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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.

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Karl Salzer

Ehe Karl sich wieder zur Stiege wendet, tritt er mit seinen schweren genagelten
Ackerschuhen noch einmal wider die Tür, daß die Glasscheiben klirren. Dann
poltert er hinab. Die Schnallen an seinen Schuhen rasseln wie Sporen.

Der Schuster-Pförtner hat das wütende Gebrülle gehört und ist aus seinem
Zimmer heraus in den Flur getreten. Er hält seine grüne Arbeitsschürze
zusammengerafft, damit die Lederschnitzel nicht auf den Boden fallen und ihn
verunreinigen.

"Na na!" sagt er, als er den jungen Salzer erblickt, "was geht denn da für
sich? Was ist denn das für ein Gekreisch in einem anständigen Haus?"

Karl stürmt an dem Manne vorbei, reißt die Haustür auf und schreit dazu:

"Laßt mir meine Ruh, Martert! Wenn Ihr was schaffen wollt, nehmt
Euern Knieriemen und meßt ihn mal der Norm da droben an, dem miserablen
Weibsbild!"

Und draußen ist er und rast die Berggasse hinunter. Die Leute, die ihm
begegnen, stellen sich auf die Seite und schauen ihm kopfschüttelnd nach. Seine
Wangen sind hochrot, und die Augen gehen in wildem Feuer. Die Fäuste sind
geballt, und die Arme stoßen beim Laufen vorwärts und wieder zurück wie die
Kolbenstangen einer Lokomotive. Toll wirbeln in seinem Hirn die Gedanken
durcheinander. Er kann nichts denken, aber das weiß er, daß ihm keiner mit
einem verkehrten Worte in die Quere kommen darf. Er wird einen solchen Kerl
zusammendreschen wie mürbes Stroh.

Erst als er in die Untergasse einbiegt, beruhigt er sich ein wenig und ver¬
langsamt er seinen Lauf. Was wird wohl Tante Seelchen sagen, wenn er ihr
von dem Benehmen der Schwester Euphrosyne erzählt? Tante Seelchen, die so
viel auf Frömmigkeit hält?

Mit verstörtem Gesichte tritt er in die Stube zu Tante und Schwester. Die
Tante fragt:

"Na, Bub, kommt sie?"

Karl schüttelt nur den Kopf.

"Sie kommt net?I"

Großes Erstaunen liegt in dem verwelkten Altjungferngesichte.

Der Neffe schüttelt abermals verneinend den Kopf, und Tante Seelchen fragt
wieder:

"Warum kommt sie net? Untertag brauchen die doch net viel auszugehen,
und "weil sind zudem garnet viel Kranke im Ort!"

Der Bursche deutet mit dem Kopfe nach der Zimmerdecke, darüber der tote
Vater liegt. Tante Seelchen versteht. Sie sagt nur mit einem schmerzlichen
Zucken um den Mund:

"Ah, derntwegen!"

Karl schickt einen besorgten Blick auf die Schwester, die das Gespräch mit
ihrem fortwährenden Lachen und Grinsen begleitet, und fragt:

"Was sollen wir jetzert machen?"

Tante Seelchen will die Märzen, die Taglöhnerin zu der Kranken setzen und
fragt den Burschen, wo die Frau sei.


Grenzboten III 1912 65
Karl Salzer

Ehe Karl sich wieder zur Stiege wendet, tritt er mit seinen schweren genagelten
Ackerschuhen noch einmal wider die Tür, daß die Glasscheiben klirren. Dann
poltert er hinab. Die Schnallen an seinen Schuhen rasseln wie Sporen.

Der Schuster-Pförtner hat das wütende Gebrülle gehört und ist aus seinem
Zimmer heraus in den Flur getreten. Er hält seine grüne Arbeitsschürze
zusammengerafft, damit die Lederschnitzel nicht auf den Boden fallen und ihn
verunreinigen.

„Na na!" sagt er, als er den jungen Salzer erblickt, „was geht denn da für
sich? Was ist denn das für ein Gekreisch in einem anständigen Haus?"

Karl stürmt an dem Manne vorbei, reißt die Haustür auf und schreit dazu:

„Laßt mir meine Ruh, Martert! Wenn Ihr was schaffen wollt, nehmt
Euern Knieriemen und meßt ihn mal der Norm da droben an, dem miserablen
Weibsbild!"

Und draußen ist er und rast die Berggasse hinunter. Die Leute, die ihm
begegnen, stellen sich auf die Seite und schauen ihm kopfschüttelnd nach. Seine
Wangen sind hochrot, und die Augen gehen in wildem Feuer. Die Fäuste sind
geballt, und die Arme stoßen beim Laufen vorwärts und wieder zurück wie die
Kolbenstangen einer Lokomotive. Toll wirbeln in seinem Hirn die Gedanken
durcheinander. Er kann nichts denken, aber das weiß er, daß ihm keiner mit
einem verkehrten Worte in die Quere kommen darf. Er wird einen solchen Kerl
zusammendreschen wie mürbes Stroh.

Erst als er in die Untergasse einbiegt, beruhigt er sich ein wenig und ver¬
langsamt er seinen Lauf. Was wird wohl Tante Seelchen sagen, wenn er ihr
von dem Benehmen der Schwester Euphrosyne erzählt? Tante Seelchen, die so
viel auf Frömmigkeit hält?

Mit verstörtem Gesichte tritt er in die Stube zu Tante und Schwester. Die
Tante fragt:

„Na, Bub, kommt sie?"

Karl schüttelt nur den Kopf.

„Sie kommt net?I"

Großes Erstaunen liegt in dem verwelkten Altjungferngesichte.

Der Neffe schüttelt abermals verneinend den Kopf, und Tante Seelchen fragt
wieder:

„Warum kommt sie net? Untertag brauchen die doch net viel auszugehen,
und «weil sind zudem garnet viel Kranke im Ort!"

Der Bursche deutet mit dem Kopfe nach der Zimmerdecke, darüber der tote
Vater liegt. Tante Seelchen versteht. Sie sagt nur mit einem schmerzlichen
Zucken um den Mund:

„Ah, derntwegen!"

Karl schickt einen besorgten Blick auf die Schwester, die das Gespräch mit
ihrem fortwährenden Lachen und Grinsen begleitet, und fragt:

„Was sollen wir jetzert machen?"

Tante Seelchen will die Märzen, die Taglöhnerin zu der Kranken setzen und
fragt den Burschen, wo die Frau sei.


Grenzboten III 1912 65
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[0521] Karl Salzer Ehe Karl sich wieder zur Stiege wendet, tritt er mit seinen schweren genagelten Ackerschuhen noch einmal wider die Tür, daß die Glasscheiben klirren. Dann poltert er hinab. Die Schnallen an seinen Schuhen rasseln wie Sporen. Der Schuster-Pförtner hat das wütende Gebrülle gehört und ist aus seinem Zimmer heraus in den Flur getreten. Er hält seine grüne Arbeitsschürze zusammengerafft, damit die Lederschnitzel nicht auf den Boden fallen und ihn verunreinigen. „Na na!" sagt er, als er den jungen Salzer erblickt, „was geht denn da für sich? Was ist denn das für ein Gekreisch in einem anständigen Haus?" Karl stürmt an dem Manne vorbei, reißt die Haustür auf und schreit dazu: „Laßt mir meine Ruh, Martert! Wenn Ihr was schaffen wollt, nehmt Euern Knieriemen und meßt ihn mal der Norm da droben an, dem miserablen Weibsbild!" Und draußen ist er und rast die Berggasse hinunter. Die Leute, die ihm begegnen, stellen sich auf die Seite und schauen ihm kopfschüttelnd nach. Seine Wangen sind hochrot, und die Augen gehen in wildem Feuer. Die Fäuste sind geballt, und die Arme stoßen beim Laufen vorwärts und wieder zurück wie die Kolbenstangen einer Lokomotive. Toll wirbeln in seinem Hirn die Gedanken durcheinander. Er kann nichts denken, aber das weiß er, daß ihm keiner mit einem verkehrten Worte in die Quere kommen darf. Er wird einen solchen Kerl zusammendreschen wie mürbes Stroh. Erst als er in die Untergasse einbiegt, beruhigt er sich ein wenig und ver¬ langsamt er seinen Lauf. Was wird wohl Tante Seelchen sagen, wenn er ihr von dem Benehmen der Schwester Euphrosyne erzählt? Tante Seelchen, die so viel auf Frömmigkeit hält? Mit verstörtem Gesichte tritt er in die Stube zu Tante und Schwester. Die Tante fragt: „Na, Bub, kommt sie?" Karl schüttelt nur den Kopf. „Sie kommt net?I" Großes Erstaunen liegt in dem verwelkten Altjungferngesichte. Der Neffe schüttelt abermals verneinend den Kopf, und Tante Seelchen fragt wieder: „Warum kommt sie net? Untertag brauchen die doch net viel auszugehen, und «weil sind zudem garnet viel Kranke im Ort!" Der Bursche deutet mit dem Kopfe nach der Zimmerdecke, darüber der tote Vater liegt. Tante Seelchen versteht. Sie sagt nur mit einem schmerzlichen Zucken um den Mund: „Ah, derntwegen!" Karl schickt einen besorgten Blick auf die Schwester, die das Gespräch mit ihrem fortwährenden Lachen und Grinsen begleitet, und fragt: „Was sollen wir jetzert machen?" Tante Seelchen will die Märzen, die Taglöhnerin zu der Kranken setzen und fragt den Burschen, wo die Frau sei. Grenzboten III 1912 65

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/521>, abgerufen am 22.07.2024.