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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr.

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Karl Salzcr

Hannes Holtner steigt auf den Kutscherbock. Sein langer Oberkörper ragt
weit über das Lederdach der Kutsche hinaus. Er nimmt die Peitsche aus dem
Köcher, wickelt die Zügelriemen von der Bremse neben dem Sitze, an die er sie
zuvor befestigt hat, heißt den Burschen das Tor aufmachen und dann: Hüohü,
Schimmel, hopp!

Karl sieht dem Wagen nach. Das grauschwarze Lederdach schwankt. Das
lackierte, aber schon längst blind gewordene Untergestell gärrt und knarrt. Man
hört das noch, nachdem die Kutsche schon um die Ecke verschwunden ist.

Der Bursche schließt das Tor wieder und geht ins Haus.

8.

Karl hat das Schlafzimmer ein wenig in Ordnung gebracht und sitzt nun
auf einem Stuhl, denn er ist schon wieder müde. So knapp nach dem Ausstehen
schon wieder müde, denkt er und gähnt. Seine Arme sind schwer; er läßt sie zu
beiden Seiten hinabbaumeln. Sein Körper rutscht schlaff zusammen.

So sitzt er eine Weile da. Es ist ganz still im Haus. Daß man hin und
wieder von der Straße das Gerassel eines vorbeifahrenden Wagens oder einen
Bauer mit der Peitsche klappern hört, läßt diese Stille im Hause noch tiefer und
unheimlicher erscheinen. Karl schaudert und meint, er höre ein Seufzen und
Stöhnen und Ächzen droben über der Decke, wo der Vater im Sarge liegt. Es
ist ihm eigentlich doch lieber, daß er schon im Sarge liegt und daß der Sarg
schon verschraubt ist. Man hat da weniger Bangigkeit. Aber was braucht man
sich zu fürchten? Da entdeckt der Bursche, daß ein Unterschied ist zwischen Bangigkeit
und Furcht. Denn Furcht ist für ihn das gleiche wie Mutlosigkeit, Feigheit.
Diese kann man überwinden; er kann sie überwinden. Unter der Bangigkeit muß
man leiden, bis sie von der Gewohnheit vertrieben wird.

Er schlummert ein. Der Kopf sinkt ihm langsam auf die Brust. Seine
Schwere zieht auch den Oberkörper vornüber, und diese Bewegung weckt ihn
wieder. Da fährt er vom Stuhle auf.

Dumpf aus dem Hühnerställe kräht der Hahn. Es fällt Karl ein, daß die
Hühner noch nicht herausgelassen und noch nicht gefüttert sind. Das tut er jetzt
und streut dem hungrigen Vieh Gerste hin.

Über dem Füttern hört Karl das Tor aufklinken. Sein Blick sucht nach
einer Waffe. So oft das Tor geht, denkt er an feindliche Eindringlinge. Seit
gestern Abend muß er so denken. Er springt an den Dunghaufen und zieht die
vierzinkige Gabel heraus.

Es ist der Gurkeuhändler, der nachfragt, wann er die Gurken holen könne.

In zwei Stunden könne das geschehen, erklärt der Bursche, denn jetzt habe
er zuerst ein paar Gänge zu tun, die sich nicht hinausschieben ließen, weil sonst
die Leute im Felde und zu Hause nicht mehr zu treffen wären.

Karl verschließt dann Haus und Hof und macht sich auf zu den Bauern,
die er bitten will, die Leiche des Vaters auf den Friedhof zu tragen.

Zuerst geht er zum Wirbels Peter. Doch der ist schon nicht mehr daheim.
Aber seine Mutter ist da. Sie hängt gerade Wäsche zum Trocknen auf eine Leine.
Wie das Tor zufährt, unterbricht sie die Arbeit und schaut auf. Karl grüßt die


Karl Salzcr

Hannes Holtner steigt auf den Kutscherbock. Sein langer Oberkörper ragt
weit über das Lederdach der Kutsche hinaus. Er nimmt die Peitsche aus dem
Köcher, wickelt die Zügelriemen von der Bremse neben dem Sitze, an die er sie
zuvor befestigt hat, heißt den Burschen das Tor aufmachen und dann: Hüohü,
Schimmel, hopp!

Karl sieht dem Wagen nach. Das grauschwarze Lederdach schwankt. Das
lackierte, aber schon längst blind gewordene Untergestell gärrt und knarrt. Man
hört das noch, nachdem die Kutsche schon um die Ecke verschwunden ist.

Der Bursche schließt das Tor wieder und geht ins Haus.

8.

Karl hat das Schlafzimmer ein wenig in Ordnung gebracht und sitzt nun
auf einem Stuhl, denn er ist schon wieder müde. So knapp nach dem Ausstehen
schon wieder müde, denkt er und gähnt. Seine Arme sind schwer; er läßt sie zu
beiden Seiten hinabbaumeln. Sein Körper rutscht schlaff zusammen.

So sitzt er eine Weile da. Es ist ganz still im Haus. Daß man hin und
wieder von der Straße das Gerassel eines vorbeifahrenden Wagens oder einen
Bauer mit der Peitsche klappern hört, läßt diese Stille im Hause noch tiefer und
unheimlicher erscheinen. Karl schaudert und meint, er höre ein Seufzen und
Stöhnen und Ächzen droben über der Decke, wo der Vater im Sarge liegt. Es
ist ihm eigentlich doch lieber, daß er schon im Sarge liegt und daß der Sarg
schon verschraubt ist. Man hat da weniger Bangigkeit. Aber was braucht man
sich zu fürchten? Da entdeckt der Bursche, daß ein Unterschied ist zwischen Bangigkeit
und Furcht. Denn Furcht ist für ihn das gleiche wie Mutlosigkeit, Feigheit.
Diese kann man überwinden; er kann sie überwinden. Unter der Bangigkeit muß
man leiden, bis sie von der Gewohnheit vertrieben wird.

Er schlummert ein. Der Kopf sinkt ihm langsam auf die Brust. Seine
Schwere zieht auch den Oberkörper vornüber, und diese Bewegung weckt ihn
wieder. Da fährt er vom Stuhle auf.

Dumpf aus dem Hühnerställe kräht der Hahn. Es fällt Karl ein, daß die
Hühner noch nicht herausgelassen und noch nicht gefüttert sind. Das tut er jetzt
und streut dem hungrigen Vieh Gerste hin.

Über dem Füttern hört Karl das Tor aufklinken. Sein Blick sucht nach
einer Waffe. So oft das Tor geht, denkt er an feindliche Eindringlinge. Seit
gestern Abend muß er so denken. Er springt an den Dunghaufen und zieht die
vierzinkige Gabel heraus.

Es ist der Gurkeuhändler, der nachfragt, wann er die Gurken holen könne.

In zwei Stunden könne das geschehen, erklärt der Bursche, denn jetzt habe
er zuerst ein paar Gänge zu tun, die sich nicht hinausschieben ließen, weil sonst
die Leute im Felde und zu Hause nicht mehr zu treffen wären.

Karl verschließt dann Haus und Hof und macht sich auf zu den Bauern,
die er bitten will, die Leiche des Vaters auf den Friedhof zu tragen.

Zuerst geht er zum Wirbels Peter. Doch der ist schon nicht mehr daheim.
Aber seine Mutter ist da. Sie hängt gerade Wäsche zum Trocknen auf eine Leine.
Wie das Tor zufährt, unterbricht sie die Arbeit und schaut auf. Karl grüßt die


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_322400/140>, abgerufen am 15.01.2025.