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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr.

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Der Arme Heinrich

Heinrich selbst am Ende des zweiten Aktes in machtvoll ausbrechender Rede
das Geständnis seiner Krankheit in die Welt wirst. Das ist eine ganz
große Szene, die mit starker dramatischer Wirkung eine sorgfältig aus¬
gearbeitete Steigerung beschließt. Sie gehört dem Bühnendichter, welcher
die in der epischen Chronologie schlicht aufeinander folgenden Ereignisse kunstvoll
disponiert.

Eine andere Änderung, ein Angelpunkt der Neugestaltung liegt hingegen
in der Charakterzeichnung der Meierstochter. In einer von Hartmann mit
kunstreichem Ebenmaß erbauten epischen Szene erfährt sie vom Aussatz ihres
Herrn, von dem die Eltern längst wissen, und von der Möglichkeit der Heilung.
Um himmlischen Lohnes willen beschließt sie, für Heinrich zu sterben, und unter
der Macht dieses unirdischen Beweggrundes bricht schließlich auch der Widerstand
der Eltern. Chamisso hat diese allmählich und hart gewonnene Zustimmung
der Eltern in klarer Steigerung auf drei Nächte verteilt; Longfellow begründet
den Entschluß überhaupt nicht. In Hauptmanns Dichtung ist alles verwickelter
und vielfach zusammengesetzt. Ottegebe -- so nennt er die Pächterstochter --
weiß von vornherein vom Aussatz. Sie ist als ein bleichsüchtiges Kind gezeichnet,
an der Grenze der Jungfräulichkeit, mit krankhaftem Gebaren, Fieberkrämpfen
und hysterischen Ausbrüchen, mit asketischen Neigungen, die ihre Körperhaftigkeit
herabsetzen, daß ihr zarter Leib fast wesenlos im Dunkeln zu leuchten scheint.
In diesem Kinde ringt die unausgesprochene Liebe zum Entschluß hin, für den
Herrn, den Geliebten, den Tod zu leiden, aber sie verbirgt sich hinter der
religiösen Verzückung, die wahrhaft und ebenso ungebändigt in dem Mädchen
lebt. Dieser Zwiespalt martert das zarte Herzchen: "Ich rang um seine Seele
nicht!" klagt Ottegebe. Auch bei Hartmann findet sich ein Unterton dieser
hoffnungslosen, alles duldenden Liebe, daneben aber auch noch die praktische
Rücksicht auf die Wohlfahrt der Eltern, denen der gesundete Herr die Tat der
Tochter vergelten müßte. -- Hauptmann läßt eine Kinderliebe zwischen Heinrich
und Ottegebe vorangehen, eine zart ausgesponnene erste Neigung der Kinder
ans der Zeit, da Heinrich als Jungherr auf dem Meierhof weilte. Von dorther
leitet er Hartmanns liebliches Wort "mein klein Gemahl".

Im Drama sind die Pächtersleute nicht eines Sinnes, wie bei Hartmann.
Hauptmann, der sie unter den Namen Gottfried und Brigitte einführt (Gottfried
heißt der Pächter auch bei Longfellow), hat der dramatischen Lebendigkeit sehr
klug genützt, als er Brigitte zum widerspieleuden Charakter gestaltete, und dem
Elternpaare eiuen greisen Mönch, Ottcgebes vertrauten Beichtiger Benedikt, zu¬
gesellte. Ganz neu (und modern), aber in gutem Zusammenhange mit den
Ereignissen ist der Zug, daß die Anwesenheit Heinrichs auf dem Meierhofe
drückend empfunden wird, ja, daß Brigitte Heinrichs Tod wünscht. Überdies
ist Ottegebe das einzige Kind; bei Hartmann hat sie Geschwister, die zwar
farblos gehalten und nur erwähnt werden, immerhin den Eltern erhalten
bleiben.


Der Arme Heinrich

Heinrich selbst am Ende des zweiten Aktes in machtvoll ausbrechender Rede
das Geständnis seiner Krankheit in die Welt wirst. Das ist eine ganz
große Szene, die mit starker dramatischer Wirkung eine sorgfältig aus¬
gearbeitete Steigerung beschließt. Sie gehört dem Bühnendichter, welcher
die in der epischen Chronologie schlicht aufeinander folgenden Ereignisse kunstvoll
disponiert.

Eine andere Änderung, ein Angelpunkt der Neugestaltung liegt hingegen
in der Charakterzeichnung der Meierstochter. In einer von Hartmann mit
kunstreichem Ebenmaß erbauten epischen Szene erfährt sie vom Aussatz ihres
Herrn, von dem die Eltern längst wissen, und von der Möglichkeit der Heilung.
Um himmlischen Lohnes willen beschließt sie, für Heinrich zu sterben, und unter
der Macht dieses unirdischen Beweggrundes bricht schließlich auch der Widerstand
der Eltern. Chamisso hat diese allmählich und hart gewonnene Zustimmung
der Eltern in klarer Steigerung auf drei Nächte verteilt; Longfellow begründet
den Entschluß überhaupt nicht. In Hauptmanns Dichtung ist alles verwickelter
und vielfach zusammengesetzt. Ottegebe — so nennt er die Pächterstochter —
weiß von vornherein vom Aussatz. Sie ist als ein bleichsüchtiges Kind gezeichnet,
an der Grenze der Jungfräulichkeit, mit krankhaftem Gebaren, Fieberkrämpfen
und hysterischen Ausbrüchen, mit asketischen Neigungen, die ihre Körperhaftigkeit
herabsetzen, daß ihr zarter Leib fast wesenlos im Dunkeln zu leuchten scheint.
In diesem Kinde ringt die unausgesprochene Liebe zum Entschluß hin, für den
Herrn, den Geliebten, den Tod zu leiden, aber sie verbirgt sich hinter der
religiösen Verzückung, die wahrhaft und ebenso ungebändigt in dem Mädchen
lebt. Dieser Zwiespalt martert das zarte Herzchen: „Ich rang um seine Seele
nicht!" klagt Ottegebe. Auch bei Hartmann findet sich ein Unterton dieser
hoffnungslosen, alles duldenden Liebe, daneben aber auch noch die praktische
Rücksicht auf die Wohlfahrt der Eltern, denen der gesundete Herr die Tat der
Tochter vergelten müßte. — Hauptmann läßt eine Kinderliebe zwischen Heinrich
und Ottegebe vorangehen, eine zart ausgesponnene erste Neigung der Kinder
ans der Zeit, da Heinrich als Jungherr auf dem Meierhof weilte. Von dorther
leitet er Hartmanns liebliches Wort „mein klein Gemahl".

Im Drama sind die Pächtersleute nicht eines Sinnes, wie bei Hartmann.
Hauptmann, der sie unter den Namen Gottfried und Brigitte einführt (Gottfried
heißt der Pächter auch bei Longfellow), hat der dramatischen Lebendigkeit sehr
klug genützt, als er Brigitte zum widerspieleuden Charakter gestaltete, und dem
Elternpaare eiuen greisen Mönch, Ottcgebes vertrauten Beichtiger Benedikt, zu¬
gesellte. Ganz neu (und modern), aber in gutem Zusammenhange mit den
Ereignissen ist der Zug, daß die Anwesenheit Heinrichs auf dem Meierhofe
drückend empfunden wird, ja, daß Brigitte Heinrichs Tod wünscht. Überdies
ist Ottegebe das einzige Kind; bei Hartmann hat sie Geschwister, die zwar
farblos gehalten und nur erwähnt werden, immerhin den Eltern erhalten
bleiben.


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[0124] Der Arme Heinrich Heinrich selbst am Ende des zweiten Aktes in machtvoll ausbrechender Rede das Geständnis seiner Krankheit in die Welt wirst. Das ist eine ganz große Szene, die mit starker dramatischer Wirkung eine sorgfältig aus¬ gearbeitete Steigerung beschließt. Sie gehört dem Bühnendichter, welcher die in der epischen Chronologie schlicht aufeinander folgenden Ereignisse kunstvoll disponiert. Eine andere Änderung, ein Angelpunkt der Neugestaltung liegt hingegen in der Charakterzeichnung der Meierstochter. In einer von Hartmann mit kunstreichem Ebenmaß erbauten epischen Szene erfährt sie vom Aussatz ihres Herrn, von dem die Eltern längst wissen, und von der Möglichkeit der Heilung. Um himmlischen Lohnes willen beschließt sie, für Heinrich zu sterben, und unter der Macht dieses unirdischen Beweggrundes bricht schließlich auch der Widerstand der Eltern. Chamisso hat diese allmählich und hart gewonnene Zustimmung der Eltern in klarer Steigerung auf drei Nächte verteilt; Longfellow begründet den Entschluß überhaupt nicht. In Hauptmanns Dichtung ist alles verwickelter und vielfach zusammengesetzt. Ottegebe — so nennt er die Pächterstochter — weiß von vornherein vom Aussatz. Sie ist als ein bleichsüchtiges Kind gezeichnet, an der Grenze der Jungfräulichkeit, mit krankhaftem Gebaren, Fieberkrämpfen und hysterischen Ausbrüchen, mit asketischen Neigungen, die ihre Körperhaftigkeit herabsetzen, daß ihr zarter Leib fast wesenlos im Dunkeln zu leuchten scheint. In diesem Kinde ringt die unausgesprochene Liebe zum Entschluß hin, für den Herrn, den Geliebten, den Tod zu leiden, aber sie verbirgt sich hinter der religiösen Verzückung, die wahrhaft und ebenso ungebändigt in dem Mädchen lebt. Dieser Zwiespalt martert das zarte Herzchen: „Ich rang um seine Seele nicht!" klagt Ottegebe. Auch bei Hartmann findet sich ein Unterton dieser hoffnungslosen, alles duldenden Liebe, daneben aber auch noch die praktische Rücksicht auf die Wohlfahrt der Eltern, denen der gesundete Herr die Tat der Tochter vergelten müßte. — Hauptmann läßt eine Kinderliebe zwischen Heinrich und Ottegebe vorangehen, eine zart ausgesponnene erste Neigung der Kinder ans der Zeit, da Heinrich als Jungherr auf dem Meierhof weilte. Von dorther leitet er Hartmanns liebliches Wort „mein klein Gemahl". Im Drama sind die Pächtersleute nicht eines Sinnes, wie bei Hartmann. Hauptmann, der sie unter den Namen Gottfried und Brigitte einführt (Gottfried heißt der Pächter auch bei Longfellow), hat der dramatischen Lebendigkeit sehr klug genützt, als er Brigitte zum widerspieleuden Charakter gestaltete, und dem Elternpaare eiuen greisen Mönch, Ottcgebes vertrauten Beichtiger Benedikt, zu¬ gesellte. Ganz neu (und modern), aber in gutem Zusammenhange mit den Ereignissen ist der Zug, daß die Anwesenheit Heinrichs auf dem Meierhofe drückend empfunden wird, ja, daß Brigitte Heinrichs Tod wünscht. Überdies ist Ottegebe das einzige Kind; bei Hartmann hat sie Geschwister, die zwar farblos gehalten und nur erwähnt werden, immerhin den Eltern erhalten bleiben.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_322400/124>, abgerufen am 15.01.2025.