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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.

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intimen Naturgenusses gegen ihn einwenden mag, sicher ist, daß er für den
Wert des Prinzips der produktiven Ausgestaltung der Muße ein glänzendes
Zeugnis ablegt: dadurch, daß er an die Stelle der früher herrschenden Ent¬
spannung auf körperlichem Gebiete eine starke Anspannung auf bestimmte Ziele
hin gesetzt hat, hat er für unsere Volksgesundheit eine ungeheure Bedeutung
gewonnen.




Wir wenden uns nun dazu, das neue Lebensideal auf den verschiedenen
hier in Betracht kommenden Gebieten näher zu verfolgen. Wir beginnen mit
dem weiten Bereich der Bildungsinteressen.

Vier Haupteigenschaften müssen wir von allen Betätigungen auf diesem Gebiete
verlangen.

Die erste ist die Aktivität: die Reize und Eindrücke müssen nicht
bloß hingenommen, sie müssen in bestimmter Weise aufgefaßt und ver¬
arbeitet werden. In diesem Sinne verlangt die moderne Kunstbewegung
vor allem Schulung des Auges, Übung im Sehen, Ersetzen des einfachen
Hinstarrens durch ein wirkliches Auffassen, durch eine zergliedernde Be¬
trachtung, die eine Menge von Einzelheiten genau und gründlich erfaßt und
sich klar macht. Mit den: ästhetischen Genuß haben diese Übungen in: ana¬
lysierenden Sehen direkt noch nichts zu tun, aber sie bilden eine unentbehrliche
Vorbereitung dafür. Von einer hemmenden Wirkung der Reflexion ist auf die
Dauer nicht die Rede: abgesehen davon, daß im Einzelfall der Analyse die
zusammenfassende Betrachtung folgt, wird überhaupt mit der Zeit das, was
anfangs mit vollem Bewußtsein geübt werden muß, zur unbewußten Eigentüm¬
lichkeit. Es ist erfreulich, daß unsere Museumskataloge stellenweise anfangen,
durch ganz knappe Hinweise auf die wichtigsten Tatsächlichkeiten der einzelnen
Bilder zu solchem Analysieren anzuleiten. Auch die einschlägige Literatur nimmt
immer mehr zu, die den ästhetischen Gehalt der Kunstwerke zergliedert und uns
die einzelnen Bestandteile einer normalen ästhetischen Auffassung Stück für Stück
vergegenwärtigt, wobei wiederum zu sagen ist, daß das, was sich bei dem Leser
zunächst bewußt abspielt, sich später zum unbewußten Bestandteil der ästhetischen
Gesamtauffassung verdichten kann. Für den musikalischen Genuß gibt es bekanntlich
in ähnlichem Sinne gehaltene Anleitungen in Gestalt kurzer Erläuterungen, doch
bis zu einer förmlichen systematischen Erziehung zum analysierenden Hören hat
sich die Bewegung hier noch nicht entwickelt. Wer selbst eine Kunst ausübt,
wenn auch uur in bescheidenem Maße z. B. in Gestalt des einfachen Zeichnens,
wird dadurch natürlich sein Kunstverständnis wesentlich vertiefen. Überall
muß auf diesem Gebiete die Forderung lauten: voni Wissen zum Erleben.
Ohne intellektuelle Stützen geht es dabei nicht ab: in diesem uferlosen
Meere ertrinkt, wer sich ihm lediglich im Vertrauen auf seine natürlichen Kräfte
überläßt.


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intimen Naturgenusses gegen ihn einwenden mag, sicher ist, daß er für den
Wert des Prinzips der produktiven Ausgestaltung der Muße ein glänzendes
Zeugnis ablegt: dadurch, daß er an die Stelle der früher herrschenden Ent¬
spannung auf körperlichem Gebiete eine starke Anspannung auf bestimmte Ziele
hin gesetzt hat, hat er für unsere Volksgesundheit eine ungeheure Bedeutung
gewonnen.




Wir wenden uns nun dazu, das neue Lebensideal auf den verschiedenen
hier in Betracht kommenden Gebieten näher zu verfolgen. Wir beginnen mit
dem weiten Bereich der Bildungsinteressen.

Vier Haupteigenschaften müssen wir von allen Betätigungen auf diesem Gebiete
verlangen.

Die erste ist die Aktivität: die Reize und Eindrücke müssen nicht
bloß hingenommen, sie müssen in bestimmter Weise aufgefaßt und ver¬
arbeitet werden. In diesem Sinne verlangt die moderne Kunstbewegung
vor allem Schulung des Auges, Übung im Sehen, Ersetzen des einfachen
Hinstarrens durch ein wirkliches Auffassen, durch eine zergliedernde Be¬
trachtung, die eine Menge von Einzelheiten genau und gründlich erfaßt und
sich klar macht. Mit den: ästhetischen Genuß haben diese Übungen in: ana¬
lysierenden Sehen direkt noch nichts zu tun, aber sie bilden eine unentbehrliche
Vorbereitung dafür. Von einer hemmenden Wirkung der Reflexion ist auf die
Dauer nicht die Rede: abgesehen davon, daß im Einzelfall der Analyse die
zusammenfassende Betrachtung folgt, wird überhaupt mit der Zeit das, was
anfangs mit vollem Bewußtsein geübt werden muß, zur unbewußten Eigentüm¬
lichkeit. Es ist erfreulich, daß unsere Museumskataloge stellenweise anfangen,
durch ganz knappe Hinweise auf die wichtigsten Tatsächlichkeiten der einzelnen
Bilder zu solchem Analysieren anzuleiten. Auch die einschlägige Literatur nimmt
immer mehr zu, die den ästhetischen Gehalt der Kunstwerke zergliedert und uns
die einzelnen Bestandteile einer normalen ästhetischen Auffassung Stück für Stück
vergegenwärtigt, wobei wiederum zu sagen ist, daß das, was sich bei dem Leser
zunächst bewußt abspielt, sich später zum unbewußten Bestandteil der ästhetischen
Gesamtauffassung verdichten kann. Für den musikalischen Genuß gibt es bekanntlich
in ähnlichem Sinne gehaltene Anleitungen in Gestalt kurzer Erläuterungen, doch
bis zu einer förmlichen systematischen Erziehung zum analysierenden Hören hat
sich die Bewegung hier noch nicht entwickelt. Wer selbst eine Kunst ausübt,
wenn auch uur in bescheidenem Maße z. B. in Gestalt des einfachen Zeichnens,
wird dadurch natürlich sein Kunstverständnis wesentlich vertiefen. Überall
muß auf diesem Gebiete die Forderung lauten: voni Wissen zum Erleben.
Ohne intellektuelle Stützen geht es dabei nicht ab: in diesem uferlosen
Meere ertrinkt, wer sich ihm lediglich im Vertrauen auf seine natürlichen Kräfte
überläßt.


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[0502] Schaffen und Genießen intimen Naturgenusses gegen ihn einwenden mag, sicher ist, daß er für den Wert des Prinzips der produktiven Ausgestaltung der Muße ein glänzendes Zeugnis ablegt: dadurch, daß er an die Stelle der früher herrschenden Ent¬ spannung auf körperlichem Gebiete eine starke Anspannung auf bestimmte Ziele hin gesetzt hat, hat er für unsere Volksgesundheit eine ungeheure Bedeutung gewonnen. Wir wenden uns nun dazu, das neue Lebensideal auf den verschiedenen hier in Betracht kommenden Gebieten näher zu verfolgen. Wir beginnen mit dem weiten Bereich der Bildungsinteressen. Vier Haupteigenschaften müssen wir von allen Betätigungen auf diesem Gebiete verlangen. Die erste ist die Aktivität: die Reize und Eindrücke müssen nicht bloß hingenommen, sie müssen in bestimmter Weise aufgefaßt und ver¬ arbeitet werden. In diesem Sinne verlangt die moderne Kunstbewegung vor allem Schulung des Auges, Übung im Sehen, Ersetzen des einfachen Hinstarrens durch ein wirkliches Auffassen, durch eine zergliedernde Be¬ trachtung, die eine Menge von Einzelheiten genau und gründlich erfaßt und sich klar macht. Mit den: ästhetischen Genuß haben diese Übungen in: ana¬ lysierenden Sehen direkt noch nichts zu tun, aber sie bilden eine unentbehrliche Vorbereitung dafür. Von einer hemmenden Wirkung der Reflexion ist auf die Dauer nicht die Rede: abgesehen davon, daß im Einzelfall der Analyse die zusammenfassende Betrachtung folgt, wird überhaupt mit der Zeit das, was anfangs mit vollem Bewußtsein geübt werden muß, zur unbewußten Eigentüm¬ lichkeit. Es ist erfreulich, daß unsere Museumskataloge stellenweise anfangen, durch ganz knappe Hinweise auf die wichtigsten Tatsächlichkeiten der einzelnen Bilder zu solchem Analysieren anzuleiten. Auch die einschlägige Literatur nimmt immer mehr zu, die den ästhetischen Gehalt der Kunstwerke zergliedert und uns die einzelnen Bestandteile einer normalen ästhetischen Auffassung Stück für Stück vergegenwärtigt, wobei wiederum zu sagen ist, daß das, was sich bei dem Leser zunächst bewußt abspielt, sich später zum unbewußten Bestandteil der ästhetischen Gesamtauffassung verdichten kann. Für den musikalischen Genuß gibt es bekanntlich in ähnlichem Sinne gehaltene Anleitungen in Gestalt kurzer Erläuterungen, doch bis zu einer förmlichen systematischen Erziehung zum analysierenden Hören hat sich die Bewegung hier noch nicht entwickelt. Wer selbst eine Kunst ausübt, wenn auch uur in bescheidenem Maße z. B. in Gestalt des einfachen Zeichnens, wird dadurch natürlich sein Kunstverständnis wesentlich vertiefen. Überall muß auf diesem Gebiete die Forderung lauten: voni Wissen zum Erleben. Ohne intellektuelle Stützen geht es dabei nicht ab: in diesem uferlosen Meere ertrinkt, wer sich ihm lediglich im Vertrauen auf seine natürlichen Kräfte überläßt.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/502>, abgerufen am 24.08.2024.