Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr.Maßgebliches und Unmaßgebliches [Beginn Spaltensatz] normität erscheint, wenn eine Frau die männ¬ liebe im Gesamtbilde der Seele in den Hinter¬ Nebenbei bemerkt, könnten wir z. B. in Man ist so sehr dazu geneigt, zu be¬ Grenzboten IV 191219
Maßgebliches und Unmaßgebliches [Beginn Spaltensatz] normität erscheint, wenn eine Frau die männ¬ liebe im Gesamtbilde der Seele in den Hinter¬ Nebenbei bemerkt, könnten wir z. B. in Man ist so sehr dazu geneigt, zu be¬ Grenzboten IV 191219
<TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0152" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/322554"/> <fw type="header" place="top"> Maßgebliches und Unmaßgebliches</fw><lb/> <cb type="start"/> <p xml:id="ID_705" prev="#ID_704" next="#ID_706"> normität erscheint, wenn eine Frau die männ¬<lb/> liche Form deS Kehlkopfs und die entsprechende<lb/> Stimmlage besitzt oder Bartwuchs aufweist,<lb/> so liegt es durchaus in der Sphäre des Nor¬<lb/> malen, wenn wir bei einem Mädchen eine<lb/> bessere abstrakte Denkfähigkeit finden als bei<lb/> einem Knaben, oder wenn eine Frau gelegent¬<lb/> lich schärferen Verstand beweist als ein Mann<lb/> Wenn sich also in allen Psychologischen Expe¬<lb/> rimenten immer nur eine relative Gültig¬<lb/> keit des „weiblichen" und „männlichen" Typus,<lb/> Wo ein solcher überhaupt beobachtet werden<lb/> konnte, feststellen ließ, so sehen wir diese Er¬<lb/> fahrung in der praktischen Psychologie des<lb/> Alltags bestätigt: es gibt keine Psychische Er¬<lb/> scheinung oder Funktion, die wir bei vorurteils¬<lb/> freier Betrachtung als typisch weiblich oder<lb/> als typisch männlich bezeichnen könnten, so<lb/> daß sie nur abnormerweise bei einem An¬<lb/> gehörigen deS anderen Geschlechts in mehr<lb/> als rudimentärer Form vorkäme. Mut, Auf¬<lb/> opferungsfähigkeit, Ausdauer, Fleiß, Tatkraft,<lb/> List, Feigheit finden wir sowohl bei Männern<lb/> als bei Frauen, und bei beiden Geschlechtern<lb/> werden sie im gleichen Sinne gewertet. Natür¬<lb/> lich gibt es Eigenschaften, die unter gegebenen<lb/> sozialen Verhältnissen beim Weibe höher ge¬<lb/> schätzt werden als beim Mann (z. B, Sanft¬<lb/> mut!) und umgekehrt, aber niemals wird ein<lb/> Wert zum Unwert. Wenn wir von weib¬<lb/> lichen Männern und von männlichen Weibern<lb/> reden, so tun wir es unter Benutzung der<lb/> Vorstellung eines ganz vagen, dazu noch im<lb/> Lauf der Geschichte veränderlichen Durch¬<lb/> schnittstypus. Es ist jedenfalls vom exakt<lb/> wissenschaftlichen Standpunkt aus nicht gerecht¬<lb/> fertigt, auf Psychischen Gebiet von sekundären<lb/> Geschlechtscharakteren zu sprechen und noch<lb/> viel weniger ihr stärkeres Hervortreten mit<lb/> steigender Entwicklungsstufe der Lebewesen zu<lb/> behaupten. Von den Tieren können wir hier<lb/> füglich absehen, aber wenn die Weiber und<lb/> Männer der niederen Menschenrassen gleich¬<lb/> artiger sind als bei den kultivierten Rassen,<lb/> weil jene sich mehr oder weniger den gleichen<lb/> Verrichtungen widmen, während sich bei diesen<lb/> eine ausgeprägte Arbeitsteilung herangebildet<lb/> hat, so ist dies gewiß keine Differenzierung<lb/> der Sexualität, sondern allgemein mensch¬<lb/> licher Funktionen. Wir müssen vielmehr sagen!<lb/> mit steigender Entwicklung tritt das Geschlecht-</p> <cb/><lb/> <p xml:id="ID_706" prev="#ID_705"> liebe im Gesamtbilde der Seele in den Hinter¬<lb/> grund und die höheren, geschlechtslosen Funk¬<lb/> tionen, die zur Sexualität in keiner ein¬<lb/> deutigen Beziehung stehen, überwiegen, wie<lb/> denn auch diejenigen Hirnteile, die uns als<lb/> Träger höheren geistigen Lebens bekannt sind,<lb/> die niederen Hirnteile, von denen aus die<lb/> rein animalischen Fähigkeiten reguliert werden,<lb/> sowohl beim weiblichen als auch beim männ¬<lb/> lichen Menschen weit überwuchert haben. Da¬<lb/> mit ist aber auch die Möglichkeit für eine<lb/> weitgehende individuelle Differenzierung<lb/> gegeben.</p> <p xml:id="ID_707"> Nebenbei bemerkt, könnten wir z. B. in<lb/> der Tatsache, daß das Gefühl der Verant¬<lb/> wortung der Nachkommenschaft gegenüber und<lb/> die Liebe zu ihr seit den Zeiten primitivster<lb/> Gesellschaftsformen beim männlichen Geschlecht<lb/> zugenommen hat, eine Annäherung an die<lb/> älteren mütterlichen Tendenzen zur Pflege des<lb/> Kindes und somit einen gewissen sexuellen<lb/> Ausgleich finden. Es kommt hier aber gar<lb/> nicht darauf an, die durchaus gleichartige<lb/> Veranlagung der männlichen und weiblichen<lb/> Psyche darzutun — sie zu erweisen oder zu<lb/> widerlegen mag Aufgabe der Zukunft sein —<lb/> nur die Verschwommenheit des Begriffs „weib¬<lb/> liche Eigenart" sollte gekennzeichnet werden.<lb/> Hier müssen wir noch einen Schritt weiter¬<lb/> gehen und dabei rühren wir zugleich an die<lb/> Konsequenzen einer unklaren Begründung.</p> <p xml:id="ID_708" next="#ID_709"> Man ist so sehr dazu geneigt, zu be¬<lb/> haupten, daß das weibliche Individuum von<lb/> der Natur zum Mutter berus, d.h. zur Lei¬<lb/> terin des Kindes, vorherbestimmt sei und<lb/> man übersieht dabei, daß die „Hinweise der<lb/> Natur" der Mutterschaft gelten, indem sie<lb/> sich auf das Tragen, Gebären und Säugen<lb/> des neuen Menschen erstrecken, aber ganz und<lb/> gar nicht darüber hinaus. Wenn das Weib<lb/> die Pflege und Leitung des Kindes über die<lb/> erste Lebenszeit hinaus übernahm, so waren es<lb/> die Verhältnisse der menschlichen Gemein¬<lb/> schaft, die es dazu führten und die auch heute<lb/> die Erziehung wenigstens des kleinen Kindes<lb/> in seine Hände legen. Körperlich zur Er¬<lb/> zieherin des dem Säuglingsalter entwachsenen<lb/> Kindes prädestiniert erscheint sie bei nüch¬<lb/> terner Betrachtung nicht. Auf geistigem Ge¬<lb/> biet können wir auch schwerlich von einer<lb/> „Vorherbestimmung" reden, denn gerade das</p> <cb type="end"/><lb/> <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten IV 191219</fw><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0152]
Maßgebliches und Unmaßgebliches
normität erscheint, wenn eine Frau die männ¬
liche Form deS Kehlkopfs und die entsprechende
Stimmlage besitzt oder Bartwuchs aufweist,
so liegt es durchaus in der Sphäre des Nor¬
malen, wenn wir bei einem Mädchen eine
bessere abstrakte Denkfähigkeit finden als bei
einem Knaben, oder wenn eine Frau gelegent¬
lich schärferen Verstand beweist als ein Mann
Wenn sich also in allen Psychologischen Expe¬
rimenten immer nur eine relative Gültig¬
keit des „weiblichen" und „männlichen" Typus,
Wo ein solcher überhaupt beobachtet werden
konnte, feststellen ließ, so sehen wir diese Er¬
fahrung in der praktischen Psychologie des
Alltags bestätigt: es gibt keine Psychische Er¬
scheinung oder Funktion, die wir bei vorurteils¬
freier Betrachtung als typisch weiblich oder
als typisch männlich bezeichnen könnten, so
daß sie nur abnormerweise bei einem An¬
gehörigen deS anderen Geschlechts in mehr
als rudimentärer Form vorkäme. Mut, Auf¬
opferungsfähigkeit, Ausdauer, Fleiß, Tatkraft,
List, Feigheit finden wir sowohl bei Männern
als bei Frauen, und bei beiden Geschlechtern
werden sie im gleichen Sinne gewertet. Natür¬
lich gibt es Eigenschaften, die unter gegebenen
sozialen Verhältnissen beim Weibe höher ge¬
schätzt werden als beim Mann (z. B, Sanft¬
mut!) und umgekehrt, aber niemals wird ein
Wert zum Unwert. Wenn wir von weib¬
lichen Männern und von männlichen Weibern
reden, so tun wir es unter Benutzung der
Vorstellung eines ganz vagen, dazu noch im
Lauf der Geschichte veränderlichen Durch¬
schnittstypus. Es ist jedenfalls vom exakt
wissenschaftlichen Standpunkt aus nicht gerecht¬
fertigt, auf Psychischen Gebiet von sekundären
Geschlechtscharakteren zu sprechen und noch
viel weniger ihr stärkeres Hervortreten mit
steigender Entwicklungsstufe der Lebewesen zu
behaupten. Von den Tieren können wir hier
füglich absehen, aber wenn die Weiber und
Männer der niederen Menschenrassen gleich¬
artiger sind als bei den kultivierten Rassen,
weil jene sich mehr oder weniger den gleichen
Verrichtungen widmen, während sich bei diesen
eine ausgeprägte Arbeitsteilung herangebildet
hat, so ist dies gewiß keine Differenzierung
der Sexualität, sondern allgemein mensch¬
licher Funktionen. Wir müssen vielmehr sagen!
mit steigender Entwicklung tritt das Geschlecht-
liebe im Gesamtbilde der Seele in den Hinter¬
grund und die höheren, geschlechtslosen Funk¬
tionen, die zur Sexualität in keiner ein¬
deutigen Beziehung stehen, überwiegen, wie
denn auch diejenigen Hirnteile, die uns als
Träger höheren geistigen Lebens bekannt sind,
die niederen Hirnteile, von denen aus die
rein animalischen Fähigkeiten reguliert werden,
sowohl beim weiblichen als auch beim männ¬
lichen Menschen weit überwuchert haben. Da¬
mit ist aber auch die Möglichkeit für eine
weitgehende individuelle Differenzierung
gegeben.
Nebenbei bemerkt, könnten wir z. B. in
der Tatsache, daß das Gefühl der Verant¬
wortung der Nachkommenschaft gegenüber und
die Liebe zu ihr seit den Zeiten primitivster
Gesellschaftsformen beim männlichen Geschlecht
zugenommen hat, eine Annäherung an die
älteren mütterlichen Tendenzen zur Pflege des
Kindes und somit einen gewissen sexuellen
Ausgleich finden. Es kommt hier aber gar
nicht darauf an, die durchaus gleichartige
Veranlagung der männlichen und weiblichen
Psyche darzutun — sie zu erweisen oder zu
widerlegen mag Aufgabe der Zukunft sein —
nur die Verschwommenheit des Begriffs „weib¬
liche Eigenart" sollte gekennzeichnet werden.
Hier müssen wir noch einen Schritt weiter¬
gehen und dabei rühren wir zugleich an die
Konsequenzen einer unklaren Begründung.
Man ist so sehr dazu geneigt, zu be¬
haupten, daß das weibliche Individuum von
der Natur zum Mutter berus, d.h. zur Lei¬
terin des Kindes, vorherbestimmt sei und
man übersieht dabei, daß die „Hinweise der
Natur" der Mutterschaft gelten, indem sie
sich auf das Tragen, Gebären und Säugen
des neuen Menschen erstrecken, aber ganz und
gar nicht darüber hinaus. Wenn das Weib
die Pflege und Leitung des Kindes über die
erste Lebenszeit hinaus übernahm, so waren es
die Verhältnisse der menschlichen Gemein¬
schaft, die es dazu führten und die auch heute
die Erziehung wenigstens des kleinen Kindes
in seine Hände legen. Körperlich zur Er¬
zieherin des dem Säuglingsalter entwachsenen
Kindes prädestiniert erscheint sie bei nüch¬
terner Betrachtung nicht. Auf geistigem Ge¬
biet können wir auch schwerlich von einer
„Vorherbestimmung" reden, denn gerade das
Grenzboten IV 191219
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