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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr.

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Der Arme Heinrich

Goethe, "wirkt wenigstens auf much so gewaltsam, daß ich mich vom bloßen
Berühren eines solchen Buches schon angesteckt glaube." Wie seltsam klingt
gegen dies Urteil des Philhellenen das liebenswürdige Wort des dem Mittelalter
vertrauten Jakob Grimm: "Die kleine Erzählung ... ist mit solcher Milde
und Reinigkeit aus der Seele des Dichters hervorgegangen, daß man die
Einfachheit und Meisterhaftigkeit seiner Arbeit mit nichts wahrer vergleichen kann,
als mit der bescheidenen fleckenlosen Tugend der Handlung selbst, welche uns
geschildert wird. ... Die Rede braucht hier keine Blumen, das Ganze hinterläßt
den reinen erquickenden Eindruck wohlriechender Kräuter."

Der Wandel, den die Geschichte des Armen Heinrich in sieben Jahrhunderten
deutscher Poesie erfahren hat, läßt uns nicht bloß die Veränderung des Erfassens
und Gestaltens erkennen. In Hellem Licht zeigt sich die Entwicklung des Schauens,
des Denkens und Dichtens, der Geistesrichtung überhaupt, am deutlichsten an
den beiden Enden der langen Reihe widergespiegelt, und wie an vielflächigen
feingeschliffenen Kristallen gebrochen und in einzelne Farben zerlegt. Hartmann
und Hauptmann! Die beiden dürfen uns -- ihren Zeit- und Ewigkeitswert
unbeschadet -- füglich als gültige Vertreter ihrer Zeiten erscheinen; für die
übrigen wird da und dort ein Seitenblick ausreichen.

Die Fabel ist im wesentlichen dieselbe geblieben: Der Ritter Heinrich von Ane
wird vom Aussatz befallen und zieht sich von aller Welt auf einen einsamen
Meierhof zurück. Eine Tochter der Pächtersleute ist willens, sich für ihren
kranken Herrn zu opfern, denn ein Arzt zu Salerne hat sich erbötig gemacht,
die Krankheit durch das Herzblut einer reinen Jungfrau zu heilen. So zieht
der Aussätzige mit dem Mädchen nach Italien. Schon soll die Blutheilung vor
sich gehen, da reut es den Ritter, und er verhindert das Unterfangen. Im
Zusammenhang mit dieser selbstlosen Tat genest Heinrich ohne menschliche Hilfe
und erhebt, rein und gesund in die Heimat zurückgekehrt, das Pächterskind zur
Gattin.

Diese einfache Begebenheit hat Hartmann durch ein starkes inneres Band
zur Handlung zusammengeschlossen: Heinrich, der allerdings alle Vollkommen¬
heiten der Welt besaß, in allen Dingen ein "xvunsLkIebön" führte und auch
ethisch gut war, fehlt nach der Auffassung des Mittelalters doch darin, daß er
seine Vorzüge anstatt Gott, sich selbst zu verdanken meinte. Darum versucht
ihn Gott mit der scheußlichsten Krankheit solange, bis er seinen Willen beugte.
"Gott schwang seine Geißel über den Weltseligen" sagt Chamisso, dem wir
eine wundersame, nur viel zu wenig bekannte poetische Erneuerung des mittel¬
hochdeutschen Gedichtes verdanken. Über dieses selbst unterrichtet Anton E. Schön¬
bach in seinem Buch über Hartmann von Ane, das dem modernen Empfinden
den Geist des Mittelalters erläutert.

Das Thema von Strafe und Versöhnung beherrscht also das alte Epos
und verleiht ihm seine innere festgefügte Geschlossenheit. Gerade diese stärkste
Verkettung aber, die nur aus unerschütterter naiver Glaubensfreude entsprießen


Der Arme Heinrich

Goethe, „wirkt wenigstens auf much so gewaltsam, daß ich mich vom bloßen
Berühren eines solchen Buches schon angesteckt glaube." Wie seltsam klingt
gegen dies Urteil des Philhellenen das liebenswürdige Wort des dem Mittelalter
vertrauten Jakob Grimm: „Die kleine Erzählung ... ist mit solcher Milde
und Reinigkeit aus der Seele des Dichters hervorgegangen, daß man die
Einfachheit und Meisterhaftigkeit seiner Arbeit mit nichts wahrer vergleichen kann,
als mit der bescheidenen fleckenlosen Tugend der Handlung selbst, welche uns
geschildert wird. ... Die Rede braucht hier keine Blumen, das Ganze hinterläßt
den reinen erquickenden Eindruck wohlriechender Kräuter."

Der Wandel, den die Geschichte des Armen Heinrich in sieben Jahrhunderten
deutscher Poesie erfahren hat, läßt uns nicht bloß die Veränderung des Erfassens
und Gestaltens erkennen. In Hellem Licht zeigt sich die Entwicklung des Schauens,
des Denkens und Dichtens, der Geistesrichtung überhaupt, am deutlichsten an
den beiden Enden der langen Reihe widergespiegelt, und wie an vielflächigen
feingeschliffenen Kristallen gebrochen und in einzelne Farben zerlegt. Hartmann
und Hauptmann! Die beiden dürfen uns — ihren Zeit- und Ewigkeitswert
unbeschadet — füglich als gültige Vertreter ihrer Zeiten erscheinen; für die
übrigen wird da und dort ein Seitenblick ausreichen.

Die Fabel ist im wesentlichen dieselbe geblieben: Der Ritter Heinrich von Ane
wird vom Aussatz befallen und zieht sich von aller Welt auf einen einsamen
Meierhof zurück. Eine Tochter der Pächtersleute ist willens, sich für ihren
kranken Herrn zu opfern, denn ein Arzt zu Salerne hat sich erbötig gemacht,
die Krankheit durch das Herzblut einer reinen Jungfrau zu heilen. So zieht
der Aussätzige mit dem Mädchen nach Italien. Schon soll die Blutheilung vor
sich gehen, da reut es den Ritter, und er verhindert das Unterfangen. Im
Zusammenhang mit dieser selbstlosen Tat genest Heinrich ohne menschliche Hilfe
und erhebt, rein und gesund in die Heimat zurückgekehrt, das Pächterskind zur
Gattin.

Diese einfache Begebenheit hat Hartmann durch ein starkes inneres Band
zur Handlung zusammengeschlossen: Heinrich, der allerdings alle Vollkommen¬
heiten der Welt besaß, in allen Dingen ein „xvunsLkIebön" führte und auch
ethisch gut war, fehlt nach der Auffassung des Mittelalters doch darin, daß er
seine Vorzüge anstatt Gott, sich selbst zu verdanken meinte. Darum versucht
ihn Gott mit der scheußlichsten Krankheit solange, bis er seinen Willen beugte.
„Gott schwang seine Geißel über den Weltseligen" sagt Chamisso, dem wir
eine wundersame, nur viel zu wenig bekannte poetische Erneuerung des mittel¬
hochdeutschen Gedichtes verdanken. Über dieses selbst unterrichtet Anton E. Schön¬
bach in seinem Buch über Hartmann von Ane, das dem modernen Empfinden
den Geist des Mittelalters erläutert.

Das Thema von Strafe und Versöhnung beherrscht also das alte Epos
und verleiht ihm seine innere festgefügte Geschlossenheit. Gerade diese stärkste
Verkettung aber, die nur aus unerschütterter naiver Glaubensfreude entsprießen


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[0122] Der Arme Heinrich Goethe, „wirkt wenigstens auf much so gewaltsam, daß ich mich vom bloßen Berühren eines solchen Buches schon angesteckt glaube." Wie seltsam klingt gegen dies Urteil des Philhellenen das liebenswürdige Wort des dem Mittelalter vertrauten Jakob Grimm: „Die kleine Erzählung ... ist mit solcher Milde und Reinigkeit aus der Seele des Dichters hervorgegangen, daß man die Einfachheit und Meisterhaftigkeit seiner Arbeit mit nichts wahrer vergleichen kann, als mit der bescheidenen fleckenlosen Tugend der Handlung selbst, welche uns geschildert wird. ... Die Rede braucht hier keine Blumen, das Ganze hinterläßt den reinen erquickenden Eindruck wohlriechender Kräuter." Der Wandel, den die Geschichte des Armen Heinrich in sieben Jahrhunderten deutscher Poesie erfahren hat, läßt uns nicht bloß die Veränderung des Erfassens und Gestaltens erkennen. In Hellem Licht zeigt sich die Entwicklung des Schauens, des Denkens und Dichtens, der Geistesrichtung überhaupt, am deutlichsten an den beiden Enden der langen Reihe widergespiegelt, und wie an vielflächigen feingeschliffenen Kristallen gebrochen und in einzelne Farben zerlegt. Hartmann und Hauptmann! Die beiden dürfen uns — ihren Zeit- und Ewigkeitswert unbeschadet — füglich als gültige Vertreter ihrer Zeiten erscheinen; für die übrigen wird da und dort ein Seitenblick ausreichen. Die Fabel ist im wesentlichen dieselbe geblieben: Der Ritter Heinrich von Ane wird vom Aussatz befallen und zieht sich von aller Welt auf einen einsamen Meierhof zurück. Eine Tochter der Pächtersleute ist willens, sich für ihren kranken Herrn zu opfern, denn ein Arzt zu Salerne hat sich erbötig gemacht, die Krankheit durch das Herzblut einer reinen Jungfrau zu heilen. So zieht der Aussätzige mit dem Mädchen nach Italien. Schon soll die Blutheilung vor sich gehen, da reut es den Ritter, und er verhindert das Unterfangen. Im Zusammenhang mit dieser selbstlosen Tat genest Heinrich ohne menschliche Hilfe und erhebt, rein und gesund in die Heimat zurückgekehrt, das Pächterskind zur Gattin. Diese einfache Begebenheit hat Hartmann durch ein starkes inneres Band zur Handlung zusammengeschlossen: Heinrich, der allerdings alle Vollkommen¬ heiten der Welt besaß, in allen Dingen ein „xvunsLkIebön" führte und auch ethisch gut war, fehlt nach der Auffassung des Mittelalters doch darin, daß er seine Vorzüge anstatt Gott, sich selbst zu verdanken meinte. Darum versucht ihn Gott mit der scheußlichsten Krankheit solange, bis er seinen Willen beugte. „Gott schwang seine Geißel über den Weltseligen" sagt Chamisso, dem wir eine wundersame, nur viel zu wenig bekannte poetische Erneuerung des mittel¬ hochdeutschen Gedichtes verdanken. Über dieses selbst unterrichtet Anton E. Schön¬ bach in seinem Buch über Hartmann von Ane, das dem modernen Empfinden den Geist des Mittelalters erläutert. Das Thema von Strafe und Versöhnung beherrscht also das alte Epos und verleiht ihm seine innere festgefügte Geschlossenheit. Gerade diese stärkste Verkettung aber, die nur aus unerschütterter naiver Glaubensfreude entsprießen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_322400/122>, abgerufen am 15.01.2025.