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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr.

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Der Arme Heinrich

Kehren wir aber zu Hartmann und Hauptmann zurück. Abgesehen von
Episch und Dramatisch, von Stoff und Auffassung ist ein gewaltiger Unterschied
im rein Technischen, das der Poetik zuzählt, auffällig und beachtenswert. Hart¬
manns Personen stehen frei in klarer Lust, Hauptmann hat sie mit tausend
Fäden an die Erde geknüpft. Hartmann verfügt über eine schlichte, rein epische
Technik, über einen einfachen Ausdruck, über lebendige Bilder und unverbrauchte
Kunstmittel. Die Moderne kann offenbar nicht mehr so einfach darstellen, der
neuere Dramatiker benötigt einen unendlich größeren Aufwand. Was an Mitteln
für die äußere Inszenierung, für Brauch der Zeit, Schmuck und Tracht, Nahrung
und Mahlzeit, Jagd und Waffen, Krieg und Kampf, Bildung und Wissen,
Verkehr und Umgang aufgewendet wird, ergibt einen ungeheuren Apparat, an
dem alle Gebiete moderner Wissenschaft und Kenntnis ihren Anteil haben.
Insbesondere deutlich könnte das zum Beispiel gezeigt werden, wollte ich hier
in Ausführlichkeit die Einschläge aus den Reichen der Natur vergleichend auf¬
zählen, wie sie sich bei den beiden Dichtern finden. Während Hartmann mit
zwei bis drei, bildlich und ausdrücklich gebrauchten Namen sein Auskommen
findet, zeigt sich bei Hauptmann eine ungezählte Fülle von Worten für Baum
und Blume, Tier und Stein. Auch das Naturgefühl selbst, das sich in der
Poesie allmählich in den Werten des Kontrastes und der Parallele Heimatsrecht
erworben hat, fehlt ja im Epos Hartmanns noch völlig.

Hauptmann bleibt im "Armen Heinrich" der Antike fern, er benützt
gelegentlich den Koran und insbesondere die Bibel. Rechtsfragen, wie sie
Hartmann nicht ungern behandelt (Standesunterschiede und ähnliches), hat er
eher verwischt oder vermieden. Naturgemäß ist im Drama das Lokal breiter
ausgeführt (der Meierhof usw.) und die Handlung in reiche örtliche Beziehungen
hineingestellt. Der Schauplatz ist vornehmlich der Schwarzwald, wie bei Long-
fellow der Odenwald und die Gegend am Rhein. -- Hauptmanns Sprache ist
reich, nicht selten archaisierend. Herr und Knecht sind in der Rede nicht unter¬
schieden. Historische Irrtümer sind selten und nicht von Belang. Schlimmer,
ja unbegreiflich ist eine grobe Nachlässigkeit in der chronologischen Führung des
Dramas: der erste Akt spielt im Herbst, der zweite im Winter und der dritte,
zeitlich folgende wieder im Herbst desselben Jahres.

Hauptmann und Hartmann! Eines modernen Urteils will ich mich füglich
enthalten. Jede der beiden Heinrich - Dichtungen will genossen und sür sich
gewürdigt werden, nicht die eine auf Kosten der anderen gelobt. Sie wurzeln
in allzu verschiedenen Zeiten, die wir wohl gegeneinander abgrenzen, über die
wir aber nicht aburteilen sollen. Jede Zeit hat ihre Werte, und im Grunde
lebt jeder Mensch in der Zeit, die ihm gebührt. Ist er stark genug, sich darüber
zu erheben und die Außenstehenden nach eigenem Willen zu modeln und ihnen
sein Gepräge aufzudrücken, so beugen wir uns seiner Stärke. Ist seine Tatkraft
zu schwach, sein Wollen nicht stark genug, gelingt es ihm nur mangelhaft oder
versucht er's glücklos, so bleibt ihm nur übrig, sich zu bescheiden.


Der Arme Heinrich

Kehren wir aber zu Hartmann und Hauptmann zurück. Abgesehen von
Episch und Dramatisch, von Stoff und Auffassung ist ein gewaltiger Unterschied
im rein Technischen, das der Poetik zuzählt, auffällig und beachtenswert. Hart¬
manns Personen stehen frei in klarer Lust, Hauptmann hat sie mit tausend
Fäden an die Erde geknüpft. Hartmann verfügt über eine schlichte, rein epische
Technik, über einen einfachen Ausdruck, über lebendige Bilder und unverbrauchte
Kunstmittel. Die Moderne kann offenbar nicht mehr so einfach darstellen, der
neuere Dramatiker benötigt einen unendlich größeren Aufwand. Was an Mitteln
für die äußere Inszenierung, für Brauch der Zeit, Schmuck und Tracht, Nahrung
und Mahlzeit, Jagd und Waffen, Krieg und Kampf, Bildung und Wissen,
Verkehr und Umgang aufgewendet wird, ergibt einen ungeheuren Apparat, an
dem alle Gebiete moderner Wissenschaft und Kenntnis ihren Anteil haben.
Insbesondere deutlich könnte das zum Beispiel gezeigt werden, wollte ich hier
in Ausführlichkeit die Einschläge aus den Reichen der Natur vergleichend auf¬
zählen, wie sie sich bei den beiden Dichtern finden. Während Hartmann mit
zwei bis drei, bildlich und ausdrücklich gebrauchten Namen sein Auskommen
findet, zeigt sich bei Hauptmann eine ungezählte Fülle von Worten für Baum
und Blume, Tier und Stein. Auch das Naturgefühl selbst, das sich in der
Poesie allmählich in den Werten des Kontrastes und der Parallele Heimatsrecht
erworben hat, fehlt ja im Epos Hartmanns noch völlig.

Hauptmann bleibt im „Armen Heinrich" der Antike fern, er benützt
gelegentlich den Koran und insbesondere die Bibel. Rechtsfragen, wie sie
Hartmann nicht ungern behandelt (Standesunterschiede und ähnliches), hat er
eher verwischt oder vermieden. Naturgemäß ist im Drama das Lokal breiter
ausgeführt (der Meierhof usw.) und die Handlung in reiche örtliche Beziehungen
hineingestellt. Der Schauplatz ist vornehmlich der Schwarzwald, wie bei Long-
fellow der Odenwald und die Gegend am Rhein. — Hauptmanns Sprache ist
reich, nicht selten archaisierend. Herr und Knecht sind in der Rede nicht unter¬
schieden. Historische Irrtümer sind selten und nicht von Belang. Schlimmer,
ja unbegreiflich ist eine grobe Nachlässigkeit in der chronologischen Führung des
Dramas: der erste Akt spielt im Herbst, der zweite im Winter und der dritte,
zeitlich folgende wieder im Herbst desselben Jahres.

Hauptmann und Hartmann! Eines modernen Urteils will ich mich füglich
enthalten. Jede der beiden Heinrich - Dichtungen will genossen und sür sich
gewürdigt werden, nicht die eine auf Kosten der anderen gelobt. Sie wurzeln
in allzu verschiedenen Zeiten, die wir wohl gegeneinander abgrenzen, über die
wir aber nicht aburteilen sollen. Jede Zeit hat ihre Werte, und im Grunde
lebt jeder Mensch in der Zeit, die ihm gebührt. Ist er stark genug, sich darüber
zu erheben und die Außenstehenden nach eigenem Willen zu modeln und ihnen
sein Gepräge aufzudrücken, so beugen wir uns seiner Stärke. Ist seine Tatkraft
zu schwach, sein Wollen nicht stark genug, gelingt es ihm nur mangelhaft oder
versucht er's glücklos, so bleibt ihm nur übrig, sich zu bescheiden.


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[0127] Der Arme Heinrich Kehren wir aber zu Hartmann und Hauptmann zurück. Abgesehen von Episch und Dramatisch, von Stoff und Auffassung ist ein gewaltiger Unterschied im rein Technischen, das der Poetik zuzählt, auffällig und beachtenswert. Hart¬ manns Personen stehen frei in klarer Lust, Hauptmann hat sie mit tausend Fäden an die Erde geknüpft. Hartmann verfügt über eine schlichte, rein epische Technik, über einen einfachen Ausdruck, über lebendige Bilder und unverbrauchte Kunstmittel. Die Moderne kann offenbar nicht mehr so einfach darstellen, der neuere Dramatiker benötigt einen unendlich größeren Aufwand. Was an Mitteln für die äußere Inszenierung, für Brauch der Zeit, Schmuck und Tracht, Nahrung und Mahlzeit, Jagd und Waffen, Krieg und Kampf, Bildung und Wissen, Verkehr und Umgang aufgewendet wird, ergibt einen ungeheuren Apparat, an dem alle Gebiete moderner Wissenschaft und Kenntnis ihren Anteil haben. Insbesondere deutlich könnte das zum Beispiel gezeigt werden, wollte ich hier in Ausführlichkeit die Einschläge aus den Reichen der Natur vergleichend auf¬ zählen, wie sie sich bei den beiden Dichtern finden. Während Hartmann mit zwei bis drei, bildlich und ausdrücklich gebrauchten Namen sein Auskommen findet, zeigt sich bei Hauptmann eine ungezählte Fülle von Worten für Baum und Blume, Tier und Stein. Auch das Naturgefühl selbst, das sich in der Poesie allmählich in den Werten des Kontrastes und der Parallele Heimatsrecht erworben hat, fehlt ja im Epos Hartmanns noch völlig. Hauptmann bleibt im „Armen Heinrich" der Antike fern, er benützt gelegentlich den Koran und insbesondere die Bibel. Rechtsfragen, wie sie Hartmann nicht ungern behandelt (Standesunterschiede und ähnliches), hat er eher verwischt oder vermieden. Naturgemäß ist im Drama das Lokal breiter ausgeführt (der Meierhof usw.) und die Handlung in reiche örtliche Beziehungen hineingestellt. Der Schauplatz ist vornehmlich der Schwarzwald, wie bei Long- fellow der Odenwald und die Gegend am Rhein. — Hauptmanns Sprache ist reich, nicht selten archaisierend. Herr und Knecht sind in der Rede nicht unter¬ schieden. Historische Irrtümer sind selten und nicht von Belang. Schlimmer, ja unbegreiflich ist eine grobe Nachlässigkeit in der chronologischen Führung des Dramas: der erste Akt spielt im Herbst, der zweite im Winter und der dritte, zeitlich folgende wieder im Herbst desselben Jahres. Hauptmann und Hartmann! Eines modernen Urteils will ich mich füglich enthalten. Jede der beiden Heinrich - Dichtungen will genossen und sür sich gewürdigt werden, nicht die eine auf Kosten der anderen gelobt. Sie wurzeln in allzu verschiedenen Zeiten, die wir wohl gegeneinander abgrenzen, über die wir aber nicht aburteilen sollen. Jede Zeit hat ihre Werte, und im Grunde lebt jeder Mensch in der Zeit, die ihm gebührt. Ist er stark genug, sich darüber zu erheben und die Außenstehenden nach eigenem Willen zu modeln und ihnen sein Gepräge aufzudrücken, so beugen wir uns seiner Stärke. Ist seine Tatkraft zu schwach, sein Wollen nicht stark genug, gelingt es ihm nur mangelhaft oder versucht er's glücklos, so bleibt ihm nur übrig, sich zu bescheiden.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_322400/127>, abgerufen am 15.01.2025.