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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.

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Rarl Salzer

Wenn der Polizeidiener Rüppel droht, pariert man. Zwar nicht ohne zu
munter, aber man pariert, denn er ist grob wie Saubohnenstroh.

Karl arbeitet sich nun leichter durch die Menge. Der Polizeidiener, der
seinen Posten vor dem Tore nicht verlassen darf, öffnet dieses zu einem Spalt,
durch den der Bursche gerade hindurchschlüpfen kann, und wehrt die nachdrängenden
Menschen zurück.

"Schnell hinein, Karl! -- Weg mit euch anderen, sonst stoß ich euch die
Zähn ein!"

Sobald der Bursche drinnen ist, schlägt Rüppel das Tor wieder zu und hält
die Klinke fest.

Das Gericht aus Worms ist da. Man hat es erfahren und sich vor dem
Hause des Schmieds versammelt, um zu hören, ob die Gerüchte von den Ver¬
untreuungen des Kassenrechners sich bewahrheiten. Ein paar Scharfmacher wollen
ganz bestimmt wissen, daß daran gar nicht zu zweifeln sei. Man glaubt das, und
daher die Wut. Wer verlöre sein Geld auch gern? Man hat gelesen, daß da
und dort auch eine Spar- und Darlehnskasse wegen der Unredlichkeit des
Kassierers zugrunde gegangen ist und daß die Mitglieder um ihre Einlagen
gekommen sind. Und irgendwo ist da eine Bank verkracht, und viel kleine Leute
haben ihr Geld verloren. Und nun wird es da in Spelzheim nicht anders werden.

Karl findet die Herren vom Gericht und den Bürgermeister beim Siegel¬
anlegen. Fast alle Türen sind mit einem roten Siegel versehen. Tante Seelchen
führt die Beamten im Hause herum. Karl grüßt scheu und geht in die Scheuer,
wo nun alle Taglöhner beim Gurkensortieren und zählen beisammen sind. Wilhelm,
der Geselle, ist auch noch da. Er hat auch die Gurken von der Morse heimgeholt.
Nun knien die Leute vor dem Riesenhaufen auf der Tenne und zählen und Sor¬
tieren. Sie sind emsiger wie sonst; man will so rasch wie möglich aus dem
Unglückshause fort.

Der Bursche zieht den Rock aus, hängt ihn an einen Nagel im Scheuertor,
nimmt sich einen Korb und kniet sich zu den Arbeitern, um zu. helfen. Zuvorsagt
i'r ihnen guten Tag. Sie nicken nur, um im Zählen nicht irre zu werden.
Immer fünf Gurken sind ein Wurf: zwei in der einen Hand, drei in der anderen.
Bei jedem zwanzigsten Wurf legt man eine Zählnummer beiseite in ein kleineres
Körbchen: so viel Merkfrüchte, so viel hundert sortierte.

Karl zählt und zählt. Aber nach einer Weile leert er die aussortierten
Gurken wieder zu den anderen; er weiß nicht mehr, wieviel er gezählt hat. So¬
dann beginnt er von neuem. Wieder vergebens. Der Geselle hat gerade ein
Hundert voll und kann seine Arbeit auf einen Augenblick unterbrechen, ohne irre
zu werden. Er sagt:

"Gell, Karl, wirst irr? Laß nur sein, wir werden auch allein fertig I"

"El jol" antwortet Karl, "'s ist das Beste, ich hör auf, denn ich komm
heut doch zu keinem End. Ich will mal neingehen, gucken, was da drin für
sich geht!"

Er steht auf, räkelt sich, hängt seinen Rock wieder ab, legt ihn über den Arm,
schlürft müde durch den Hof und geht ins Haus. Tante Seelchen kommt mit den
Herren zur Treppe herab. Sie nimmt den Neffen beiseite und fragt:

"Wo hast die Medizin?"


Rarl Salzer

Wenn der Polizeidiener Rüppel droht, pariert man. Zwar nicht ohne zu
munter, aber man pariert, denn er ist grob wie Saubohnenstroh.

Karl arbeitet sich nun leichter durch die Menge. Der Polizeidiener, der
seinen Posten vor dem Tore nicht verlassen darf, öffnet dieses zu einem Spalt,
durch den der Bursche gerade hindurchschlüpfen kann, und wehrt die nachdrängenden
Menschen zurück.

„Schnell hinein, Karl! — Weg mit euch anderen, sonst stoß ich euch die
Zähn ein!"

Sobald der Bursche drinnen ist, schlägt Rüppel das Tor wieder zu und hält
die Klinke fest.

Das Gericht aus Worms ist da. Man hat es erfahren und sich vor dem
Hause des Schmieds versammelt, um zu hören, ob die Gerüchte von den Ver¬
untreuungen des Kassenrechners sich bewahrheiten. Ein paar Scharfmacher wollen
ganz bestimmt wissen, daß daran gar nicht zu zweifeln sei. Man glaubt das, und
daher die Wut. Wer verlöre sein Geld auch gern? Man hat gelesen, daß da
und dort auch eine Spar- und Darlehnskasse wegen der Unredlichkeit des
Kassierers zugrunde gegangen ist und daß die Mitglieder um ihre Einlagen
gekommen sind. Und irgendwo ist da eine Bank verkracht, und viel kleine Leute
haben ihr Geld verloren. Und nun wird es da in Spelzheim nicht anders werden.

Karl findet die Herren vom Gericht und den Bürgermeister beim Siegel¬
anlegen. Fast alle Türen sind mit einem roten Siegel versehen. Tante Seelchen
führt die Beamten im Hause herum. Karl grüßt scheu und geht in die Scheuer,
wo nun alle Taglöhner beim Gurkensortieren und zählen beisammen sind. Wilhelm,
der Geselle, ist auch noch da. Er hat auch die Gurken von der Morse heimgeholt.
Nun knien die Leute vor dem Riesenhaufen auf der Tenne und zählen und Sor¬
tieren. Sie sind emsiger wie sonst; man will so rasch wie möglich aus dem
Unglückshause fort.

Der Bursche zieht den Rock aus, hängt ihn an einen Nagel im Scheuertor,
nimmt sich einen Korb und kniet sich zu den Arbeitern, um zu. helfen. Zuvorsagt
i'r ihnen guten Tag. Sie nicken nur, um im Zählen nicht irre zu werden.
Immer fünf Gurken sind ein Wurf: zwei in der einen Hand, drei in der anderen.
Bei jedem zwanzigsten Wurf legt man eine Zählnummer beiseite in ein kleineres
Körbchen: so viel Merkfrüchte, so viel hundert sortierte.

Karl zählt und zählt. Aber nach einer Weile leert er die aussortierten
Gurken wieder zu den anderen; er weiß nicht mehr, wieviel er gezählt hat. So¬
dann beginnt er von neuem. Wieder vergebens. Der Geselle hat gerade ein
Hundert voll und kann seine Arbeit auf einen Augenblick unterbrechen, ohne irre
zu werden. Er sagt:

„Gell, Karl, wirst irr? Laß nur sein, wir werden auch allein fertig I"

„El jol" antwortet Karl, „'s ist das Beste, ich hör auf, denn ich komm
heut doch zu keinem End. Ich will mal neingehen, gucken, was da drin für
sich geht!"

Er steht auf, räkelt sich, hängt seinen Rock wieder ab, legt ihn über den Arm,
schlürft müde durch den Hof und geht ins Haus. Tante Seelchen kommt mit den
Herren zur Treppe herab. Sie nimmt den Neffen beiseite und fragt:

„Wo hast die Medizin?"


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[0579] Rarl Salzer Wenn der Polizeidiener Rüppel droht, pariert man. Zwar nicht ohne zu munter, aber man pariert, denn er ist grob wie Saubohnenstroh. Karl arbeitet sich nun leichter durch die Menge. Der Polizeidiener, der seinen Posten vor dem Tore nicht verlassen darf, öffnet dieses zu einem Spalt, durch den der Bursche gerade hindurchschlüpfen kann, und wehrt die nachdrängenden Menschen zurück. „Schnell hinein, Karl! — Weg mit euch anderen, sonst stoß ich euch die Zähn ein!" Sobald der Bursche drinnen ist, schlägt Rüppel das Tor wieder zu und hält die Klinke fest. Das Gericht aus Worms ist da. Man hat es erfahren und sich vor dem Hause des Schmieds versammelt, um zu hören, ob die Gerüchte von den Ver¬ untreuungen des Kassenrechners sich bewahrheiten. Ein paar Scharfmacher wollen ganz bestimmt wissen, daß daran gar nicht zu zweifeln sei. Man glaubt das, und daher die Wut. Wer verlöre sein Geld auch gern? Man hat gelesen, daß da und dort auch eine Spar- und Darlehnskasse wegen der Unredlichkeit des Kassierers zugrunde gegangen ist und daß die Mitglieder um ihre Einlagen gekommen sind. Und irgendwo ist da eine Bank verkracht, und viel kleine Leute haben ihr Geld verloren. Und nun wird es da in Spelzheim nicht anders werden. Karl findet die Herren vom Gericht und den Bürgermeister beim Siegel¬ anlegen. Fast alle Türen sind mit einem roten Siegel versehen. Tante Seelchen führt die Beamten im Hause herum. Karl grüßt scheu und geht in die Scheuer, wo nun alle Taglöhner beim Gurkensortieren und zählen beisammen sind. Wilhelm, der Geselle, ist auch noch da. Er hat auch die Gurken von der Morse heimgeholt. Nun knien die Leute vor dem Riesenhaufen auf der Tenne und zählen und Sor¬ tieren. Sie sind emsiger wie sonst; man will so rasch wie möglich aus dem Unglückshause fort. Der Bursche zieht den Rock aus, hängt ihn an einen Nagel im Scheuertor, nimmt sich einen Korb und kniet sich zu den Arbeitern, um zu. helfen. Zuvorsagt i'r ihnen guten Tag. Sie nicken nur, um im Zählen nicht irre zu werden. Immer fünf Gurken sind ein Wurf: zwei in der einen Hand, drei in der anderen. Bei jedem zwanzigsten Wurf legt man eine Zählnummer beiseite in ein kleineres Körbchen: so viel Merkfrüchte, so viel hundert sortierte. Karl zählt und zählt. Aber nach einer Weile leert er die aussortierten Gurken wieder zu den anderen; er weiß nicht mehr, wieviel er gezählt hat. So¬ dann beginnt er von neuem. Wieder vergebens. Der Geselle hat gerade ein Hundert voll und kann seine Arbeit auf einen Augenblick unterbrechen, ohne irre zu werden. Er sagt: „Gell, Karl, wirst irr? Laß nur sein, wir werden auch allein fertig I" „El jol" antwortet Karl, „'s ist das Beste, ich hör auf, denn ich komm heut doch zu keinem End. Ich will mal neingehen, gucken, was da drin für sich geht!" Er steht auf, räkelt sich, hängt seinen Rock wieder ab, legt ihn über den Arm, schlürft müde durch den Hof und geht ins Haus. Tante Seelchen kommt mit den Herren zur Treppe herab. Sie nimmt den Neffen beiseite und fragt: „Wo hast die Medizin?"

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/579>, abgerufen am 03.07.2024.