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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr.

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Die politische Entwicklung Elsaß-Lothringens

Kammer, diese zu bevorzugen, so bereitwillig nachzukommen. So ist man über
das, was die Erste Kammer zu leisten vermag, heute noch ganz im Unklaren
und muß befürchten, daß sie sich in: Falle eines Konfliktes mit der Zweiten
Kammer aus ihrer Aschenbrödelstellung selbst nicht mehr herauswagt. Dabei
würde die größere Unabhängigkeit, welche die Erste Kammer schon deswegen
besitzt, weil ihre Mitglieder nicht in derselben Weise wie die der Zweiten sich
jeder Stimmungsnnance bestimmter Wählerkreise anzupassen brauchen, sie gerade
zur objektiven Beratung solcher Gesetzentwürfe wie der Beamten- und Lehrer-
bcsoldungsvorlage besonders befähigt haben. Statt aber der Ersten Kammer
ihre verfassungsmäßigen Rechte von vornherein in vollem Umfange zukommen
zu lassen, der Zweiten Kammer dadurch die Grenzen ihrer Macht zu zeigen und
in der Bevölkerung die Erkenntnis zu wecken, daß sie mit der Förderung einer
allzu radikalen und antigouvernementalen Stimmung in der Zweiten Kammer
ihre eigenen Interessen in keiner Weise fördert, hat die Negierung ihre ganze
Aufmerksamkeit der Zweiten Kammer zugewandt und deren Bedeutung für
die Wählerschaft noch künstlich erhöht mit dem Erfolge, daß die Mehrheit der
Zweiten Kammer der Negierung ihren Willen aufzwingen zu können meint und
die Regierung sich tatsächlich in einer wenig beneidenswerten Lage befindet.

Diese ungünstigen Wirkungen der Verfassungs- und Wahlrechtsreform waren
nicht vorauszusehen. Nachdem sie aber eingetreten waren, mußte versucht werden,
sie wieder zu beseitigen oder doch abzuschwächen. Und wie die Verkehrung der
erhofften günstigen Folgen der Reform in das Gegenteil aus dem parteipolitischer
Leben des Landes hervorgegangen war, so mußte auch das Mittel, die neue
Verfassung in gesünderer Weise dem Lande nutzbar zu machen, in partei¬
politischer Maßnahmen gefunden werden. Den unmittelbaren Anstoß, eine neue
Partei in Elsaß - Lothringen zu gründen, gab das Eingehen der Liberalen
Landespartei und die Bildung der demokratischen Eisässischen Fortschrittspartei.
In dieser Organisation war für den gemäßigten Liberalismus, der in der
Landespartei eine, wie kaum bestritten werden kann, sehr eifrige und nutz¬
bringende Tätigkeit entfaltet hatte, kein Platz mehr. Und noch viel weniger
konnten sich ihr die freikonservatioen Kreise anschließen, die der Liberalen
Landespartei gern Wahlhilfe geleistet hatten. Aus all diesen heimatlos gewordenen
Alt- und Neu-Elsässern bildete sich vor ein paar Monaten unter heftigen Aus¬
einandersetzungen mit der Elsässischen Fortschrittspartei eine Elsaß-Lothringische
Mittelpartei. Sie will im Gegensatz zu den anderen Parteien, die auf
nationalistische und demokratische Strömungen Rücksicht nehmen und sich
daher hnperpartikularistisch geben müssen, besonders auch den großen natio¬
nalen Aufgaben des Reiches ihre Aufmerksamkeit zuwenden, den engen
Zusammenhang zwischen Elsaß - Lothringen und dem Reiche pflegen und
den Ausbau der staatsrechtlichen Selbständigkeit des Landes auf monarchischer
Grundlage fördern. Als eine deutsch-elsaß-lothringische Partei der niittleren
Linie wendet sie sich mit Entschiedenheit gegen Nationalisten, Sozial-


Die politische Entwicklung Elsaß-Lothringens

Kammer, diese zu bevorzugen, so bereitwillig nachzukommen. So ist man über
das, was die Erste Kammer zu leisten vermag, heute noch ganz im Unklaren
und muß befürchten, daß sie sich in: Falle eines Konfliktes mit der Zweiten
Kammer aus ihrer Aschenbrödelstellung selbst nicht mehr herauswagt. Dabei
würde die größere Unabhängigkeit, welche die Erste Kammer schon deswegen
besitzt, weil ihre Mitglieder nicht in derselben Weise wie die der Zweiten sich
jeder Stimmungsnnance bestimmter Wählerkreise anzupassen brauchen, sie gerade
zur objektiven Beratung solcher Gesetzentwürfe wie der Beamten- und Lehrer-
bcsoldungsvorlage besonders befähigt haben. Statt aber der Ersten Kammer
ihre verfassungsmäßigen Rechte von vornherein in vollem Umfange zukommen
zu lassen, der Zweiten Kammer dadurch die Grenzen ihrer Macht zu zeigen und
in der Bevölkerung die Erkenntnis zu wecken, daß sie mit der Förderung einer
allzu radikalen und antigouvernementalen Stimmung in der Zweiten Kammer
ihre eigenen Interessen in keiner Weise fördert, hat die Negierung ihre ganze
Aufmerksamkeit der Zweiten Kammer zugewandt und deren Bedeutung für
die Wählerschaft noch künstlich erhöht mit dem Erfolge, daß die Mehrheit der
Zweiten Kammer der Negierung ihren Willen aufzwingen zu können meint und
die Regierung sich tatsächlich in einer wenig beneidenswerten Lage befindet.

Diese ungünstigen Wirkungen der Verfassungs- und Wahlrechtsreform waren
nicht vorauszusehen. Nachdem sie aber eingetreten waren, mußte versucht werden,
sie wieder zu beseitigen oder doch abzuschwächen. Und wie die Verkehrung der
erhofften günstigen Folgen der Reform in das Gegenteil aus dem parteipolitischer
Leben des Landes hervorgegangen war, so mußte auch das Mittel, die neue
Verfassung in gesünderer Weise dem Lande nutzbar zu machen, in partei¬
politischer Maßnahmen gefunden werden. Den unmittelbaren Anstoß, eine neue
Partei in Elsaß - Lothringen zu gründen, gab das Eingehen der Liberalen
Landespartei und die Bildung der demokratischen Eisässischen Fortschrittspartei.
In dieser Organisation war für den gemäßigten Liberalismus, der in der
Landespartei eine, wie kaum bestritten werden kann, sehr eifrige und nutz¬
bringende Tätigkeit entfaltet hatte, kein Platz mehr. Und noch viel weniger
konnten sich ihr die freikonservatioen Kreise anschließen, die der Liberalen
Landespartei gern Wahlhilfe geleistet hatten. Aus all diesen heimatlos gewordenen
Alt- und Neu-Elsässern bildete sich vor ein paar Monaten unter heftigen Aus¬
einandersetzungen mit der Elsässischen Fortschrittspartei eine Elsaß-Lothringische
Mittelpartei. Sie will im Gegensatz zu den anderen Parteien, die auf
nationalistische und demokratische Strömungen Rücksicht nehmen und sich
daher hnperpartikularistisch geben müssen, besonders auch den großen natio¬
nalen Aufgaben des Reiches ihre Aufmerksamkeit zuwenden, den engen
Zusammenhang zwischen Elsaß - Lothringen und dem Reiche pflegen und
den Ausbau der staatsrechtlichen Selbständigkeit des Landes auf monarchischer
Grundlage fördern. Als eine deutsch-elsaß-lothringische Partei der niittleren
Linie wendet sie sich mit Entschiedenheit gegen Nationalisten, Sozial-


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[0169] Die politische Entwicklung Elsaß-Lothringens Kammer, diese zu bevorzugen, so bereitwillig nachzukommen. So ist man über das, was die Erste Kammer zu leisten vermag, heute noch ganz im Unklaren und muß befürchten, daß sie sich in: Falle eines Konfliktes mit der Zweiten Kammer aus ihrer Aschenbrödelstellung selbst nicht mehr herauswagt. Dabei würde die größere Unabhängigkeit, welche die Erste Kammer schon deswegen besitzt, weil ihre Mitglieder nicht in derselben Weise wie die der Zweiten sich jeder Stimmungsnnance bestimmter Wählerkreise anzupassen brauchen, sie gerade zur objektiven Beratung solcher Gesetzentwürfe wie der Beamten- und Lehrer- bcsoldungsvorlage besonders befähigt haben. Statt aber der Ersten Kammer ihre verfassungsmäßigen Rechte von vornherein in vollem Umfange zukommen zu lassen, der Zweiten Kammer dadurch die Grenzen ihrer Macht zu zeigen und in der Bevölkerung die Erkenntnis zu wecken, daß sie mit der Förderung einer allzu radikalen und antigouvernementalen Stimmung in der Zweiten Kammer ihre eigenen Interessen in keiner Weise fördert, hat die Negierung ihre ganze Aufmerksamkeit der Zweiten Kammer zugewandt und deren Bedeutung für die Wählerschaft noch künstlich erhöht mit dem Erfolge, daß die Mehrheit der Zweiten Kammer der Negierung ihren Willen aufzwingen zu können meint und die Regierung sich tatsächlich in einer wenig beneidenswerten Lage befindet. Diese ungünstigen Wirkungen der Verfassungs- und Wahlrechtsreform waren nicht vorauszusehen. Nachdem sie aber eingetreten waren, mußte versucht werden, sie wieder zu beseitigen oder doch abzuschwächen. Und wie die Verkehrung der erhofften günstigen Folgen der Reform in das Gegenteil aus dem parteipolitischer Leben des Landes hervorgegangen war, so mußte auch das Mittel, die neue Verfassung in gesünderer Weise dem Lande nutzbar zu machen, in partei¬ politischer Maßnahmen gefunden werden. Den unmittelbaren Anstoß, eine neue Partei in Elsaß - Lothringen zu gründen, gab das Eingehen der Liberalen Landespartei und die Bildung der demokratischen Eisässischen Fortschrittspartei. In dieser Organisation war für den gemäßigten Liberalismus, der in der Landespartei eine, wie kaum bestritten werden kann, sehr eifrige und nutz¬ bringende Tätigkeit entfaltet hatte, kein Platz mehr. Und noch viel weniger konnten sich ihr die freikonservatioen Kreise anschließen, die der Liberalen Landespartei gern Wahlhilfe geleistet hatten. Aus all diesen heimatlos gewordenen Alt- und Neu-Elsässern bildete sich vor ein paar Monaten unter heftigen Aus¬ einandersetzungen mit der Elsässischen Fortschrittspartei eine Elsaß-Lothringische Mittelpartei. Sie will im Gegensatz zu den anderen Parteien, die auf nationalistische und demokratische Strömungen Rücksicht nehmen und sich daher hnperpartikularistisch geben müssen, besonders auch den großen natio¬ nalen Aufgaben des Reiches ihre Aufmerksamkeit zuwenden, den engen Zusammenhang zwischen Elsaß - Lothringen und dem Reiche pflegen und den Ausbau der staatsrechtlichen Selbständigkeit des Landes auf monarchischer Grundlage fördern. Als eine deutsch-elsaß-lothringische Partei der niittleren Linie wendet sie sich mit Entschiedenheit gegen Nationalisten, Sozial-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_322400/169>, abgerufen am 15.01.2025.