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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.

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Der Reichskanzler und die Parteien

anders. Ihr Selbsterhaltungstrieb läßt sie nach Parolen Ausschau halten, mit
denen die Massen zu fangen sind. Da aber Chauvinismus und Kriegs¬
geschrei nicht verfangen, sucht man sich auf dem Gebiet von Verfassungsfragen
schadlos zu halten, -- wieder ein Moment mehr den Zusammenhang der Liberalen
zu stören; denn auch auf diesem Gebiet gehen die Ansichten innerhalb der
Partei weit auseinander.

Vom Freisinn ist nach obigem ebenso wenig zu sagen, wie von der
freikonservativen Partei.

Auch das Zentrum hat seine tief wühlenden Kämpfe: der aristokratische
und der demokratische Flügel können in Fragen der Wirtschaft nicht immer
Hand in Hand gehen und die mehr nationale und mehr ultramontane Richtung
im Katholizismus dürsten gelegentlich politische Strömungen erzeugen, die dieKampf-
bereitschaft der Partei empfindlich beeinträchtigen könnten. Doch diese Gegensätze
sind lange nicht so tief, wie entsprechende im lutherischen Lager. Haben wir in unserer
Landeskirche ausgesprochene Feinde dieser Kirche, so ist ein kirchenfeindlicher Katholik
etwas Undenkbares; er wäre eben kein Katholik mehr. Auf katholischer Seite
wird niemand sich hinreißen lassen den Modernisten, der noch nicht exkommuniziert
ist. mit den "Häretikern", den Lutheranern zu identifizieren. Wenn aber eine
Annäherung aus lutherischem Lager an die Modernisten bemerkt wird, dann
sind die Streitigkeiten vergessen: der Glaube ist bedrohtI die Freiheit der
katholischen Weltanschauung in Gefahr! Die eben noch feindlich gespaltenen
Reihen schließen sich gegen den gemeinsamen Feind. Dabei haben die Ultra¬
montanen noch den Vorsprung, auf ein Ausnahmegesetz hinweisen zu können,
daß, als solches rein politischen Charakters, mit der katholischen Religion nichts
zu tun hat, doch als Zeichen der Feindschaft des protestantischen Kaiserstaates
gegen die katholische Religion ausgelegt werden kann: das Jesuitengesetz. --
Die Stellung des Zentrums zur inneren Konsolidation ist im allgemeinen sym¬
pathischer Art. da sich unter dem Landvolk der orthodoxe Katholizismus leichter
kultivieren läßt als in den Städten. Diese Partei wird deshalb für eine Unter¬
stützung der Regierung zu haben sein. Aber um welchen Preis?

Angesichts der Zerrissenheit in den bürgerlichen Parteien treten die Kämpfe
zwischen Radikalismus und Revisionismus innerhalb der sozialdemokratischen
Partei zurück, auch wenn das Gekreisch auf den Parteitagen den Eindruck
innerer Zusammenhanglosigkeit erweckt. Der Glaube an den angeblich nahe
bevorstehenden Zusammenbruch der bürgerlichen Gesellschaft ist nach den Erfolgen
des letzten Wahlkampfes doch wohl zu stark, als daß eine Trennung innerhalb
der Partei schon jetzt möglich erscheint. Eine großzügige innere Kolonisation,
die nicht Beseitigung oder wenigstens empfindliche politische Schwächung des
Großgrundbesitzes ins Auge faßte, fände schwerlich die Unterstützung der Sozial¬
demokraten. Im übrigen wird diese Partei umso kräftiger gedeihen, je mehr
die bürgerlichen Parteien aus ihrem eigenen Schwächezustand heraus gezwungen
sein werden, zu demokratischen Methoden in den politischen Kämpfen zu greifen.


Der Reichskanzler und die Parteien

anders. Ihr Selbsterhaltungstrieb läßt sie nach Parolen Ausschau halten, mit
denen die Massen zu fangen sind. Da aber Chauvinismus und Kriegs¬
geschrei nicht verfangen, sucht man sich auf dem Gebiet von Verfassungsfragen
schadlos zu halten, — wieder ein Moment mehr den Zusammenhang der Liberalen
zu stören; denn auch auf diesem Gebiet gehen die Ansichten innerhalb der
Partei weit auseinander.

Vom Freisinn ist nach obigem ebenso wenig zu sagen, wie von der
freikonservativen Partei.

Auch das Zentrum hat seine tief wühlenden Kämpfe: der aristokratische
und der demokratische Flügel können in Fragen der Wirtschaft nicht immer
Hand in Hand gehen und die mehr nationale und mehr ultramontane Richtung
im Katholizismus dürsten gelegentlich politische Strömungen erzeugen, die dieKampf-
bereitschaft der Partei empfindlich beeinträchtigen könnten. Doch diese Gegensätze
sind lange nicht so tief, wie entsprechende im lutherischen Lager. Haben wir in unserer
Landeskirche ausgesprochene Feinde dieser Kirche, so ist ein kirchenfeindlicher Katholik
etwas Undenkbares; er wäre eben kein Katholik mehr. Auf katholischer Seite
wird niemand sich hinreißen lassen den Modernisten, der noch nicht exkommuniziert
ist. mit den „Häretikern", den Lutheranern zu identifizieren. Wenn aber eine
Annäherung aus lutherischem Lager an die Modernisten bemerkt wird, dann
sind die Streitigkeiten vergessen: der Glaube ist bedrohtI die Freiheit der
katholischen Weltanschauung in Gefahr! Die eben noch feindlich gespaltenen
Reihen schließen sich gegen den gemeinsamen Feind. Dabei haben die Ultra¬
montanen noch den Vorsprung, auf ein Ausnahmegesetz hinweisen zu können,
daß, als solches rein politischen Charakters, mit der katholischen Religion nichts
zu tun hat, doch als Zeichen der Feindschaft des protestantischen Kaiserstaates
gegen die katholische Religion ausgelegt werden kann: das Jesuitengesetz. —
Die Stellung des Zentrums zur inneren Konsolidation ist im allgemeinen sym¬
pathischer Art. da sich unter dem Landvolk der orthodoxe Katholizismus leichter
kultivieren läßt als in den Städten. Diese Partei wird deshalb für eine Unter¬
stützung der Regierung zu haben sein. Aber um welchen Preis?

Angesichts der Zerrissenheit in den bürgerlichen Parteien treten die Kämpfe
zwischen Radikalismus und Revisionismus innerhalb der sozialdemokratischen
Partei zurück, auch wenn das Gekreisch auf den Parteitagen den Eindruck
innerer Zusammenhanglosigkeit erweckt. Der Glaube an den angeblich nahe
bevorstehenden Zusammenbruch der bürgerlichen Gesellschaft ist nach den Erfolgen
des letzten Wahlkampfes doch wohl zu stark, als daß eine Trennung innerhalb
der Partei schon jetzt möglich erscheint. Eine großzügige innere Kolonisation,
die nicht Beseitigung oder wenigstens empfindliche politische Schwächung des
Großgrundbesitzes ins Auge faßte, fände schwerlich die Unterstützung der Sozial¬
demokraten. Im übrigen wird diese Partei umso kräftiger gedeihen, je mehr
die bürgerlichen Parteien aus ihrem eigenen Schwächezustand heraus gezwungen
sein werden, zu demokratischen Methoden in den politischen Kämpfen zu greifen.


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[0551] Der Reichskanzler und die Parteien anders. Ihr Selbsterhaltungstrieb läßt sie nach Parolen Ausschau halten, mit denen die Massen zu fangen sind. Da aber Chauvinismus und Kriegs¬ geschrei nicht verfangen, sucht man sich auf dem Gebiet von Verfassungsfragen schadlos zu halten, — wieder ein Moment mehr den Zusammenhang der Liberalen zu stören; denn auch auf diesem Gebiet gehen die Ansichten innerhalb der Partei weit auseinander. Vom Freisinn ist nach obigem ebenso wenig zu sagen, wie von der freikonservativen Partei. Auch das Zentrum hat seine tief wühlenden Kämpfe: der aristokratische und der demokratische Flügel können in Fragen der Wirtschaft nicht immer Hand in Hand gehen und die mehr nationale und mehr ultramontane Richtung im Katholizismus dürsten gelegentlich politische Strömungen erzeugen, die dieKampf- bereitschaft der Partei empfindlich beeinträchtigen könnten. Doch diese Gegensätze sind lange nicht so tief, wie entsprechende im lutherischen Lager. Haben wir in unserer Landeskirche ausgesprochene Feinde dieser Kirche, so ist ein kirchenfeindlicher Katholik etwas Undenkbares; er wäre eben kein Katholik mehr. Auf katholischer Seite wird niemand sich hinreißen lassen den Modernisten, der noch nicht exkommuniziert ist. mit den „Häretikern", den Lutheranern zu identifizieren. Wenn aber eine Annäherung aus lutherischem Lager an die Modernisten bemerkt wird, dann sind die Streitigkeiten vergessen: der Glaube ist bedrohtI die Freiheit der katholischen Weltanschauung in Gefahr! Die eben noch feindlich gespaltenen Reihen schließen sich gegen den gemeinsamen Feind. Dabei haben die Ultra¬ montanen noch den Vorsprung, auf ein Ausnahmegesetz hinweisen zu können, daß, als solches rein politischen Charakters, mit der katholischen Religion nichts zu tun hat, doch als Zeichen der Feindschaft des protestantischen Kaiserstaates gegen die katholische Religion ausgelegt werden kann: das Jesuitengesetz. — Die Stellung des Zentrums zur inneren Konsolidation ist im allgemeinen sym¬ pathischer Art. da sich unter dem Landvolk der orthodoxe Katholizismus leichter kultivieren läßt als in den Städten. Diese Partei wird deshalb für eine Unter¬ stützung der Regierung zu haben sein. Aber um welchen Preis? Angesichts der Zerrissenheit in den bürgerlichen Parteien treten die Kämpfe zwischen Radikalismus und Revisionismus innerhalb der sozialdemokratischen Partei zurück, auch wenn das Gekreisch auf den Parteitagen den Eindruck innerer Zusammenhanglosigkeit erweckt. Der Glaube an den angeblich nahe bevorstehenden Zusammenbruch der bürgerlichen Gesellschaft ist nach den Erfolgen des letzten Wahlkampfes doch wohl zu stark, als daß eine Trennung innerhalb der Partei schon jetzt möglich erscheint. Eine großzügige innere Kolonisation, die nicht Beseitigung oder wenigstens empfindliche politische Schwächung des Großgrundbesitzes ins Auge faßte, fände schwerlich die Unterstützung der Sozial¬ demokraten. Im übrigen wird diese Partei umso kräftiger gedeihen, je mehr die bürgerlichen Parteien aus ihrem eigenen Schwächezustand heraus gezwungen sein werden, zu demokratischen Methoden in den politischen Kämpfen zu greifen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/551>, abgerufen am 22.07.2024.