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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.

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Neuer Glauben

Wissenschaften. Die Darwinsche Theorie war ein solcher Versuch, nach Über¬
windung des beschränkten Standpunktes und der engen Interessen des einzelnen
einen neuen Sinn des Lebens zu gewinnen, indem man eine unendliche Ent¬
wicklung der Lebewesen von geringeren Formen zu immer höheren annahm;
unter den widerspruchsvollen Gedankenreihen von Nietzsche geht die eine auf
eine Art Anpassung solcher Entwicklungsansichten auf bewußte Höherentwicklung
der Menschheit, daß also der Sinn unseres Lebens wäre, an einer Höher¬
entwicklung des Menschen zu arbeiten. Die Deszendenztheorie ist zusammen¬
gebrochen, der Übermenschengedanke ein glänzender Einfall geblieben: aber in
solchen Richtungen sucht die Seele der modernen Menschheit nach Religion,
nach einer neuen Religion, nach einer Religion von einer Art, wie sie noch nie
da war: die mehr sein würde wie jeder frühere Glaube, nämlich nicht bloß
die gemeine Not des leidenden und verängstigten Geschöpfes hebt, um ihm ein
stilles Glück zu verschaffen, sondern in hoher Gesinnung diese Not überwindet,
indem sie dem Leidenden und Verängstigten ein Ziel seines Leidens und seiner
Angst zeigt.

Zum ersten Male seit es Menschen gibt, erscheint als der Typus des
Menschen nicht mehr der Herrscher, der Denker, der Fromme, der Genießende,
der Reiche, der irgendwie von der gemeinen Last des Lebens Befreite, sondern
der Arbeiter. Lassen wir uns nicht durch ästhetische Rhetoren täuschen: in uns
Heutigen allen ist das tiefste Gefühl, daß nur die Arbeit für andere Menschen¬
würde verleiht, nicht Adel, Besitz, Schönheit oder Begabung. Dieses Gefühl
ist noch sehr jung, und vorher war es noch nie in der Welt; aber schon
beginnen wir den, der nicht arbeitet, nicht mehr als verächtlich, sondern als
lächerlich zu empfinden, so schnell hat es sich verbreitet. Die Arbeit für andere
bedeutet aber das Aufgeben der Persönlichkeit als Selbstzweck; und indem sie
in gegenseitigem Austausch stattfindet: des Oberen für den Unteren, des Unteren
für den Oberen, bedeutet sie das Aufgeben aller einzelnen Persönlichkeiten für
etwas, das man die Gesamtheit, oder die Gesellschaft, oder die Menschheit
nennen mag. Wir Heutige mögen uns als Ameisen vorkommen, die auf irgend¬
eine Weise durch einen Trieb geleitet, der dem einzelnen nicht bewußt und klar
wird, sür ihre Gesamtheit eine Arbeit schaffen.

Offenbar ist die Frage nach dem Sinn des Lebens hier nun aber bloß
zurückgeschoben. Wenn der einzelne nur noch für die Gesamtheit lebt, wofür
lebt dann die Gesamtheit?

Und hier scheint mir der moderne Glaube und die Mystik des zwanzigsten
Jahrhunderts zu beginnen.

Religion ist ein Massengefühl, nicht ein Gefühl einzelner. Wir heute
stehen allzusehr unter dem Eindruck der Veräußerlichung und Verbürgerlichung
der Religion durch die Kirchen und denken daher leicht, daß wirkliche Religion
nur der einzelne im stillen Kämmerlein hat. Aber wir müssen dieses Epi¬
gonentum religiöser Zeiten vergessen: stets, wo Religion lebendig war, war sie


Neuer Glauben

Wissenschaften. Die Darwinsche Theorie war ein solcher Versuch, nach Über¬
windung des beschränkten Standpunktes und der engen Interessen des einzelnen
einen neuen Sinn des Lebens zu gewinnen, indem man eine unendliche Ent¬
wicklung der Lebewesen von geringeren Formen zu immer höheren annahm;
unter den widerspruchsvollen Gedankenreihen von Nietzsche geht die eine auf
eine Art Anpassung solcher Entwicklungsansichten auf bewußte Höherentwicklung
der Menschheit, daß also der Sinn unseres Lebens wäre, an einer Höher¬
entwicklung des Menschen zu arbeiten. Die Deszendenztheorie ist zusammen¬
gebrochen, der Übermenschengedanke ein glänzender Einfall geblieben: aber in
solchen Richtungen sucht die Seele der modernen Menschheit nach Religion,
nach einer neuen Religion, nach einer Religion von einer Art, wie sie noch nie
da war: die mehr sein würde wie jeder frühere Glaube, nämlich nicht bloß
die gemeine Not des leidenden und verängstigten Geschöpfes hebt, um ihm ein
stilles Glück zu verschaffen, sondern in hoher Gesinnung diese Not überwindet,
indem sie dem Leidenden und Verängstigten ein Ziel seines Leidens und seiner
Angst zeigt.

Zum ersten Male seit es Menschen gibt, erscheint als der Typus des
Menschen nicht mehr der Herrscher, der Denker, der Fromme, der Genießende,
der Reiche, der irgendwie von der gemeinen Last des Lebens Befreite, sondern
der Arbeiter. Lassen wir uns nicht durch ästhetische Rhetoren täuschen: in uns
Heutigen allen ist das tiefste Gefühl, daß nur die Arbeit für andere Menschen¬
würde verleiht, nicht Adel, Besitz, Schönheit oder Begabung. Dieses Gefühl
ist noch sehr jung, und vorher war es noch nie in der Welt; aber schon
beginnen wir den, der nicht arbeitet, nicht mehr als verächtlich, sondern als
lächerlich zu empfinden, so schnell hat es sich verbreitet. Die Arbeit für andere
bedeutet aber das Aufgeben der Persönlichkeit als Selbstzweck; und indem sie
in gegenseitigem Austausch stattfindet: des Oberen für den Unteren, des Unteren
für den Oberen, bedeutet sie das Aufgeben aller einzelnen Persönlichkeiten für
etwas, das man die Gesamtheit, oder die Gesellschaft, oder die Menschheit
nennen mag. Wir Heutige mögen uns als Ameisen vorkommen, die auf irgend¬
eine Weise durch einen Trieb geleitet, der dem einzelnen nicht bewußt und klar
wird, sür ihre Gesamtheit eine Arbeit schaffen.

Offenbar ist die Frage nach dem Sinn des Lebens hier nun aber bloß
zurückgeschoben. Wenn der einzelne nur noch für die Gesamtheit lebt, wofür
lebt dann die Gesamtheit?

Und hier scheint mir der moderne Glaube und die Mystik des zwanzigsten
Jahrhunderts zu beginnen.

Religion ist ein Massengefühl, nicht ein Gefühl einzelner. Wir heute
stehen allzusehr unter dem Eindruck der Veräußerlichung und Verbürgerlichung
der Religion durch die Kirchen und denken daher leicht, daß wirkliche Religion
nur der einzelne im stillen Kämmerlein hat. Aber wir müssen dieses Epi¬
gonentum religiöser Zeiten vergessen: stets, wo Religion lebendig war, war sie


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[0610] Neuer Glauben Wissenschaften. Die Darwinsche Theorie war ein solcher Versuch, nach Über¬ windung des beschränkten Standpunktes und der engen Interessen des einzelnen einen neuen Sinn des Lebens zu gewinnen, indem man eine unendliche Ent¬ wicklung der Lebewesen von geringeren Formen zu immer höheren annahm; unter den widerspruchsvollen Gedankenreihen von Nietzsche geht die eine auf eine Art Anpassung solcher Entwicklungsansichten auf bewußte Höherentwicklung der Menschheit, daß also der Sinn unseres Lebens wäre, an einer Höher¬ entwicklung des Menschen zu arbeiten. Die Deszendenztheorie ist zusammen¬ gebrochen, der Übermenschengedanke ein glänzender Einfall geblieben: aber in solchen Richtungen sucht die Seele der modernen Menschheit nach Religion, nach einer neuen Religion, nach einer Religion von einer Art, wie sie noch nie da war: die mehr sein würde wie jeder frühere Glaube, nämlich nicht bloß die gemeine Not des leidenden und verängstigten Geschöpfes hebt, um ihm ein stilles Glück zu verschaffen, sondern in hoher Gesinnung diese Not überwindet, indem sie dem Leidenden und Verängstigten ein Ziel seines Leidens und seiner Angst zeigt. Zum ersten Male seit es Menschen gibt, erscheint als der Typus des Menschen nicht mehr der Herrscher, der Denker, der Fromme, der Genießende, der Reiche, der irgendwie von der gemeinen Last des Lebens Befreite, sondern der Arbeiter. Lassen wir uns nicht durch ästhetische Rhetoren täuschen: in uns Heutigen allen ist das tiefste Gefühl, daß nur die Arbeit für andere Menschen¬ würde verleiht, nicht Adel, Besitz, Schönheit oder Begabung. Dieses Gefühl ist noch sehr jung, und vorher war es noch nie in der Welt; aber schon beginnen wir den, der nicht arbeitet, nicht mehr als verächtlich, sondern als lächerlich zu empfinden, so schnell hat es sich verbreitet. Die Arbeit für andere bedeutet aber das Aufgeben der Persönlichkeit als Selbstzweck; und indem sie in gegenseitigem Austausch stattfindet: des Oberen für den Unteren, des Unteren für den Oberen, bedeutet sie das Aufgeben aller einzelnen Persönlichkeiten für etwas, das man die Gesamtheit, oder die Gesellschaft, oder die Menschheit nennen mag. Wir Heutige mögen uns als Ameisen vorkommen, die auf irgend¬ eine Weise durch einen Trieb geleitet, der dem einzelnen nicht bewußt und klar wird, sür ihre Gesamtheit eine Arbeit schaffen. Offenbar ist die Frage nach dem Sinn des Lebens hier nun aber bloß zurückgeschoben. Wenn der einzelne nur noch für die Gesamtheit lebt, wofür lebt dann die Gesamtheit? Und hier scheint mir der moderne Glaube und die Mystik des zwanzigsten Jahrhunderts zu beginnen. Religion ist ein Massengefühl, nicht ein Gefühl einzelner. Wir heute stehen allzusehr unter dem Eindruck der Veräußerlichung und Verbürgerlichung der Religion durch die Kirchen und denken daher leicht, daß wirkliche Religion nur der einzelne im stillen Kämmerlein hat. Aber wir müssen dieses Epi¬ gonentum religiöser Zeiten vergessen: stets, wo Religion lebendig war, war sie

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/610>, abgerufen am 22.07.2024.