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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.

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Der Berliner Roman

von dem die heutige Dreimillionenstadt kaum mehr den Namen kennt. Die
Zeit ist über sie hinweggegangen und hat ihnen, wenn man von historischen
Werten absieht, jede Bedeutung für die Gegenwart genommen. Aber ein anderer
Name darf in einer Untersuchung über den modernen Berliner Roman nicht
fehlen: Theodor Fontane. Der Dichter der "Jenny Treibel", der "Irrungen,
Wirrungen", der "L'Adultera". der "Cöcile" und der "Effi Brich" gehört auf
jeden Fall in die vorderste Reihe jener Geister, denen die künstlerische Eroberung
des neudeutschen Berlin am Herzen lag. Wenn auch das Berlin, das Fontane
sah, schon heute dreißig oder mehr Jahre zurückliegt; wenn er das Großstadt¬
problem auch weniger in seiner Totalität faßte, sondern es eigentlich nur in
einer Reihe glänzend gemeisterter Ausschnitte aus einer ganz bestimmten Berliner
Bourgeoiskaste illustrierte -- ihm gebührt jedenfalls der Ruhm, als Erster und
vielleicht als Berufenster mit wahrhaft dichterischen Mitteln den modernen
realistischen Großstadtroman geschaffen zu haben. Es war der Geist unserer
Zeit, der in seinen Büchern lebte, und die mit erstaunlicher Selbstverständlichkeit
gemeisterte Atmosphäre des rasch aufschießenden, fleißigen, tüchtigen und nüchternen
Groß-Berlin schwebte darüber. Es gab und gibt eine niemals unterbrochene
Verbindung zwischen den Fontaneschen Romanen und der lebendigen Gegenwart.
Und alles, was eine neue und noch immer werdende Epoche an seltsamen Dingen
und Werten hervorbrachte, erschien hier zum ersten Male zum wirklichen
Kunststil verdichtet.

Das muß um so entschiedener ausgesprochen werden, als die Ausbeute an
wirklich guten Berliner Romanen bis auf den heutigen Tag verzweifelt gering
geblieben ist. Natürlich hatte es eine junge und ohne jede kulturelle Ver¬
gangenheit vorwärtsstürmende Stadt wie Berlin in der Beziehung unendlich
viel schwerer als etwa Paris, wo die Schriftsteller und Romanciers eine seit
Jahrhunderten fertige Kultur jederzeit vorfanden. Dem neuen Berlin einen
Kunststil schaffen, hieß: eine Kultur, die noch gar nicht vorhanden war, gewisser¬
maßen hellseherisch in ihren embryonalen Keimen herauszufühlen; in einem
unbestimmbaren und ungeberdigen Chaos fo etwas wie Gesetze, Regeln, Systeme
und große Linien zu erkennen. Man kommt dem Bilde einer Parvenustadt
natürlich nicht schon deshalb nahe, weil man selber ein Parvenu ist und sich
nun dauernd wie ein solcher benimmt. Leider war das und ist das, wie wir
sehen werden, noch heute der Fehler, dem eine ganze Reihe Berliner Roman¬
schriftsteller immer wieder verfällt. Ein von jeher beliebter Kniff besteht darin,
die an sich gleichgültigen Romanbegebenheiten vor eine Berliner Kulisse zu
stellen, ohne daß ein wirklich organischer Zusammenhang zwischen beiden existiert.
Das gibt natürlich den: Stoffe einen gewissen äußeren Reiz, und der Berliner
Leser darf befriedigt und geschmeichelt nicken, wenn ihm auf den Seiten seines
Buches ab und zu die Namen Kempinski oder Wertheim oder Friedrichstraße
begegnen. Wie weit diese Art zu arbeiten von der Tiefe des wirklichen Problems
entfernt ist, braucht wohl nicht näher erläutert zu werden. Aber es ist immerhin


Der Berliner Roman

von dem die heutige Dreimillionenstadt kaum mehr den Namen kennt. Die
Zeit ist über sie hinweggegangen und hat ihnen, wenn man von historischen
Werten absieht, jede Bedeutung für die Gegenwart genommen. Aber ein anderer
Name darf in einer Untersuchung über den modernen Berliner Roman nicht
fehlen: Theodor Fontane. Der Dichter der „Jenny Treibel", der „Irrungen,
Wirrungen", der „L'Adultera". der „Cöcile" und der „Effi Brich" gehört auf
jeden Fall in die vorderste Reihe jener Geister, denen die künstlerische Eroberung
des neudeutschen Berlin am Herzen lag. Wenn auch das Berlin, das Fontane
sah, schon heute dreißig oder mehr Jahre zurückliegt; wenn er das Großstadt¬
problem auch weniger in seiner Totalität faßte, sondern es eigentlich nur in
einer Reihe glänzend gemeisterter Ausschnitte aus einer ganz bestimmten Berliner
Bourgeoiskaste illustrierte — ihm gebührt jedenfalls der Ruhm, als Erster und
vielleicht als Berufenster mit wahrhaft dichterischen Mitteln den modernen
realistischen Großstadtroman geschaffen zu haben. Es war der Geist unserer
Zeit, der in seinen Büchern lebte, und die mit erstaunlicher Selbstverständlichkeit
gemeisterte Atmosphäre des rasch aufschießenden, fleißigen, tüchtigen und nüchternen
Groß-Berlin schwebte darüber. Es gab und gibt eine niemals unterbrochene
Verbindung zwischen den Fontaneschen Romanen und der lebendigen Gegenwart.
Und alles, was eine neue und noch immer werdende Epoche an seltsamen Dingen
und Werten hervorbrachte, erschien hier zum ersten Male zum wirklichen
Kunststil verdichtet.

Das muß um so entschiedener ausgesprochen werden, als die Ausbeute an
wirklich guten Berliner Romanen bis auf den heutigen Tag verzweifelt gering
geblieben ist. Natürlich hatte es eine junge und ohne jede kulturelle Ver¬
gangenheit vorwärtsstürmende Stadt wie Berlin in der Beziehung unendlich
viel schwerer als etwa Paris, wo die Schriftsteller und Romanciers eine seit
Jahrhunderten fertige Kultur jederzeit vorfanden. Dem neuen Berlin einen
Kunststil schaffen, hieß: eine Kultur, die noch gar nicht vorhanden war, gewisser¬
maßen hellseherisch in ihren embryonalen Keimen herauszufühlen; in einem
unbestimmbaren und ungeberdigen Chaos fo etwas wie Gesetze, Regeln, Systeme
und große Linien zu erkennen. Man kommt dem Bilde einer Parvenustadt
natürlich nicht schon deshalb nahe, weil man selber ein Parvenu ist und sich
nun dauernd wie ein solcher benimmt. Leider war das und ist das, wie wir
sehen werden, noch heute der Fehler, dem eine ganze Reihe Berliner Roman¬
schriftsteller immer wieder verfällt. Ein von jeher beliebter Kniff besteht darin,
die an sich gleichgültigen Romanbegebenheiten vor eine Berliner Kulisse zu
stellen, ohne daß ein wirklich organischer Zusammenhang zwischen beiden existiert.
Das gibt natürlich den: Stoffe einen gewissen äußeren Reiz, und der Berliner
Leser darf befriedigt und geschmeichelt nicken, wenn ihm auf den Seiten seines
Buches ab und zu die Namen Kempinski oder Wertheim oder Friedrichstraße
begegnen. Wie weit diese Art zu arbeiten von der Tiefe des wirklichen Problems
entfernt ist, braucht wohl nicht näher erläutert zu werden. Aber es ist immerhin


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[0531] Der Berliner Roman von dem die heutige Dreimillionenstadt kaum mehr den Namen kennt. Die Zeit ist über sie hinweggegangen und hat ihnen, wenn man von historischen Werten absieht, jede Bedeutung für die Gegenwart genommen. Aber ein anderer Name darf in einer Untersuchung über den modernen Berliner Roman nicht fehlen: Theodor Fontane. Der Dichter der „Jenny Treibel", der „Irrungen, Wirrungen", der „L'Adultera". der „Cöcile" und der „Effi Brich" gehört auf jeden Fall in die vorderste Reihe jener Geister, denen die künstlerische Eroberung des neudeutschen Berlin am Herzen lag. Wenn auch das Berlin, das Fontane sah, schon heute dreißig oder mehr Jahre zurückliegt; wenn er das Großstadt¬ problem auch weniger in seiner Totalität faßte, sondern es eigentlich nur in einer Reihe glänzend gemeisterter Ausschnitte aus einer ganz bestimmten Berliner Bourgeoiskaste illustrierte — ihm gebührt jedenfalls der Ruhm, als Erster und vielleicht als Berufenster mit wahrhaft dichterischen Mitteln den modernen realistischen Großstadtroman geschaffen zu haben. Es war der Geist unserer Zeit, der in seinen Büchern lebte, und die mit erstaunlicher Selbstverständlichkeit gemeisterte Atmosphäre des rasch aufschießenden, fleißigen, tüchtigen und nüchternen Groß-Berlin schwebte darüber. Es gab und gibt eine niemals unterbrochene Verbindung zwischen den Fontaneschen Romanen und der lebendigen Gegenwart. Und alles, was eine neue und noch immer werdende Epoche an seltsamen Dingen und Werten hervorbrachte, erschien hier zum ersten Male zum wirklichen Kunststil verdichtet. Das muß um so entschiedener ausgesprochen werden, als die Ausbeute an wirklich guten Berliner Romanen bis auf den heutigen Tag verzweifelt gering geblieben ist. Natürlich hatte es eine junge und ohne jede kulturelle Ver¬ gangenheit vorwärtsstürmende Stadt wie Berlin in der Beziehung unendlich viel schwerer als etwa Paris, wo die Schriftsteller und Romanciers eine seit Jahrhunderten fertige Kultur jederzeit vorfanden. Dem neuen Berlin einen Kunststil schaffen, hieß: eine Kultur, die noch gar nicht vorhanden war, gewisser¬ maßen hellseherisch in ihren embryonalen Keimen herauszufühlen; in einem unbestimmbaren und ungeberdigen Chaos fo etwas wie Gesetze, Regeln, Systeme und große Linien zu erkennen. Man kommt dem Bilde einer Parvenustadt natürlich nicht schon deshalb nahe, weil man selber ein Parvenu ist und sich nun dauernd wie ein solcher benimmt. Leider war das und ist das, wie wir sehen werden, noch heute der Fehler, dem eine ganze Reihe Berliner Roman¬ schriftsteller immer wieder verfällt. Ein von jeher beliebter Kniff besteht darin, die an sich gleichgültigen Romanbegebenheiten vor eine Berliner Kulisse zu stellen, ohne daß ein wirklich organischer Zusammenhang zwischen beiden existiert. Das gibt natürlich den: Stoffe einen gewissen äußeren Reiz, und der Berliner Leser darf befriedigt und geschmeichelt nicken, wenn ihm auf den Seiten seines Buches ab und zu die Namen Kempinski oder Wertheim oder Friedrichstraße begegnen. Wie weit diese Art zu arbeiten von der Tiefe des wirklichen Problems entfernt ist, braucht wohl nicht näher erläutert zu werden. Aber es ist immerhin

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/531>, abgerufen am 22.07.2024.