber: Wi lepen längs den matten Sand In Drap, de Bussen inno Hand, Man jümmer längs de flacksten Stellen I Man jümmer vorwärts as de WellenI De eersten weern all lang ut Sicht, Noch jümmer nie dicht an dicht, Wi lepen as de Schum un Blasen, Wi lepen as vaern Hund de Hasen, Un mit de Mewen, de der Schreger, Un mit de Waggen, de der siegen —

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_322400/185>, abgerufen am 15.01.2025.