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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr.

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T>le politische Entwicklung Elsaß-Lothringens

der Elsaß-Lothringer doch zu genau, um nicht zu wissen, daß eine verhältnis¬
mäßig bescheidene Teilreforni mehr Unzufriedenheit schaffen würde als die Bei¬
behaltung des bestehenden Zustandes.

Herr von Bethmann Hollweg besaß einen größeren Optimismus. Und
hinter ihm stand in dieser Angelegenheit als treibende Kraft ein Statthalter,
der von der absoluten Notwendigkeit, die staatsrechtliche Lage Elsaß-Lothringens
endlich weiter zu entwickeln, überzeugt und gleichzeitig fest entschlossen war, sich
für die Durchführung dieses Werkes mit seiner ganzen Person einzusetzen.

Elsaß-Lothringen hatte seine Verfassungsreform also dem Zusammentreffen
besonders günstiger Umstände zu verdanken. Dennoch wäre das Reformwerk
nicht in Angriff genommen worden, wenn die beiden an erster Stelle mit¬
wirkenden Persönlichkeiten nicht hätten überzeugt sein können, daß sie mit ihren
Vorschlägen einen starken Rückhalt in der elsaß-lothringischen Bevölkerung selbst
finden würden. Keiner von ihnen, und ebensowenig ihr dritter Verbündeter,
Staatssekretär Delbrück, konnte annehmen, daß eine Vorlage, die in jedem
einzelnen Punkte die Spuren alter Anträge und Resolutionen des elsaß-lothrin¬
gischen Landesausschusses aufwies, von denselben Persönlichkeiten bekämpft werden
würde, die diese veranlaßt hatten.

Es war daher falsch, das Unternehmen der Verfassungsreform als ein
Experiment zu bezeichnen, das auf bloßen Hoffnungen und der Spekulation
auf die Dankbarkeit der elsaß-lothringischen Bevölkerung aufgebaut war. Ich
bin über die vorbereitenden Arbeiten zur Verfassungsvorlage genau genug unter¬
richtet, um behaupten zu können, daß mit peinlichster Gewissenhaftigkeit und in
fast zu weit getriebener Unparteilichkeit alle Anregungen, die aus Elsaß-Lothringen
kamen, zur Ausgestaltung des Entwurfs herangezogen wurden. Wenn je eine
Vorlage auf realen Voraussetzungen beruhte, so war es diese. Und was ihr
wirklich an Berücksichtigung der bis dahin ausgesprochenen elsaß-lothringischen
Wünsche noch fehlte, wurde im Laufe der Verhandlungen im Reichstage und
im Bundesrate zum größten Teil noch in ihren Wortlaut eingefügt; u. a. die
für unmöglich gehaltene Bestimmung, daß Elsaß-Lothringen mit nahezu vollen
bundesstaatlichen Rechten im Bundesrate vertreten sein sollte, sowie die Ein¬
führung des nur durch eine sehr bescheidene Wohnsitzklausel beschränkten, dafür
aber durch Ersetzung der Stichwahlen durch Nachwahlen noch erweiterten Reichs¬
tagswahlrechts.

Mit Recht konnten daher die gesetzgebenden Faktoren des Reiches und
besonders der Reichskanzler erwarten, daß das Verfassungsgesetz in Elsaß-
Lothringen zum mindesten gerechte Beurteilung und loyale Anerkennung finden
würde. Aber wie war der tatsächliche Erfolg?

Kaum stand mit annähernder Sicherheit fest, daß die Verfassungsvorlage
in ihrer erweiterten Gestalt Gesetz werden würde, da setzte in Elsaß-Lothringen
eine Opposition gegen sie ein, die an Ungerechtigkeit, Leidenschaftlichkeit und
Skrupellosigkeit kaum noch zu überbieten war. Der Grund dieser Erscheinung


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der Elsaß-Lothringer doch zu genau, um nicht zu wissen, daß eine verhältnis¬
mäßig bescheidene Teilreforni mehr Unzufriedenheit schaffen würde als die Bei¬
behaltung des bestehenden Zustandes.

Herr von Bethmann Hollweg besaß einen größeren Optimismus. Und
hinter ihm stand in dieser Angelegenheit als treibende Kraft ein Statthalter,
der von der absoluten Notwendigkeit, die staatsrechtliche Lage Elsaß-Lothringens
endlich weiter zu entwickeln, überzeugt und gleichzeitig fest entschlossen war, sich
für die Durchführung dieses Werkes mit seiner ganzen Person einzusetzen.

Elsaß-Lothringen hatte seine Verfassungsreform also dem Zusammentreffen
besonders günstiger Umstände zu verdanken. Dennoch wäre das Reformwerk
nicht in Angriff genommen worden, wenn die beiden an erster Stelle mit¬
wirkenden Persönlichkeiten nicht hätten überzeugt sein können, daß sie mit ihren
Vorschlägen einen starken Rückhalt in der elsaß-lothringischen Bevölkerung selbst
finden würden. Keiner von ihnen, und ebensowenig ihr dritter Verbündeter,
Staatssekretär Delbrück, konnte annehmen, daß eine Vorlage, die in jedem
einzelnen Punkte die Spuren alter Anträge und Resolutionen des elsaß-lothrin¬
gischen Landesausschusses aufwies, von denselben Persönlichkeiten bekämpft werden
würde, die diese veranlaßt hatten.

Es war daher falsch, das Unternehmen der Verfassungsreform als ein
Experiment zu bezeichnen, das auf bloßen Hoffnungen und der Spekulation
auf die Dankbarkeit der elsaß-lothringischen Bevölkerung aufgebaut war. Ich
bin über die vorbereitenden Arbeiten zur Verfassungsvorlage genau genug unter¬
richtet, um behaupten zu können, daß mit peinlichster Gewissenhaftigkeit und in
fast zu weit getriebener Unparteilichkeit alle Anregungen, die aus Elsaß-Lothringen
kamen, zur Ausgestaltung des Entwurfs herangezogen wurden. Wenn je eine
Vorlage auf realen Voraussetzungen beruhte, so war es diese. Und was ihr
wirklich an Berücksichtigung der bis dahin ausgesprochenen elsaß-lothringischen
Wünsche noch fehlte, wurde im Laufe der Verhandlungen im Reichstage und
im Bundesrate zum größten Teil noch in ihren Wortlaut eingefügt; u. a. die
für unmöglich gehaltene Bestimmung, daß Elsaß-Lothringen mit nahezu vollen
bundesstaatlichen Rechten im Bundesrate vertreten sein sollte, sowie die Ein¬
führung des nur durch eine sehr bescheidene Wohnsitzklausel beschränkten, dafür
aber durch Ersetzung der Stichwahlen durch Nachwahlen noch erweiterten Reichs¬
tagswahlrechts.

Mit Recht konnten daher die gesetzgebenden Faktoren des Reiches und
besonders der Reichskanzler erwarten, daß das Verfassungsgesetz in Elsaß-
Lothringen zum mindesten gerechte Beurteilung und loyale Anerkennung finden
würde. Aber wie war der tatsächliche Erfolg?

Kaum stand mit annähernder Sicherheit fest, daß die Verfassungsvorlage
in ihrer erweiterten Gestalt Gesetz werden würde, da setzte in Elsaß-Lothringen
eine Opposition gegen sie ein, die an Ungerechtigkeit, Leidenschaftlichkeit und
Skrupellosigkeit kaum noch zu überbieten war. Der Grund dieser Erscheinung


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[0161] T>le politische Entwicklung Elsaß-Lothringens der Elsaß-Lothringer doch zu genau, um nicht zu wissen, daß eine verhältnis¬ mäßig bescheidene Teilreforni mehr Unzufriedenheit schaffen würde als die Bei¬ behaltung des bestehenden Zustandes. Herr von Bethmann Hollweg besaß einen größeren Optimismus. Und hinter ihm stand in dieser Angelegenheit als treibende Kraft ein Statthalter, der von der absoluten Notwendigkeit, die staatsrechtliche Lage Elsaß-Lothringens endlich weiter zu entwickeln, überzeugt und gleichzeitig fest entschlossen war, sich für die Durchführung dieses Werkes mit seiner ganzen Person einzusetzen. Elsaß-Lothringen hatte seine Verfassungsreform also dem Zusammentreffen besonders günstiger Umstände zu verdanken. Dennoch wäre das Reformwerk nicht in Angriff genommen worden, wenn die beiden an erster Stelle mit¬ wirkenden Persönlichkeiten nicht hätten überzeugt sein können, daß sie mit ihren Vorschlägen einen starken Rückhalt in der elsaß-lothringischen Bevölkerung selbst finden würden. Keiner von ihnen, und ebensowenig ihr dritter Verbündeter, Staatssekretär Delbrück, konnte annehmen, daß eine Vorlage, die in jedem einzelnen Punkte die Spuren alter Anträge und Resolutionen des elsaß-lothrin¬ gischen Landesausschusses aufwies, von denselben Persönlichkeiten bekämpft werden würde, die diese veranlaßt hatten. Es war daher falsch, das Unternehmen der Verfassungsreform als ein Experiment zu bezeichnen, das auf bloßen Hoffnungen und der Spekulation auf die Dankbarkeit der elsaß-lothringischen Bevölkerung aufgebaut war. Ich bin über die vorbereitenden Arbeiten zur Verfassungsvorlage genau genug unter¬ richtet, um behaupten zu können, daß mit peinlichster Gewissenhaftigkeit und in fast zu weit getriebener Unparteilichkeit alle Anregungen, die aus Elsaß-Lothringen kamen, zur Ausgestaltung des Entwurfs herangezogen wurden. Wenn je eine Vorlage auf realen Voraussetzungen beruhte, so war es diese. Und was ihr wirklich an Berücksichtigung der bis dahin ausgesprochenen elsaß-lothringischen Wünsche noch fehlte, wurde im Laufe der Verhandlungen im Reichstage und im Bundesrate zum größten Teil noch in ihren Wortlaut eingefügt; u. a. die für unmöglich gehaltene Bestimmung, daß Elsaß-Lothringen mit nahezu vollen bundesstaatlichen Rechten im Bundesrate vertreten sein sollte, sowie die Ein¬ führung des nur durch eine sehr bescheidene Wohnsitzklausel beschränkten, dafür aber durch Ersetzung der Stichwahlen durch Nachwahlen noch erweiterten Reichs¬ tagswahlrechts. Mit Recht konnten daher die gesetzgebenden Faktoren des Reiches und besonders der Reichskanzler erwarten, daß das Verfassungsgesetz in Elsaß- Lothringen zum mindesten gerechte Beurteilung und loyale Anerkennung finden würde. Aber wie war der tatsächliche Erfolg? Kaum stand mit annähernder Sicherheit fest, daß die Verfassungsvorlage in ihrer erweiterten Gestalt Gesetz werden würde, da setzte in Elsaß-Lothringen eine Opposition gegen sie ein, die an Ungerechtigkeit, Leidenschaftlichkeit und Skrupellosigkeit kaum noch zu überbieten war. Der Grund dieser Erscheinung

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_322400/161>, abgerufen am 15.01.2025.