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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.

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Neuer Glauben

Stellungen. Wir müssen uns vorstellen, daß "Zweck" nur ein aus dem begrenzten
-- und vielleicht aus einer falschen Perspektive betrachteten -- individuellen
Leben erzeugter Begriff ist; daß solche Begriffe für die Menschheit nicht existieren
können, da die Menschheit zwar empfindet und handelt, aber nicht reflektiert,
wie das Individuum; daß des Individuums ganze Seligkeit nur die Seligkeit
des Weibes ist, das im Manne aufgeht, weil, wie der Mann glaubt, die ihr
unbekannte Natur für ihre Zwecke dieses Aufgehen braucht: so gingen die
Christen im gütigen Gott auf, so wir heute in der Menschheit. Ist das Kind,
das aus der Liebe des Weibes zum Manne entstand, ein Zweck, ein Neues,
ein Fortschritt, eine Entwicklung, oder wie man sonst sagen mag? Das sind
falsche Worte; das liebende Weib lebt in seiner Liebe, und nicht mehr lebt es
für das künftige Kind wie das Kind für das Weib. Die alten Mystiker haben
das eingesehen, wenn sie sagten: Der Mensch lebt durch Gott, und Gott lebt
durch den Menschen.

Hier löst sich auch wohl die Frage nach der persönlichen Unsterblichkeit.

Frühere Zeiten hatten es ja leichter wie wir, diese Dinge zu formulieren:
sie drückten das, was immer nur Empfindung bleiben kann und als solche sehr
schwer unteilbar ist -- ein Punkt, den man meines Erachtens immer vergißt,
wenn man die Lehren der Mystiker betrachtet, die eben nicht Lehren sind,
sondern ein unbeholfenes Stammeln in der Sprache der jedesmaligen Zeit, um
Dinge mitzuteilen, die man nicht mitteilen kann -- sie drückten das, was nur
Empfindung ist, naiv durch ein Symbol aus der Erfahrung aus: fo wurde
schon Gott geschaffen aus der Erfahrung des Herrn, Vaters, Erzeugers, Schöpfers.
So formulierte man auch den Begriff der persönlichen Unsterblichkeit; und wie
in diesen Dingen die urältesten Gedanken und Triebe der Menschheit noch
lebendig sind; sicher ist der uneingestandene Hauptgrund, der so lange die
endlich im letzten Jahre eingeführte Feuerbestattung in Preußen verhütet hat,
ein halb abergläubisches Befürchten wegen der Unsterblichkeit gewesen.

Jeder bedeutende Mensch hat das Bewußtsein einer Leitung seiner Geschicke
durch Gott, oder einen Glauben an ein transzendentales Subjekt, oder wie
man sich mythisch ausdrücken mag, er ist auch gewiß, daß er mit dem Tode
nicht gänzlich stirbt. Schon, wenn man diesen einfachen Ausdruck gebraucht,
dann sagt man ja viel und ist nicht weit entfernt von jenem gewaltigen Mythos
der Auferstehung und des jüngsten Gerichts, der dann sofort wieder buchstäblich
gefaßt und etwa von Leuten, wie unsere liberalen Theologen sind, nicht geglaubt
werden kann. Mir scheint, daß wir heute das, was unser Wesentliches ist,
klarer erkennen können wie früher, damit erwarten wir die Unsterblichkeit für
etwas anderes als frühere Zeiten.

Es scheint, daß die Menschen heute wieder versuchen wollen, eine Meta¬
physik zu schaffen. Am glücklichsten scheinen die französischen Denker zu sein;
wenn ich sie recht verstehe, so lassen sie Kant zur Seite liegen und bauen auf
des Cartesius Selbstbewußtsein des Ich auf. Die Gefahren dieser neuen Meta-


Neuer Glauben

Stellungen. Wir müssen uns vorstellen, daß „Zweck" nur ein aus dem begrenzten
— und vielleicht aus einer falschen Perspektive betrachteten — individuellen
Leben erzeugter Begriff ist; daß solche Begriffe für die Menschheit nicht existieren
können, da die Menschheit zwar empfindet und handelt, aber nicht reflektiert,
wie das Individuum; daß des Individuums ganze Seligkeit nur die Seligkeit
des Weibes ist, das im Manne aufgeht, weil, wie der Mann glaubt, die ihr
unbekannte Natur für ihre Zwecke dieses Aufgehen braucht: so gingen die
Christen im gütigen Gott auf, so wir heute in der Menschheit. Ist das Kind,
das aus der Liebe des Weibes zum Manne entstand, ein Zweck, ein Neues,
ein Fortschritt, eine Entwicklung, oder wie man sonst sagen mag? Das sind
falsche Worte; das liebende Weib lebt in seiner Liebe, und nicht mehr lebt es
für das künftige Kind wie das Kind für das Weib. Die alten Mystiker haben
das eingesehen, wenn sie sagten: Der Mensch lebt durch Gott, und Gott lebt
durch den Menschen.

Hier löst sich auch wohl die Frage nach der persönlichen Unsterblichkeit.

Frühere Zeiten hatten es ja leichter wie wir, diese Dinge zu formulieren:
sie drückten das, was immer nur Empfindung bleiben kann und als solche sehr
schwer unteilbar ist — ein Punkt, den man meines Erachtens immer vergißt,
wenn man die Lehren der Mystiker betrachtet, die eben nicht Lehren sind,
sondern ein unbeholfenes Stammeln in der Sprache der jedesmaligen Zeit, um
Dinge mitzuteilen, die man nicht mitteilen kann — sie drückten das, was nur
Empfindung ist, naiv durch ein Symbol aus der Erfahrung aus: fo wurde
schon Gott geschaffen aus der Erfahrung des Herrn, Vaters, Erzeugers, Schöpfers.
So formulierte man auch den Begriff der persönlichen Unsterblichkeit; und wie
in diesen Dingen die urältesten Gedanken und Triebe der Menschheit noch
lebendig sind; sicher ist der uneingestandene Hauptgrund, der so lange die
endlich im letzten Jahre eingeführte Feuerbestattung in Preußen verhütet hat,
ein halb abergläubisches Befürchten wegen der Unsterblichkeit gewesen.

Jeder bedeutende Mensch hat das Bewußtsein einer Leitung seiner Geschicke
durch Gott, oder einen Glauben an ein transzendentales Subjekt, oder wie
man sich mythisch ausdrücken mag, er ist auch gewiß, daß er mit dem Tode
nicht gänzlich stirbt. Schon, wenn man diesen einfachen Ausdruck gebraucht,
dann sagt man ja viel und ist nicht weit entfernt von jenem gewaltigen Mythos
der Auferstehung und des jüngsten Gerichts, der dann sofort wieder buchstäblich
gefaßt und etwa von Leuten, wie unsere liberalen Theologen sind, nicht geglaubt
werden kann. Mir scheint, daß wir heute das, was unser Wesentliches ist,
klarer erkennen können wie früher, damit erwarten wir die Unsterblichkeit für
etwas anderes als frühere Zeiten.

Es scheint, daß die Menschen heute wieder versuchen wollen, eine Meta¬
physik zu schaffen. Am glücklichsten scheinen die französischen Denker zu sein;
wenn ich sie recht verstehe, so lassen sie Kant zur Seite liegen und bauen auf
des Cartesius Selbstbewußtsein des Ich auf. Die Gefahren dieser neuen Meta-


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[0612] Neuer Glauben Stellungen. Wir müssen uns vorstellen, daß „Zweck" nur ein aus dem begrenzten — und vielleicht aus einer falschen Perspektive betrachteten — individuellen Leben erzeugter Begriff ist; daß solche Begriffe für die Menschheit nicht existieren können, da die Menschheit zwar empfindet und handelt, aber nicht reflektiert, wie das Individuum; daß des Individuums ganze Seligkeit nur die Seligkeit des Weibes ist, das im Manne aufgeht, weil, wie der Mann glaubt, die ihr unbekannte Natur für ihre Zwecke dieses Aufgehen braucht: so gingen die Christen im gütigen Gott auf, so wir heute in der Menschheit. Ist das Kind, das aus der Liebe des Weibes zum Manne entstand, ein Zweck, ein Neues, ein Fortschritt, eine Entwicklung, oder wie man sonst sagen mag? Das sind falsche Worte; das liebende Weib lebt in seiner Liebe, und nicht mehr lebt es für das künftige Kind wie das Kind für das Weib. Die alten Mystiker haben das eingesehen, wenn sie sagten: Der Mensch lebt durch Gott, und Gott lebt durch den Menschen. Hier löst sich auch wohl die Frage nach der persönlichen Unsterblichkeit. Frühere Zeiten hatten es ja leichter wie wir, diese Dinge zu formulieren: sie drückten das, was immer nur Empfindung bleiben kann und als solche sehr schwer unteilbar ist — ein Punkt, den man meines Erachtens immer vergißt, wenn man die Lehren der Mystiker betrachtet, die eben nicht Lehren sind, sondern ein unbeholfenes Stammeln in der Sprache der jedesmaligen Zeit, um Dinge mitzuteilen, die man nicht mitteilen kann — sie drückten das, was nur Empfindung ist, naiv durch ein Symbol aus der Erfahrung aus: fo wurde schon Gott geschaffen aus der Erfahrung des Herrn, Vaters, Erzeugers, Schöpfers. So formulierte man auch den Begriff der persönlichen Unsterblichkeit; und wie in diesen Dingen die urältesten Gedanken und Triebe der Menschheit noch lebendig sind; sicher ist der uneingestandene Hauptgrund, der so lange die endlich im letzten Jahre eingeführte Feuerbestattung in Preußen verhütet hat, ein halb abergläubisches Befürchten wegen der Unsterblichkeit gewesen. Jeder bedeutende Mensch hat das Bewußtsein einer Leitung seiner Geschicke durch Gott, oder einen Glauben an ein transzendentales Subjekt, oder wie man sich mythisch ausdrücken mag, er ist auch gewiß, daß er mit dem Tode nicht gänzlich stirbt. Schon, wenn man diesen einfachen Ausdruck gebraucht, dann sagt man ja viel und ist nicht weit entfernt von jenem gewaltigen Mythos der Auferstehung und des jüngsten Gerichts, der dann sofort wieder buchstäblich gefaßt und etwa von Leuten, wie unsere liberalen Theologen sind, nicht geglaubt werden kann. Mir scheint, daß wir heute das, was unser Wesentliches ist, klarer erkennen können wie früher, damit erwarten wir die Unsterblichkeit für etwas anderes als frühere Zeiten. Es scheint, daß die Menschen heute wieder versuchen wollen, eine Meta¬ physik zu schaffen. Am glücklichsten scheinen die französischen Denker zu sein; wenn ich sie recht verstehe, so lassen sie Kant zur Seite liegen und bauen auf des Cartesius Selbstbewußtsein des Ich auf. Die Gefahren dieser neuen Meta-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/612>, abgerufen am 22.07.2024.