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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr.

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Reichsspiegel

Effektenmärkte. Unter den größten Ansätzen wurden die Kurse der Jndustrie-
papiere von Etappe zu Etappe gesteigert. Je weitere Kreise die Spekulation
zog, um so mehr vergrößerte sich die Zahl der schwachen Hände und besonders
in den Kassaindustriepapieren, welche großenteils nie gesehene Kurse erklommen
hatten, waren enorme Summen aus Kredit gekauft. Diese ganz einseitige
Spekulation auf die Hauffe bot bei dem hohen Kursstand der Papiere, der
längst nicht mehr eine ausreichende Risikoprämie gewährleistete, ganz außer¬
ordentliche Gefahren. Die Verhältnisse lagen an den kontinentalen Börsen
gleichmäßig; wie in Berlin, so war auch in Wien, Petersburg und Paris eine
Überspekulation vorhanden, die alle Merkmale einer ungesunden Entwicklung
aufwies. Unter diesen Umständen mußte der plötzliche Kriegsschrecken, auf den
die Börsen nicht im mindesten gefaßt waren, geradezu vernichtend wirken. Ein
kopfloser Verkaufsandrang setzte ein, die Kurse fielen haltlos, da Käufer nicht vor¬
handen waren und die Banken bei der Unübersichtlichkeit der Situation vorerst
nicht intervenierten. So war für einzelne Werte, obwohl sie bisher zu den Favorit¬
papieren gezählt hatten, wie die Aktien der Akkumnlatorenfabrik, überhaupt keine
Notiz zustande zu bringen, der Kurs mußte gestrichen werden. Andere Papiere
der gleichen Klasse erlitten enorme Verluste; so sanken die Aktien der Vogt¬
ländischen Maschinenfabrik, die im Frühjahr den Anlaß zu dem bekannten Ein¬
schreiten des Staatskommissars gegeben hatten, an den beiden ersten Schreckens¬
tagen um volle 100 Prozent. Von der Größe des Verkaufsandranges kann
man sich ein Bild machen, wenn man hört, daß am ersten Tage etwa eine
Million Gelsenkirchener und über zwei Millionen Kanadaaktien angeboten waren.
Kein Wunder, wenn die führenden Montanwerte, die Schiffahrts- und Elektrizitäts-
aklien sämtlich 10 bis 20 Prozent im Preise sanken. Solche Entwertung hatte
natürlich Zwangsverkäufe und Selbstexekutionen im größten Umfang zur Folge,
so daß die schwachen Positionen zum Teil mit enormen Verlusten liquidiert
wurden. Dieser schmerzliche Zusammenbruch der Börse war indessen nicht sowohl
in den realen Verhältnissen als in der Kopflosigkeit begründet, welche die Börse
überraschenden Situationen gegenüber häufig an den Tag zu legen pflegt, und
er gewann eine solche Größe nur infolge der börsentechnisch ungünstigen Markt¬
lage. Es fehlte das Ventil der Baissespekulation. Das zeigte sich sofort, als
der Markt von den schwachen Elementen gereinigt war und nach dem ersten
Schrecken wieder ruhige Überlegung Platz griff. In diesem Moment hörte
nicht nur der Verkaufsandrang auf, sondern es vollzog sich ein vollständiger
Tendenzumschwung. Stürmische Rückkäufe ließen die Kurse alsbald wieder derart
in die Höhe schnellen, daß der unbeteiligte Beobachter auch in diesem Verhalten
des Marktes nur eine unbedachte Übertreibung zu sehen vermag.

Will man die augenblickliche Situation, die unklar und gefahrdrohend
genug ist, zutreffend würdigen, so muß man sich folgendes vor Augen halten.

Die weltwirtschaftliche Konjunktur befindet sich gegenwärtig in einem
Aufstieg, der an Intensität, Umfang und gesunder Grundlage die Periode der


Reichsspiegel

Effektenmärkte. Unter den größten Ansätzen wurden die Kurse der Jndustrie-
papiere von Etappe zu Etappe gesteigert. Je weitere Kreise die Spekulation
zog, um so mehr vergrößerte sich die Zahl der schwachen Hände und besonders
in den Kassaindustriepapieren, welche großenteils nie gesehene Kurse erklommen
hatten, waren enorme Summen aus Kredit gekauft. Diese ganz einseitige
Spekulation auf die Hauffe bot bei dem hohen Kursstand der Papiere, der
längst nicht mehr eine ausreichende Risikoprämie gewährleistete, ganz außer¬
ordentliche Gefahren. Die Verhältnisse lagen an den kontinentalen Börsen
gleichmäßig; wie in Berlin, so war auch in Wien, Petersburg und Paris eine
Überspekulation vorhanden, die alle Merkmale einer ungesunden Entwicklung
aufwies. Unter diesen Umständen mußte der plötzliche Kriegsschrecken, auf den
die Börsen nicht im mindesten gefaßt waren, geradezu vernichtend wirken. Ein
kopfloser Verkaufsandrang setzte ein, die Kurse fielen haltlos, da Käufer nicht vor¬
handen waren und die Banken bei der Unübersichtlichkeit der Situation vorerst
nicht intervenierten. So war für einzelne Werte, obwohl sie bisher zu den Favorit¬
papieren gezählt hatten, wie die Aktien der Akkumnlatorenfabrik, überhaupt keine
Notiz zustande zu bringen, der Kurs mußte gestrichen werden. Andere Papiere
der gleichen Klasse erlitten enorme Verluste; so sanken die Aktien der Vogt¬
ländischen Maschinenfabrik, die im Frühjahr den Anlaß zu dem bekannten Ein¬
schreiten des Staatskommissars gegeben hatten, an den beiden ersten Schreckens¬
tagen um volle 100 Prozent. Von der Größe des Verkaufsandranges kann
man sich ein Bild machen, wenn man hört, daß am ersten Tage etwa eine
Million Gelsenkirchener und über zwei Millionen Kanadaaktien angeboten waren.
Kein Wunder, wenn die führenden Montanwerte, die Schiffahrts- und Elektrizitäts-
aklien sämtlich 10 bis 20 Prozent im Preise sanken. Solche Entwertung hatte
natürlich Zwangsverkäufe und Selbstexekutionen im größten Umfang zur Folge,
so daß die schwachen Positionen zum Teil mit enormen Verlusten liquidiert
wurden. Dieser schmerzliche Zusammenbruch der Börse war indessen nicht sowohl
in den realen Verhältnissen als in der Kopflosigkeit begründet, welche die Börse
überraschenden Situationen gegenüber häufig an den Tag zu legen pflegt, und
er gewann eine solche Größe nur infolge der börsentechnisch ungünstigen Markt¬
lage. Es fehlte das Ventil der Baissespekulation. Das zeigte sich sofort, als
der Markt von den schwachen Elementen gereinigt war und nach dem ersten
Schrecken wieder ruhige Überlegung Platz griff. In diesem Moment hörte
nicht nur der Verkaufsandrang auf, sondern es vollzog sich ein vollständiger
Tendenzumschwung. Stürmische Rückkäufe ließen die Kurse alsbald wieder derart
in die Höhe schnellen, daß der unbeteiligte Beobachter auch in diesem Verhalten
des Marktes nur eine unbedachte Übertreibung zu sehen vermag.

Will man die augenblickliche Situation, die unklar und gefahrdrohend
genug ist, zutreffend würdigen, so muß man sich folgendes vor Augen halten.

Die weltwirtschaftliche Konjunktur befindet sich gegenwärtig in einem
Aufstieg, der an Intensität, Umfang und gesunder Grundlage die Periode der


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[0107] Reichsspiegel Effektenmärkte. Unter den größten Ansätzen wurden die Kurse der Jndustrie- papiere von Etappe zu Etappe gesteigert. Je weitere Kreise die Spekulation zog, um so mehr vergrößerte sich die Zahl der schwachen Hände und besonders in den Kassaindustriepapieren, welche großenteils nie gesehene Kurse erklommen hatten, waren enorme Summen aus Kredit gekauft. Diese ganz einseitige Spekulation auf die Hauffe bot bei dem hohen Kursstand der Papiere, der längst nicht mehr eine ausreichende Risikoprämie gewährleistete, ganz außer¬ ordentliche Gefahren. Die Verhältnisse lagen an den kontinentalen Börsen gleichmäßig; wie in Berlin, so war auch in Wien, Petersburg und Paris eine Überspekulation vorhanden, die alle Merkmale einer ungesunden Entwicklung aufwies. Unter diesen Umständen mußte der plötzliche Kriegsschrecken, auf den die Börsen nicht im mindesten gefaßt waren, geradezu vernichtend wirken. Ein kopfloser Verkaufsandrang setzte ein, die Kurse fielen haltlos, da Käufer nicht vor¬ handen waren und die Banken bei der Unübersichtlichkeit der Situation vorerst nicht intervenierten. So war für einzelne Werte, obwohl sie bisher zu den Favorit¬ papieren gezählt hatten, wie die Aktien der Akkumnlatorenfabrik, überhaupt keine Notiz zustande zu bringen, der Kurs mußte gestrichen werden. Andere Papiere der gleichen Klasse erlitten enorme Verluste; so sanken die Aktien der Vogt¬ ländischen Maschinenfabrik, die im Frühjahr den Anlaß zu dem bekannten Ein¬ schreiten des Staatskommissars gegeben hatten, an den beiden ersten Schreckens¬ tagen um volle 100 Prozent. Von der Größe des Verkaufsandranges kann man sich ein Bild machen, wenn man hört, daß am ersten Tage etwa eine Million Gelsenkirchener und über zwei Millionen Kanadaaktien angeboten waren. Kein Wunder, wenn die führenden Montanwerte, die Schiffahrts- und Elektrizitäts- aklien sämtlich 10 bis 20 Prozent im Preise sanken. Solche Entwertung hatte natürlich Zwangsverkäufe und Selbstexekutionen im größten Umfang zur Folge, so daß die schwachen Positionen zum Teil mit enormen Verlusten liquidiert wurden. Dieser schmerzliche Zusammenbruch der Börse war indessen nicht sowohl in den realen Verhältnissen als in der Kopflosigkeit begründet, welche die Börse überraschenden Situationen gegenüber häufig an den Tag zu legen pflegt, und er gewann eine solche Größe nur infolge der börsentechnisch ungünstigen Markt¬ lage. Es fehlte das Ventil der Baissespekulation. Das zeigte sich sofort, als der Markt von den schwachen Elementen gereinigt war und nach dem ersten Schrecken wieder ruhige Überlegung Platz griff. In diesem Moment hörte nicht nur der Verkaufsandrang auf, sondern es vollzog sich ein vollständiger Tendenzumschwung. Stürmische Rückkäufe ließen die Kurse alsbald wieder derart in die Höhe schnellen, daß der unbeteiligte Beobachter auch in diesem Verhalten des Marktes nur eine unbedachte Übertreibung zu sehen vermag. Will man die augenblickliche Situation, die unklar und gefahrdrohend genug ist, zutreffend würdigen, so muß man sich folgendes vor Augen halten. Die weltwirtschaftliche Konjunktur befindet sich gegenwärtig in einem Aufstieg, der an Intensität, Umfang und gesunder Grundlage die Periode der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_322400/107>, abgerufen am 15.01.2025.