Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr.Maßgebliches und Unmaßgebliches [Beginn Spaltensatz] Moment, das die männliche und weibliche Um die Fähigkeit zum Erziehen zu ge¬ Verständnis für den Menschen in seinem indi¬ Bon der rein Praktischen Seite gesehen -- Maßgebliches und Unmaßgebliches [Beginn Spaltensatz] Moment, das die männliche und weibliche Um die Fähigkeit zum Erziehen zu ge¬ Verständnis für den Menschen in seinem indi¬ Bon der rein Praktischen Seite gesehen — <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0153" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/322555"/> <fw type="header" place="top"> Maßgebliches und Unmaßgebliches</fw><lb/> <cb type="start"/> <p xml:id="ID_709" prev="#ID_708"> Moment, das die männliche und weibliche<lb/> Psyche im allgemeinen noch am meisten unter¬<lb/> schiedlich charakterisiert — die starke Anspruchs¬<lb/> fähigkeit des Gefühlslebens beim Weibe —,<lb/> die aber natürlich nicht im Sinne der An¬<lb/> thropologie als sekundärer Geschlechtscharakter<lb/> aufgefaßt werden kann, da sie sich auch bei<lb/> Männern häufig findet und möglicherweise<lb/> überhaupt nur das Produkt einer wenig dis¬<lb/> ziplinierten Erziehung ist, ist eine nicht un¬<lb/> bedenkliche Gabe für den Erzieher. Es sei<lb/> selbstverständlich nicht verkannt, daß die Emo-<lb/> tivität ein grundlegendes Moment für die<lb/> Entwicklung überaus wertvoller Charakter¬<lb/> eigenschaften bilden kann, gemeint ist hier<lb/> nur die leichte Auflösbarkeit gewisser Gefühle<lb/> und Affekte, die geeignet sind, die Überlegung<lb/> zu rauben und dadurch die Überlegenheit zu<lb/> untergraben. Wenn wir nun die Mutter<lb/> aus hier nicht näher zu untersuchenden Grün¬<lb/> den in weitgehendem Maße Erzieherin des<lb/> Kindes sein lassen wollen, so muß uns daran<lb/> liegen, dem Mädchen alle Mittel in die Hand<lb/> zu geben, die geeignet sind Selbstzucht zu<lb/> lernen, denn die Herrschaft über die Gefühle<lb/> ist die Grundforderung, die wir an den Er¬<lb/> zieher stellen müssen und zugleich der Grad¬<lb/> messer wahrer Bildung. Zu diesen Mitteln<lb/> gehört aber in erster Reihe die Beschäftigung<lb/> mit den unerschöpflichen Schätzen der Kunst<lb/> und Wissenschaft, die Übung in logischer und<lb/> objektiver Betrachtungsweise usw. Freilich<lb/> totes Wissen bringt keine Erlösung von<lb/> dem unklaren Drange übermächtiger Ge¬<lb/> fühle, Wohl aber das lebendige Erfassen einer<lb/> überindividuellenWirklichkeit. Deshalb fordern<lb/> zahlreiche zielbewußte Frauen den Schlüssel,<lb/> der in die Freiheit führt, nicht im blinden<lb/> Verkennen ihrer sozialen Aufgaben als mütter¬<lb/> liche Erzieherinnen, sondern in ihrer Erkenntnis<lb/> und — in Selbsterkenntnis.</p> <p xml:id="ID_710" next="#ID_711"> Um die Fähigkeit zum Erziehen zu ge¬<lb/> winnen, bedarf es keines Lehrerinnenseminars.<lb/> Das, bißchen pädagogische Weisheit und die<lb/> Kenntnis einiger didaktischer Regeln, die hier<lb/> erworben werden können, mögen der künftigen<lb/> Lehrerin (dies ist der Erzieherin gegenüber<lb/> der engere Begriff) ganz nützlich sein, treffen<lb/> aber durchaus nicht den Kern der Sache.<lb/> Von innen heraus muß die Fähigkeit zum<lb/> Erziehen erwachsen und sie wurzelt in dem</p> <cb/><lb/> <p xml:id="ID_711" prev="#ID_710"> Verständnis für den Menschen in seinem indi¬<lb/> viduellen und Gemeinschaftsdasein. Deshalb<lb/> ist es wichtig, daß die Bildung der Mädchen<lb/> bis über die ersten Jahre der Pubertät hinaus<lb/> eine allgemeine, unter mehr oder weniger<lb/> ideellen Gesichtspunkten angelegte und nicht<lb/> Fachbildung sei. So betrachtet ist von den<lb/> höheren Bildungsanstalten die Studienanstalt<lb/> dem Seminar vorzuziehen. Die Fachbildung<lb/> drängt naturgemäß auf einen gewissen Ab¬<lb/> schluß hin und dieser Abschluß geht auf Kosten<lb/> der Vertiefung und vor allen Dingen: er ist<lb/> geeignet, in jungen Köpfen den Maßstab für<lb/> das eigene Können zu verschieben. Wenn<lb/> man Lehrerin ist, „beherrscht" man den Lehr¬<lb/> stoff und ist mit zwanzig Jahren Autorität,<lb/> die Absolventin der Studienanstalt hingegen<lb/> weiß, daß sie nur „reif" geworden ist zum eigent¬<lb/> lichen Lernen. Der ganze Lehrstoff wird in<lb/> der Studienanstalt notwendig unter anderen<lb/> Gesichtspunkten dargereicht als im Seminar,<lb/> eben immer im Hinblick auf die Erweiterung<lb/> durch das Studium. Dieser Gesichtspunkt<lb/> gibt aber die Weite des Horizontes, die<lb/> Grundlage für Persönliche Kultur.</p> <p xml:id="ID_712" next="#ID_713"> Bon der rein Praktischen Seite gesehen —<lb/> und auch diese muß in Anbetracht der Aus¬<lb/> führungen des Herrn Prof. Göpfert über<lb/> Seminare und Studienanstalten in Ur. 3S der<lb/> „Grenzboten" nach dem Grundsatz auciiamus<lb/> et slrera pars kurz erörtert werden — ist<lb/> die seminaristische Bildung als Vorbereitung<lb/> für die Universität dem Bildungsgange der<lb/> Studienanstalten nicht als gleichwertig zu<lb/> erachten. Dies kommt offiziell darin zum<lb/> Ausdruck, daß das Lehrerinnenzeugnis nur<lb/> die philosophische Fakultät erschließt. Die<lb/> Beschränkung in der Wahl des Studiengebiets,<lb/> die damit gegeben ist, läßt den praktischen<lb/> Wert deS Lehrerinnenzeugnisses im Vergleich<lb/> mit dem Abiturientenzeugnisse geringer er¬<lb/> scheinen. Aber auch rein sachlich wird die<lb/> seminaristische Bildung als Vorbereitung für<lb/> den Universitätsbesuch als unzulänglich be¬<lb/> zeichnet, unter anderem auch von zahlreichen<lb/> reifen Frauen, die meist aus eigener Erfahrung<lb/> sprechen, indem sie selbst mit seminaristischer<lb/> Bildung ausgerüstet die Universität beziehen<lb/> mußten, da die Abiturientenprüfung erst seit<lb/> etwa fünfzehn Jahren von Frauen abgelegt<lb/> werden kann, und am eigenen Leibe die Un-</p> <cb type="end"/><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0153]
Maßgebliches und Unmaßgebliches
Moment, das die männliche und weibliche
Psyche im allgemeinen noch am meisten unter¬
schiedlich charakterisiert — die starke Anspruchs¬
fähigkeit des Gefühlslebens beim Weibe —,
die aber natürlich nicht im Sinne der An¬
thropologie als sekundärer Geschlechtscharakter
aufgefaßt werden kann, da sie sich auch bei
Männern häufig findet und möglicherweise
überhaupt nur das Produkt einer wenig dis¬
ziplinierten Erziehung ist, ist eine nicht un¬
bedenkliche Gabe für den Erzieher. Es sei
selbstverständlich nicht verkannt, daß die Emo-
tivität ein grundlegendes Moment für die
Entwicklung überaus wertvoller Charakter¬
eigenschaften bilden kann, gemeint ist hier
nur die leichte Auflösbarkeit gewisser Gefühle
und Affekte, die geeignet sind, die Überlegung
zu rauben und dadurch die Überlegenheit zu
untergraben. Wenn wir nun die Mutter
aus hier nicht näher zu untersuchenden Grün¬
den in weitgehendem Maße Erzieherin des
Kindes sein lassen wollen, so muß uns daran
liegen, dem Mädchen alle Mittel in die Hand
zu geben, die geeignet sind Selbstzucht zu
lernen, denn die Herrschaft über die Gefühle
ist die Grundforderung, die wir an den Er¬
zieher stellen müssen und zugleich der Grad¬
messer wahrer Bildung. Zu diesen Mitteln
gehört aber in erster Reihe die Beschäftigung
mit den unerschöpflichen Schätzen der Kunst
und Wissenschaft, die Übung in logischer und
objektiver Betrachtungsweise usw. Freilich
totes Wissen bringt keine Erlösung von
dem unklaren Drange übermächtiger Ge¬
fühle, Wohl aber das lebendige Erfassen einer
überindividuellenWirklichkeit. Deshalb fordern
zahlreiche zielbewußte Frauen den Schlüssel,
der in die Freiheit führt, nicht im blinden
Verkennen ihrer sozialen Aufgaben als mütter¬
liche Erzieherinnen, sondern in ihrer Erkenntnis
und — in Selbsterkenntnis.
Um die Fähigkeit zum Erziehen zu ge¬
winnen, bedarf es keines Lehrerinnenseminars.
Das, bißchen pädagogische Weisheit und die
Kenntnis einiger didaktischer Regeln, die hier
erworben werden können, mögen der künftigen
Lehrerin (dies ist der Erzieherin gegenüber
der engere Begriff) ganz nützlich sein, treffen
aber durchaus nicht den Kern der Sache.
Von innen heraus muß die Fähigkeit zum
Erziehen erwachsen und sie wurzelt in dem
Verständnis für den Menschen in seinem indi¬
viduellen und Gemeinschaftsdasein. Deshalb
ist es wichtig, daß die Bildung der Mädchen
bis über die ersten Jahre der Pubertät hinaus
eine allgemeine, unter mehr oder weniger
ideellen Gesichtspunkten angelegte und nicht
Fachbildung sei. So betrachtet ist von den
höheren Bildungsanstalten die Studienanstalt
dem Seminar vorzuziehen. Die Fachbildung
drängt naturgemäß auf einen gewissen Ab¬
schluß hin und dieser Abschluß geht auf Kosten
der Vertiefung und vor allen Dingen: er ist
geeignet, in jungen Köpfen den Maßstab für
das eigene Können zu verschieben. Wenn
man Lehrerin ist, „beherrscht" man den Lehr¬
stoff und ist mit zwanzig Jahren Autorität,
die Absolventin der Studienanstalt hingegen
weiß, daß sie nur „reif" geworden ist zum eigent¬
lichen Lernen. Der ganze Lehrstoff wird in
der Studienanstalt notwendig unter anderen
Gesichtspunkten dargereicht als im Seminar,
eben immer im Hinblick auf die Erweiterung
durch das Studium. Dieser Gesichtspunkt
gibt aber die Weite des Horizontes, die
Grundlage für Persönliche Kultur.
Bon der rein Praktischen Seite gesehen —
und auch diese muß in Anbetracht der Aus¬
führungen des Herrn Prof. Göpfert über
Seminare und Studienanstalten in Ur. 3S der
„Grenzboten" nach dem Grundsatz auciiamus
et slrera pars kurz erörtert werden — ist
die seminaristische Bildung als Vorbereitung
für die Universität dem Bildungsgange der
Studienanstalten nicht als gleichwertig zu
erachten. Dies kommt offiziell darin zum
Ausdruck, daß das Lehrerinnenzeugnis nur
die philosophische Fakultät erschließt. Die
Beschränkung in der Wahl des Studiengebiets,
die damit gegeben ist, läßt den praktischen
Wert deS Lehrerinnenzeugnisses im Vergleich
mit dem Abiturientenzeugnisse geringer er¬
scheinen. Aber auch rein sachlich wird die
seminaristische Bildung als Vorbereitung für
den Universitätsbesuch als unzulänglich be¬
zeichnet, unter anderem auch von zahlreichen
reifen Frauen, die meist aus eigener Erfahrung
sprechen, indem sie selbst mit seminaristischer
Bildung ausgerüstet die Universität beziehen
mußten, da die Abiturientenprüfung erst seit
etwa fünfzehn Jahren von Frauen abgelegt
werden kann, und am eigenen Leibe die Un-
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