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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr.

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"V/e v-me iäeals!"

vorbildlicher Schriftsteller, während das laut angepriesene Neue eine sichere
Auswahl verlangt; jene verleihen reiche Geistesbildung und halten uns in stetem
Zusammenhange mit den großen Geistern aller Zeiten (Starr, Rechtsanwalt,
Chicago). Mehr als moderne Sprachen, Mathematik und Naturwissenschaften
gibt der klassische Unterricht dem zukünftigen Anwalt, der mit geisteinengenden
Interessen zu tun hat, Weite des Blicks und generalisierendes Denken in mensch¬
lichen Angelegenheiten. Die alten Sprachen haben vor den fließenden, oft
nachlässige Wendungen gebrauchenden modernen den Vorzug der Regelmäßigkeit
und Unveränderlichkeit, wenden sich mehr als jene an den Verstand als an das
Gefühl, fördern die Kenntnis des Englischen, dem sie so viel Lehnworte geliefert
haben, und vermitteln endlich die Kenntnis des römischen Rechts, nach dem in
fast allen Staaten der Union und in England Deszendenz und Erbschaftsrecht
beurteilt werden. So unleugbar die Bedeutung der Mathematik ist, so geben
doch Sprachen und Literatur, indem sie die Beziehungen nicht nur der Zahlen,
sondern auch des Lebens und die Gesetze der Lebensführung zum Ausdruck
bringen, einen weiteren Blick als die Mathematik. Wohl schärfen die Natur¬
wissenschaften die Beobachtung und übermitteln ein wertvolles Wissen, aber
naturwissenschaftliche Schulung entwickelt nicht das Vermögen zur Ableitung
abstrakter Lebensregeln, weil dort das sinnliche Interesse das Denkinteresse
überwiegt. Die Bestimmung des Sinnes von Gesetzestexten ist eine der praktisch
wichtigsten Ausgaben des Rechtsgelehrten: darin übt er sich am besten durch
Interpretation der Klassiker (Evans, Rechtsanwalt, Chicago).

Wir kommen zu den Ingenieuren. Für die Berufsbildung des Ingenieurs
ist in Amerika viel geschrieben und viel getan, aber wenig für seine allgemeine
Bildung. Wie auf anderen gelehrten Gebieten herrscht in der Abteilung für
Jngenieurwissenschaft der Militärische Geist vor. Heutzutage tauchen für den
Ingenieur Probleme auf, die zu ihrer Lösung mehr als praktische Erfahrung
verlangen: man fragt jetzt nach gebildeten Männern. Der Ingenieur hat den
Kommunen gegenüber eine schwere Verantwortung; mit allerlei Volk muß er
auszukommen verstehen; er braucht Bestimmtheit des Denkens, Klarheit des
Ausdrucks: alles lernt er durch die Humaniora. Die Hälfte der Zeit, die das
Englische jetzt im Lehrplan beansprucht, würde man mit Gewinn für das
Lateinische verwenden, ja auch nur zwei Jahre Lateinstudium sind schließlich
besser als nichts (Satler, Professor der Marineingenieurkunde, Michigan). Der
Ingenieur muß Wissenschaftler sein, er muß nicht nur wissen "wie?", sondern
auch "warum?"; er muß ein Meister der Sprache sein: Englisch kann man
aber nur verstehen, wenn man Latein kann. Man studiert dies natürlich nicht,
um es zu sprechen: seinen Bau will man kennen lernen und mit seiner Hilfe
den der Muttersprache, Fülle und Leichtigkeit des Ausdrucks. Freilich tüchtige
Arbeit sollen die jungen Leute auf den Colleges lernen: aber sie möchten dort
gepäppelt werden und nicht selbständig eindringen. Auf die Tatsachen kommt
es weniger an als darauf, den Geist des Schülers zu entwickeln und richtung-


„V/e v-me iäeals!"

vorbildlicher Schriftsteller, während das laut angepriesene Neue eine sichere
Auswahl verlangt; jene verleihen reiche Geistesbildung und halten uns in stetem
Zusammenhange mit den großen Geistern aller Zeiten (Starr, Rechtsanwalt,
Chicago). Mehr als moderne Sprachen, Mathematik und Naturwissenschaften
gibt der klassische Unterricht dem zukünftigen Anwalt, der mit geisteinengenden
Interessen zu tun hat, Weite des Blicks und generalisierendes Denken in mensch¬
lichen Angelegenheiten. Die alten Sprachen haben vor den fließenden, oft
nachlässige Wendungen gebrauchenden modernen den Vorzug der Regelmäßigkeit
und Unveränderlichkeit, wenden sich mehr als jene an den Verstand als an das
Gefühl, fördern die Kenntnis des Englischen, dem sie so viel Lehnworte geliefert
haben, und vermitteln endlich die Kenntnis des römischen Rechts, nach dem in
fast allen Staaten der Union und in England Deszendenz und Erbschaftsrecht
beurteilt werden. So unleugbar die Bedeutung der Mathematik ist, so geben
doch Sprachen und Literatur, indem sie die Beziehungen nicht nur der Zahlen,
sondern auch des Lebens und die Gesetze der Lebensführung zum Ausdruck
bringen, einen weiteren Blick als die Mathematik. Wohl schärfen die Natur¬
wissenschaften die Beobachtung und übermitteln ein wertvolles Wissen, aber
naturwissenschaftliche Schulung entwickelt nicht das Vermögen zur Ableitung
abstrakter Lebensregeln, weil dort das sinnliche Interesse das Denkinteresse
überwiegt. Die Bestimmung des Sinnes von Gesetzestexten ist eine der praktisch
wichtigsten Ausgaben des Rechtsgelehrten: darin übt er sich am besten durch
Interpretation der Klassiker (Evans, Rechtsanwalt, Chicago).

Wir kommen zu den Ingenieuren. Für die Berufsbildung des Ingenieurs
ist in Amerika viel geschrieben und viel getan, aber wenig für seine allgemeine
Bildung. Wie auf anderen gelehrten Gebieten herrscht in der Abteilung für
Jngenieurwissenschaft der Militärische Geist vor. Heutzutage tauchen für den
Ingenieur Probleme auf, die zu ihrer Lösung mehr als praktische Erfahrung
verlangen: man fragt jetzt nach gebildeten Männern. Der Ingenieur hat den
Kommunen gegenüber eine schwere Verantwortung; mit allerlei Volk muß er
auszukommen verstehen; er braucht Bestimmtheit des Denkens, Klarheit des
Ausdrucks: alles lernt er durch die Humaniora. Die Hälfte der Zeit, die das
Englische jetzt im Lehrplan beansprucht, würde man mit Gewinn für das
Lateinische verwenden, ja auch nur zwei Jahre Lateinstudium sind schließlich
besser als nichts (Satler, Professor der Marineingenieurkunde, Michigan). Der
Ingenieur muß Wissenschaftler sein, er muß nicht nur wissen „wie?", sondern
auch „warum?"; er muß ein Meister der Sprache sein: Englisch kann man
aber nur verstehen, wenn man Latein kann. Man studiert dies natürlich nicht,
um es zu sprechen: seinen Bau will man kennen lernen und mit seiner Hilfe
den der Muttersprache, Fülle und Leichtigkeit des Ausdrucks. Freilich tüchtige
Arbeit sollen die jungen Leute auf den Colleges lernen: aber sie möchten dort
gepäppelt werden und nicht selbständig eindringen. Auf die Tatsachen kommt
es weniger an als darauf, den Geist des Schülers zu entwickeln und richtung-


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[0174] „V/e v-me iäeals!" vorbildlicher Schriftsteller, während das laut angepriesene Neue eine sichere Auswahl verlangt; jene verleihen reiche Geistesbildung und halten uns in stetem Zusammenhange mit den großen Geistern aller Zeiten (Starr, Rechtsanwalt, Chicago). Mehr als moderne Sprachen, Mathematik und Naturwissenschaften gibt der klassische Unterricht dem zukünftigen Anwalt, der mit geisteinengenden Interessen zu tun hat, Weite des Blicks und generalisierendes Denken in mensch¬ lichen Angelegenheiten. Die alten Sprachen haben vor den fließenden, oft nachlässige Wendungen gebrauchenden modernen den Vorzug der Regelmäßigkeit und Unveränderlichkeit, wenden sich mehr als jene an den Verstand als an das Gefühl, fördern die Kenntnis des Englischen, dem sie so viel Lehnworte geliefert haben, und vermitteln endlich die Kenntnis des römischen Rechts, nach dem in fast allen Staaten der Union und in England Deszendenz und Erbschaftsrecht beurteilt werden. So unleugbar die Bedeutung der Mathematik ist, so geben doch Sprachen und Literatur, indem sie die Beziehungen nicht nur der Zahlen, sondern auch des Lebens und die Gesetze der Lebensführung zum Ausdruck bringen, einen weiteren Blick als die Mathematik. Wohl schärfen die Natur¬ wissenschaften die Beobachtung und übermitteln ein wertvolles Wissen, aber naturwissenschaftliche Schulung entwickelt nicht das Vermögen zur Ableitung abstrakter Lebensregeln, weil dort das sinnliche Interesse das Denkinteresse überwiegt. Die Bestimmung des Sinnes von Gesetzestexten ist eine der praktisch wichtigsten Ausgaben des Rechtsgelehrten: darin übt er sich am besten durch Interpretation der Klassiker (Evans, Rechtsanwalt, Chicago). Wir kommen zu den Ingenieuren. Für die Berufsbildung des Ingenieurs ist in Amerika viel geschrieben und viel getan, aber wenig für seine allgemeine Bildung. Wie auf anderen gelehrten Gebieten herrscht in der Abteilung für Jngenieurwissenschaft der Militärische Geist vor. Heutzutage tauchen für den Ingenieur Probleme auf, die zu ihrer Lösung mehr als praktische Erfahrung verlangen: man fragt jetzt nach gebildeten Männern. Der Ingenieur hat den Kommunen gegenüber eine schwere Verantwortung; mit allerlei Volk muß er auszukommen verstehen; er braucht Bestimmtheit des Denkens, Klarheit des Ausdrucks: alles lernt er durch die Humaniora. Die Hälfte der Zeit, die das Englische jetzt im Lehrplan beansprucht, würde man mit Gewinn für das Lateinische verwenden, ja auch nur zwei Jahre Lateinstudium sind schließlich besser als nichts (Satler, Professor der Marineingenieurkunde, Michigan). Der Ingenieur muß Wissenschaftler sein, er muß nicht nur wissen „wie?", sondern auch „warum?"; er muß ein Meister der Sprache sein: Englisch kann man aber nur verstehen, wenn man Latein kann. Man studiert dies natürlich nicht, um es zu sprechen: seinen Bau will man kennen lernen und mit seiner Hilfe den der Muttersprache, Fülle und Leichtigkeit des Ausdrucks. Freilich tüchtige Arbeit sollen die jungen Leute auf den Colleges lernen: aber sie möchten dort gepäppelt werden und nicht selbständig eindringen. Auf die Tatsachen kommt es weniger an als darauf, den Geist des Schülers zu entwickeln und richtung-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_322400/174>, abgerufen am 15.01.2025.