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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.

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"österreichische Dichterinnen

Verständnis für das Wesen des Protestantismus ist auch hier nicht die Rede: der
protestantische EifererJesse steht in seinem Schönheitsdurst dem Katholizismus eigent¬
lich näher als seiner eigenen verstandesklaren Konfession. Aber wie der leidenschaft¬
liche Jüngling den schlichten katholischen Förster dazu zwingt, das häßliche wunder¬
tätige Marienbild zu rauben, wie Maria, die Frau des Försters, den Verführer des
Mannes beim geistlichen Gericht denunziert, und wie die Fromme, vom Recht ihres
Tuns Überzeugte dennoch unter den schwersten Gewissens quälen fast zusammenbricht,
als man den jungen Frevler gefangen setzt und schließlich auss Schaffst führt,
wie sie sein Kind tränkt und ihm selber Botschaft bringt -- das ist aus so
mitfühlender Seele geschrieben und zu so reiner Menschlichkeit emporgeführt,
daß der Sonderstandpunkt der Dichterin wohl niemandem den Genuß des
Kunstwerks verbittern kann. Und wie sich hier die Psychologie über die im
"Denkwürdiger Jahr" gebotene erhebt, so übertrifft auch der kulturhistorische
Wert dieses Riesengemäldes aus dem Jahrhundert der Glaubenskämpfe in
seiner Echtheit und Einheitlichkeit bei weitem die Bedeutung des ersten Händelschen
Romans.

Eine noch stärkere Betonung und Verschmelzung irdischer und himmlischer
Mutterverehrung findet sich in der jüngsten Schöpfung der Dichterin, der mitten
in die Greuel der Gegenreformation führenden Erzählung: "Die arme Margret".
Wer der Dichterin um der Rollenverteilung im "Denkwürdiger Jahr" willen Un¬
gerechtigkeit vorwirft, muß sich durch dieses Werk eines Besseren belehren lassen; denn
diesmal liegt Missetat und Härte auf katholischer Seite, schuldloses Leiden und rüh¬
rendes Vergeben auf protestantischer. Der blutjunge und wilde Offizier, der die Witwe
des Protestanten ihres Glaubens wegen drangsalieren soll, sucht ihr Gewalt anzutun
und wird von dem katholischen Kriegsgericht erbarmungslos bestraft; die pro¬
testantische Märtyrerin stützt erbarmend und liebend das Haupt des sterbenden
Sünders. Auch hier zu betonen, daß der eigentliche Gegensatz der Konfessionen
unberührt bleibt, ist um so weniger unnütz, als damit die völlige Sinnlosigkeit
der Vergleichungen zwischen dieser Erzählung und Schönherrs "Glaube und
Heimat" offenbar wird. Die arme Margret will in ganz kindlicher Weise
einem Glauben Treue halten, für den ihr Mann gestorben ist, der Leutnant
Herliberg übt aufs roheste und ohne Nachdenken die Bräuche, die man ihn
von früh auf gelehrt hat, und nun wird geliebt, gesündigt, gesühnt, vergeben
-- nicht katholisch, nicht protestantisch, nicht mohammedanisch, sondern nach
Trieb und Menschlichkeit. Insofern ist dies vielleicht Enrica Handels freiestes
und Meisterwerk. Und noch in einer anderen Beziehung hat sie hier vielleicht
den Gipfel ihrer Kunst erreicht (auch darin ein gänzlicher Gegensatz zu Schön¬
herrs protestantischer Nüchternheit): in der Glut der balladischen Schilderung,
in der Pracht und Wucht der zeitmalenden Sprache. Wie sie in Wort und
Rhythmus das Düstere und Bunte, das Faradische, das Entzügelte und Un¬
geheure der Zeit zum Ausdruck gebracht hat, das erinnert an C. F. Meyer,
obwohl wiederum Enrica Handels Gefühlsausbrüche in scharfem Gegensatz zu


Grenzboten III 1912 71
«österreichische Dichterinnen

Verständnis für das Wesen des Protestantismus ist auch hier nicht die Rede: der
protestantische EifererJesse steht in seinem Schönheitsdurst dem Katholizismus eigent¬
lich näher als seiner eigenen verstandesklaren Konfession. Aber wie der leidenschaft¬
liche Jüngling den schlichten katholischen Förster dazu zwingt, das häßliche wunder¬
tätige Marienbild zu rauben, wie Maria, die Frau des Försters, den Verführer des
Mannes beim geistlichen Gericht denunziert, und wie die Fromme, vom Recht ihres
Tuns Überzeugte dennoch unter den schwersten Gewissens quälen fast zusammenbricht,
als man den jungen Frevler gefangen setzt und schließlich auss Schaffst führt,
wie sie sein Kind tränkt und ihm selber Botschaft bringt — das ist aus so
mitfühlender Seele geschrieben und zu so reiner Menschlichkeit emporgeführt,
daß der Sonderstandpunkt der Dichterin wohl niemandem den Genuß des
Kunstwerks verbittern kann. Und wie sich hier die Psychologie über die im
„Denkwürdiger Jahr" gebotene erhebt, so übertrifft auch der kulturhistorische
Wert dieses Riesengemäldes aus dem Jahrhundert der Glaubenskämpfe in
seiner Echtheit und Einheitlichkeit bei weitem die Bedeutung des ersten Händelschen
Romans.

Eine noch stärkere Betonung und Verschmelzung irdischer und himmlischer
Mutterverehrung findet sich in der jüngsten Schöpfung der Dichterin, der mitten
in die Greuel der Gegenreformation führenden Erzählung: „Die arme Margret".
Wer der Dichterin um der Rollenverteilung im „Denkwürdiger Jahr" willen Un¬
gerechtigkeit vorwirft, muß sich durch dieses Werk eines Besseren belehren lassen; denn
diesmal liegt Missetat und Härte auf katholischer Seite, schuldloses Leiden und rüh¬
rendes Vergeben auf protestantischer. Der blutjunge und wilde Offizier, der die Witwe
des Protestanten ihres Glaubens wegen drangsalieren soll, sucht ihr Gewalt anzutun
und wird von dem katholischen Kriegsgericht erbarmungslos bestraft; die pro¬
testantische Märtyrerin stützt erbarmend und liebend das Haupt des sterbenden
Sünders. Auch hier zu betonen, daß der eigentliche Gegensatz der Konfessionen
unberührt bleibt, ist um so weniger unnütz, als damit die völlige Sinnlosigkeit
der Vergleichungen zwischen dieser Erzählung und Schönherrs „Glaube und
Heimat" offenbar wird. Die arme Margret will in ganz kindlicher Weise
einem Glauben Treue halten, für den ihr Mann gestorben ist, der Leutnant
Herliberg übt aufs roheste und ohne Nachdenken die Bräuche, die man ihn
von früh auf gelehrt hat, und nun wird geliebt, gesündigt, gesühnt, vergeben
— nicht katholisch, nicht protestantisch, nicht mohammedanisch, sondern nach
Trieb und Menschlichkeit. Insofern ist dies vielleicht Enrica Handels freiestes
und Meisterwerk. Und noch in einer anderen Beziehung hat sie hier vielleicht
den Gipfel ihrer Kunst erreicht (auch darin ein gänzlicher Gegensatz zu Schön¬
herrs protestantischer Nüchternheit): in der Glut der balladischen Schilderung,
in der Pracht und Wucht der zeitmalenden Sprache. Wie sie in Wort und
Rhythmus das Düstere und Bunte, das Faradische, das Entzügelte und Un¬
geheure der Zeit zum Ausdruck gebracht hat, das erinnert an C. F. Meyer,
obwohl wiederum Enrica Handels Gefühlsausbrüche in scharfem Gegensatz zu


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[0569] «österreichische Dichterinnen Verständnis für das Wesen des Protestantismus ist auch hier nicht die Rede: der protestantische EifererJesse steht in seinem Schönheitsdurst dem Katholizismus eigent¬ lich näher als seiner eigenen verstandesklaren Konfession. Aber wie der leidenschaft¬ liche Jüngling den schlichten katholischen Förster dazu zwingt, das häßliche wunder¬ tätige Marienbild zu rauben, wie Maria, die Frau des Försters, den Verführer des Mannes beim geistlichen Gericht denunziert, und wie die Fromme, vom Recht ihres Tuns Überzeugte dennoch unter den schwersten Gewissens quälen fast zusammenbricht, als man den jungen Frevler gefangen setzt und schließlich auss Schaffst führt, wie sie sein Kind tränkt und ihm selber Botschaft bringt — das ist aus so mitfühlender Seele geschrieben und zu so reiner Menschlichkeit emporgeführt, daß der Sonderstandpunkt der Dichterin wohl niemandem den Genuß des Kunstwerks verbittern kann. Und wie sich hier die Psychologie über die im „Denkwürdiger Jahr" gebotene erhebt, so übertrifft auch der kulturhistorische Wert dieses Riesengemäldes aus dem Jahrhundert der Glaubenskämpfe in seiner Echtheit und Einheitlichkeit bei weitem die Bedeutung des ersten Händelschen Romans. Eine noch stärkere Betonung und Verschmelzung irdischer und himmlischer Mutterverehrung findet sich in der jüngsten Schöpfung der Dichterin, der mitten in die Greuel der Gegenreformation führenden Erzählung: „Die arme Margret". Wer der Dichterin um der Rollenverteilung im „Denkwürdiger Jahr" willen Un¬ gerechtigkeit vorwirft, muß sich durch dieses Werk eines Besseren belehren lassen; denn diesmal liegt Missetat und Härte auf katholischer Seite, schuldloses Leiden und rüh¬ rendes Vergeben auf protestantischer. Der blutjunge und wilde Offizier, der die Witwe des Protestanten ihres Glaubens wegen drangsalieren soll, sucht ihr Gewalt anzutun und wird von dem katholischen Kriegsgericht erbarmungslos bestraft; die pro¬ testantische Märtyrerin stützt erbarmend und liebend das Haupt des sterbenden Sünders. Auch hier zu betonen, daß der eigentliche Gegensatz der Konfessionen unberührt bleibt, ist um so weniger unnütz, als damit die völlige Sinnlosigkeit der Vergleichungen zwischen dieser Erzählung und Schönherrs „Glaube und Heimat" offenbar wird. Die arme Margret will in ganz kindlicher Weise einem Glauben Treue halten, für den ihr Mann gestorben ist, der Leutnant Herliberg übt aufs roheste und ohne Nachdenken die Bräuche, die man ihn von früh auf gelehrt hat, und nun wird geliebt, gesündigt, gesühnt, vergeben — nicht katholisch, nicht protestantisch, nicht mohammedanisch, sondern nach Trieb und Menschlichkeit. Insofern ist dies vielleicht Enrica Handels freiestes und Meisterwerk. Und noch in einer anderen Beziehung hat sie hier vielleicht den Gipfel ihrer Kunst erreicht (auch darin ein gänzlicher Gegensatz zu Schön¬ herrs protestantischer Nüchternheit): in der Glut der balladischen Schilderung, in der Pracht und Wucht der zeitmalenden Sprache. Wie sie in Wort und Rhythmus das Düstere und Bunte, das Faradische, das Entzügelte und Un¬ geheure der Zeit zum Ausdruck gebracht hat, das erinnert an C. F. Meyer, obwohl wiederum Enrica Handels Gefühlsausbrüche in scharfem Gegensatz zu Grenzboten III 1912 71

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/569>, abgerufen am 22.07.2024.