Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Freiherr vo" Marschall

Bismarcks Entlassung und die damit zusammenhängenden Ereignisse jede Be¬
sonnenheit eingebüßt hatten, -- erschien es schon als ein Verbrechen, daß sich
jemand dazu hergab, dem "neuen Kurse" seine Kraft zur Verfügung zu stellen.
Es waren die Zeiten, die vorhin erwähnt wurden: man verhöhnte den "Staats¬
anwalt", der an Bismarcks Stelle auswärtige Politik treibe. Man fand alles
klein, töricht und schwankend, was die neuen Männer anfingen, so wie vorher
alles groß, klug und fest gewesen war. Der Vorwurf war in mehr als einem
Punkte begründet; es war in der Tat eine unselige Übergangszeit. Aber die
Ungerechtigkeit und Übertreibung lag in der summarischen Verurteilung, der
unterschiedslosen Vermengung aller politischen Erscheinungen und persönlichen
Momente, die in dem Begriff "neuer Kurs" zusammengefaßt wurden. Viele
gaben sich gar nicht die Mühe, zu untersuchen, was unvermeidliche Folge der
Vergangenheit und was willkürlich herbeigeführt war; sie vergaßen das Beobachtete
nach Ursache und Wirkung zu ordnen, den tatsächlichen Veränderungen der Lage
Rechnung zu tragen, Persönliches und sachliches zu trennen. Marschall ist allen
diesen Anfeindungen gegenüber ruhig und sicher seinen Weg gegangen, selbst
unermüdlich arbeitend und lernend und so immer reicher die Fülle seiner Gaben
entfaltend.

Ernster war natürlich die Gegnerschaft, die ihm aus sachlichen Bedenken
gegen die von ihm vertretene Politik erwuchs, und hier waren es vor allem
die Handelsverträge, die ihm die erbitterte Opposition seiner ehemaligen Partei¬
freunde eintrugen. Will man aber Marschalls persönlichen Anteil an dieser
Politik -- mag man ihn nun Verdienst oder Schuld nennen -- richtig ein¬
schätzen, so darf man nicht vergessen, daß er erstens die grundlegenden Ent¬
schlüsse dieser Politik nicht zu verantworten hatte, und daß er zweitens eine
handelspolitische Situation vorfand, an der er nichts Wesentliches ändern
konnte und aus der er nur nach Möglichkeit die Vorteile herausholen mußte,
die zur Erreichung des ihm einmal vorgezeichneten Zieles führten. Es ist
müßig, die Frage aufzuwerfen, wie Marschall wohl gehandelt haben würde,
wenn er damals selbständig und mit voller Verantwortung der deutschen
Handelspolitik hätte die Richtung geben können. Es genügt, zu wissen, daß er
die Aufgabe, die ihm seine Stellung als Staatssekretär zuwies, mit Geschicklichkeit
und Entschiedenheit durchführte, wie es ihm seine Pflicht gebot. Was
ihn davon hätte abhalten können, wäre nur die Überzeugung von der Ver¬
kehrtheit der Grundgedanken dieser Politik gewesen. Daß er diese Überzeugung
nicht besaß, daß er im Gegenteil die Grundgedanken der Handelsvertrags¬
politik billigte, steht außer Zweifel. Aber damit wurde er seiner ursprünglichen
politischen Richtung keineswegs untreu. Denn jene Politik wäre wohl mit den
konservativen Wünschen und Bedürfnissen in Einklang zu bringen gewesen,
wenn nicht die begleitenden Umstände in Anschauungen, Begründungen und
Maßnahmen -- Fehler, die auf das persönliche Konto des damaligen Reichs¬
kanzlers Grafen Caprivi fallen, -- einen für lange Zeit unheilbaren Riß


Freiherr vo» Marschall

Bismarcks Entlassung und die damit zusammenhängenden Ereignisse jede Be¬
sonnenheit eingebüßt hatten, — erschien es schon als ein Verbrechen, daß sich
jemand dazu hergab, dem „neuen Kurse" seine Kraft zur Verfügung zu stellen.
Es waren die Zeiten, die vorhin erwähnt wurden: man verhöhnte den „Staats¬
anwalt", der an Bismarcks Stelle auswärtige Politik treibe. Man fand alles
klein, töricht und schwankend, was die neuen Männer anfingen, so wie vorher
alles groß, klug und fest gewesen war. Der Vorwurf war in mehr als einem
Punkte begründet; es war in der Tat eine unselige Übergangszeit. Aber die
Ungerechtigkeit und Übertreibung lag in der summarischen Verurteilung, der
unterschiedslosen Vermengung aller politischen Erscheinungen und persönlichen
Momente, die in dem Begriff „neuer Kurs" zusammengefaßt wurden. Viele
gaben sich gar nicht die Mühe, zu untersuchen, was unvermeidliche Folge der
Vergangenheit und was willkürlich herbeigeführt war; sie vergaßen das Beobachtete
nach Ursache und Wirkung zu ordnen, den tatsächlichen Veränderungen der Lage
Rechnung zu tragen, Persönliches und sachliches zu trennen. Marschall ist allen
diesen Anfeindungen gegenüber ruhig und sicher seinen Weg gegangen, selbst
unermüdlich arbeitend und lernend und so immer reicher die Fülle seiner Gaben
entfaltend.

Ernster war natürlich die Gegnerschaft, die ihm aus sachlichen Bedenken
gegen die von ihm vertretene Politik erwuchs, und hier waren es vor allem
die Handelsverträge, die ihm die erbitterte Opposition seiner ehemaligen Partei¬
freunde eintrugen. Will man aber Marschalls persönlichen Anteil an dieser
Politik — mag man ihn nun Verdienst oder Schuld nennen — richtig ein¬
schätzen, so darf man nicht vergessen, daß er erstens die grundlegenden Ent¬
schlüsse dieser Politik nicht zu verantworten hatte, und daß er zweitens eine
handelspolitische Situation vorfand, an der er nichts Wesentliches ändern
konnte und aus der er nur nach Möglichkeit die Vorteile herausholen mußte,
die zur Erreichung des ihm einmal vorgezeichneten Zieles führten. Es ist
müßig, die Frage aufzuwerfen, wie Marschall wohl gehandelt haben würde,
wenn er damals selbständig und mit voller Verantwortung der deutschen
Handelspolitik hätte die Richtung geben können. Es genügt, zu wissen, daß er
die Aufgabe, die ihm seine Stellung als Staatssekretär zuwies, mit Geschicklichkeit
und Entschiedenheit durchführte, wie es ihm seine Pflicht gebot. Was
ihn davon hätte abhalten können, wäre nur die Überzeugung von der Ver¬
kehrtheit der Grundgedanken dieser Politik gewesen. Daß er diese Überzeugung
nicht besaß, daß er im Gegenteil die Grundgedanken der Handelsvertrags¬
politik billigte, steht außer Zweifel. Aber damit wurde er seiner ursprünglichen
politischen Richtung keineswegs untreu. Denn jene Politik wäre wohl mit den
konservativen Wünschen und Bedürfnissen in Einklang zu bringen gewesen,
wenn nicht die begleitenden Umstände in Anschauungen, Begründungen und
Maßnahmen — Fehler, die auf das persönliche Konto des damaligen Reichs¬
kanzlers Grafen Caprivi fallen, — einen für lange Zeit unheilbaren Riß


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0018" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/322419"/>
          <fw type="header" place="top"> Freiherr vo» Marschall</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_20" prev="#ID_19"> Bismarcks Entlassung und die damit zusammenhängenden Ereignisse jede Be¬<lb/>
sonnenheit eingebüßt hatten, &#x2014; erschien es schon als ein Verbrechen, daß sich<lb/>
jemand dazu hergab, dem &#x201E;neuen Kurse" seine Kraft zur Verfügung zu stellen.<lb/>
Es waren die Zeiten, die vorhin erwähnt wurden: man verhöhnte den &#x201E;Staats¬<lb/>
anwalt", der an Bismarcks Stelle auswärtige Politik treibe. Man fand alles<lb/>
klein, töricht und schwankend, was die neuen Männer anfingen, so wie vorher<lb/>
alles groß, klug und fest gewesen war. Der Vorwurf war in mehr als einem<lb/>
Punkte begründet; es war in der Tat eine unselige Übergangszeit. Aber die<lb/>
Ungerechtigkeit und Übertreibung lag in der summarischen Verurteilung, der<lb/>
unterschiedslosen Vermengung aller politischen Erscheinungen und persönlichen<lb/>
Momente, die in dem Begriff &#x201E;neuer Kurs" zusammengefaßt wurden. Viele<lb/>
gaben sich gar nicht die Mühe, zu untersuchen, was unvermeidliche Folge der<lb/>
Vergangenheit und was willkürlich herbeigeführt war; sie vergaßen das Beobachtete<lb/>
nach Ursache und Wirkung zu ordnen, den tatsächlichen Veränderungen der Lage<lb/>
Rechnung zu tragen, Persönliches und sachliches zu trennen. Marschall ist allen<lb/>
diesen Anfeindungen gegenüber ruhig und sicher seinen Weg gegangen, selbst<lb/>
unermüdlich arbeitend und lernend und so immer reicher die Fülle seiner Gaben<lb/>
entfaltend.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_21" next="#ID_22"> Ernster war natürlich die Gegnerschaft, die ihm aus sachlichen Bedenken<lb/>
gegen die von ihm vertretene Politik erwuchs, und hier waren es vor allem<lb/>
die Handelsverträge, die ihm die erbitterte Opposition seiner ehemaligen Partei¬<lb/>
freunde eintrugen. Will man aber Marschalls persönlichen Anteil an dieser<lb/>
Politik &#x2014; mag man ihn nun Verdienst oder Schuld nennen &#x2014; richtig ein¬<lb/>
schätzen, so darf man nicht vergessen, daß er erstens die grundlegenden Ent¬<lb/>
schlüsse dieser Politik nicht zu verantworten hatte, und daß er zweitens eine<lb/>
handelspolitische Situation vorfand, an der er nichts Wesentliches ändern<lb/>
konnte und aus der er nur nach Möglichkeit die Vorteile herausholen mußte,<lb/>
die zur Erreichung des ihm einmal vorgezeichneten Zieles führten. Es ist<lb/>
müßig, die Frage aufzuwerfen, wie Marschall wohl gehandelt haben würde,<lb/>
wenn er damals selbständig und mit voller Verantwortung der deutschen<lb/>
Handelspolitik hätte die Richtung geben können. Es genügt, zu wissen, daß er<lb/>
die Aufgabe, die ihm seine Stellung als Staatssekretär zuwies, mit Geschicklichkeit<lb/>
und Entschiedenheit durchführte, wie es ihm seine Pflicht gebot. Was<lb/>
ihn davon hätte abhalten können, wäre nur die Überzeugung von der Ver¬<lb/>
kehrtheit der Grundgedanken dieser Politik gewesen. Daß er diese Überzeugung<lb/>
nicht besaß, daß er im Gegenteil die Grundgedanken der Handelsvertrags¬<lb/>
politik billigte, steht außer Zweifel. Aber damit wurde er seiner ursprünglichen<lb/>
politischen Richtung keineswegs untreu. Denn jene Politik wäre wohl mit den<lb/>
konservativen Wünschen und Bedürfnissen in Einklang zu bringen gewesen,<lb/>
wenn nicht die begleitenden Umstände in Anschauungen, Begründungen und<lb/>
Maßnahmen &#x2014; Fehler, die auf das persönliche Konto des damaligen Reichs¬<lb/>
kanzlers Grafen Caprivi fallen, &#x2014; einen für lange Zeit unheilbaren Riß</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0018] Freiherr vo» Marschall Bismarcks Entlassung und die damit zusammenhängenden Ereignisse jede Be¬ sonnenheit eingebüßt hatten, — erschien es schon als ein Verbrechen, daß sich jemand dazu hergab, dem „neuen Kurse" seine Kraft zur Verfügung zu stellen. Es waren die Zeiten, die vorhin erwähnt wurden: man verhöhnte den „Staats¬ anwalt", der an Bismarcks Stelle auswärtige Politik treibe. Man fand alles klein, töricht und schwankend, was die neuen Männer anfingen, so wie vorher alles groß, klug und fest gewesen war. Der Vorwurf war in mehr als einem Punkte begründet; es war in der Tat eine unselige Übergangszeit. Aber die Ungerechtigkeit und Übertreibung lag in der summarischen Verurteilung, der unterschiedslosen Vermengung aller politischen Erscheinungen und persönlichen Momente, die in dem Begriff „neuer Kurs" zusammengefaßt wurden. Viele gaben sich gar nicht die Mühe, zu untersuchen, was unvermeidliche Folge der Vergangenheit und was willkürlich herbeigeführt war; sie vergaßen das Beobachtete nach Ursache und Wirkung zu ordnen, den tatsächlichen Veränderungen der Lage Rechnung zu tragen, Persönliches und sachliches zu trennen. Marschall ist allen diesen Anfeindungen gegenüber ruhig und sicher seinen Weg gegangen, selbst unermüdlich arbeitend und lernend und so immer reicher die Fülle seiner Gaben entfaltend. Ernster war natürlich die Gegnerschaft, die ihm aus sachlichen Bedenken gegen die von ihm vertretene Politik erwuchs, und hier waren es vor allem die Handelsverträge, die ihm die erbitterte Opposition seiner ehemaligen Partei¬ freunde eintrugen. Will man aber Marschalls persönlichen Anteil an dieser Politik — mag man ihn nun Verdienst oder Schuld nennen — richtig ein¬ schätzen, so darf man nicht vergessen, daß er erstens die grundlegenden Ent¬ schlüsse dieser Politik nicht zu verantworten hatte, und daß er zweitens eine handelspolitische Situation vorfand, an der er nichts Wesentliches ändern konnte und aus der er nur nach Möglichkeit die Vorteile herausholen mußte, die zur Erreichung des ihm einmal vorgezeichneten Zieles führten. Es ist müßig, die Frage aufzuwerfen, wie Marschall wohl gehandelt haben würde, wenn er damals selbständig und mit voller Verantwortung der deutschen Handelspolitik hätte die Richtung geben können. Es genügt, zu wissen, daß er die Aufgabe, die ihm seine Stellung als Staatssekretär zuwies, mit Geschicklichkeit und Entschiedenheit durchführte, wie es ihm seine Pflicht gebot. Was ihn davon hätte abhalten können, wäre nur die Überzeugung von der Ver¬ kehrtheit der Grundgedanken dieser Politik gewesen. Daß er diese Überzeugung nicht besaß, daß er im Gegenteil die Grundgedanken der Handelsvertrags¬ politik billigte, steht außer Zweifel. Aber damit wurde er seiner ursprünglichen politischen Richtung keineswegs untreu. Denn jene Politik wäre wohl mit den konservativen Wünschen und Bedürfnissen in Einklang zu bringen gewesen, wenn nicht die begleitenden Umstände in Anschauungen, Begründungen und Maßnahmen — Fehler, die auf das persönliche Konto des damaligen Reichs¬ kanzlers Grafen Caprivi fallen, — einen für lange Zeit unheilbaren Riß

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_322400
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_322400/18
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_322400/18>, abgerufen am 15.01.2025.