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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.

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Schaffen und Genießen

Frage stofflichen Inhaltes; nach einer Minute geht es weiter: das nächste Bild
wird in derselben Weise beglotzt. Ähnlich ist es mit der Dichtkunst: heute
Shakespeare, morgen Sophokles und übermorgen Goethe. Die wechselnden
Genüsse werden mit demselben Gleichmut hingenommen wie die kulinarischen
Abwechselungen eines üppigen Mahles, bei denen man sich sagt: laß den Magen
sehen, wie er mit dem Vielerlei fertig wird.

Unwillkürlich denkt man dabei an das moderne Ausstattungswesen unserer
Theater, an die rücksichtslose Grausamkeit, mit der hier die Phantasie der
Zuschauer täglich gemordet wird. Die Erwerbsinteressen lassen den Unternehmer
hier mit Erfolg auf die gröberen Instinkte des Publikums spekulieren, nämlich
auf eine stumpfe und dumpfe und eben durch die Art des Dargebotenen noch
mehr abgestumpfte Schaulust. Die Walküre darf nicht ohne ihr Pferd auf¬
treten, weil es offenbar über die Phantasiekraft des Zuschauers hinausgeht, sich ein
so seltenes Geschöpf wie ein Pferd zu vergegenwärtigen. Es ist dasselbe Elend
wie mit jenem Kinderspielzeug, das unsere Industrie gar nicht fertig
genug liefern kann: in allem muß möglichst getreu die Welt der Wirk¬
lichkeit nachgebildet sein bis auf Schrauben und Räder, Dampfkessel und
Steuerung. Die von solchen Leistungen der Industrie hochbeglückter Eltern
können es den lieben Kleinen gar nicht bequem genug machen: die vollendeten
Werke werden auch gebührend bewundert -- von den Erwachsenen. Daß die
Phantasie, diese gewaltigste Kraft der kindlichen Entwicklung, dabei in der Wurzel
zerstört wird, wer wird sich darum kümmern?

Für die Kunstbildung sorgt auch das moderne Vortragswesen. Leider bleibt
auch hier der Hörer zu einen? unerwünschten Grad von Passivität verurteilt. Die
dabei vielfach verwendeten Lichtbilder können wegen des Mangels der Farbe und
der Veränderung der Dimensionen keine erhebliche ästhetische Wirkung ausüben:
das Original kann an ihnen nicht nacherlebt werden. Außerdem schreitet der
Vortrag für eine wirkliche Vertiefung zu schnell vorwärts. Auch hier wird also
nur passives Wissen, besser gesagt, es werden nur einzelne Kenntnisse verbreitet.
Freilich macht sich bereits gerade auf diesem Gebiete der Wandel besonders
deutlich bemerkbar; doch ehe wir davon sprechen, müssen wir unser Sünden¬
register noch fortsetzen. Das Vortragswesen spielt in unserem Leben überhaupt
eine außerordentliche Rolle. Keine Zeit hat so sehr nach Bildung und Ver¬
breitung von Bildung gestrebt wie die unsrige. In jeder einigermaßen großen
Stadt gibt es Vortragsserien, die sich über alles Mögliche und Unmögliche
verbreiten. Nur wenige entgehen dieser allgemeinen Flut; die meisten lassen
sie mit stoischein Gleichmut über sich ergehen und huldigen dabei dem Prinzip
der mechanischen Nahrungsaufnahme, bei dem es heißt: was ich konsumiere, das
wird mir einverleibt. Wie viele Spuren hinterläßt wohl im allgemeinen dieses
Durcheinander der verschiedensten Mitteilungen? Für die Meister Hörer fehlt
die Möglichkeit organischer Anknüpfung und Verarbeitung, fehlt es an Kristalli-
sationspunkien, an die das Dargebotene sich anschließen und dadurch zu einem


Schaffen und Genießen

Frage stofflichen Inhaltes; nach einer Minute geht es weiter: das nächste Bild
wird in derselben Weise beglotzt. Ähnlich ist es mit der Dichtkunst: heute
Shakespeare, morgen Sophokles und übermorgen Goethe. Die wechselnden
Genüsse werden mit demselben Gleichmut hingenommen wie die kulinarischen
Abwechselungen eines üppigen Mahles, bei denen man sich sagt: laß den Magen
sehen, wie er mit dem Vielerlei fertig wird.

Unwillkürlich denkt man dabei an das moderne Ausstattungswesen unserer
Theater, an die rücksichtslose Grausamkeit, mit der hier die Phantasie der
Zuschauer täglich gemordet wird. Die Erwerbsinteressen lassen den Unternehmer
hier mit Erfolg auf die gröberen Instinkte des Publikums spekulieren, nämlich
auf eine stumpfe und dumpfe und eben durch die Art des Dargebotenen noch
mehr abgestumpfte Schaulust. Die Walküre darf nicht ohne ihr Pferd auf¬
treten, weil es offenbar über die Phantasiekraft des Zuschauers hinausgeht, sich ein
so seltenes Geschöpf wie ein Pferd zu vergegenwärtigen. Es ist dasselbe Elend
wie mit jenem Kinderspielzeug, das unsere Industrie gar nicht fertig
genug liefern kann: in allem muß möglichst getreu die Welt der Wirk¬
lichkeit nachgebildet sein bis auf Schrauben und Räder, Dampfkessel und
Steuerung. Die von solchen Leistungen der Industrie hochbeglückter Eltern
können es den lieben Kleinen gar nicht bequem genug machen: die vollendeten
Werke werden auch gebührend bewundert — von den Erwachsenen. Daß die
Phantasie, diese gewaltigste Kraft der kindlichen Entwicklung, dabei in der Wurzel
zerstört wird, wer wird sich darum kümmern?

Für die Kunstbildung sorgt auch das moderne Vortragswesen. Leider bleibt
auch hier der Hörer zu einen? unerwünschten Grad von Passivität verurteilt. Die
dabei vielfach verwendeten Lichtbilder können wegen des Mangels der Farbe und
der Veränderung der Dimensionen keine erhebliche ästhetische Wirkung ausüben:
das Original kann an ihnen nicht nacherlebt werden. Außerdem schreitet der
Vortrag für eine wirkliche Vertiefung zu schnell vorwärts. Auch hier wird also
nur passives Wissen, besser gesagt, es werden nur einzelne Kenntnisse verbreitet.
Freilich macht sich bereits gerade auf diesem Gebiete der Wandel besonders
deutlich bemerkbar; doch ehe wir davon sprechen, müssen wir unser Sünden¬
register noch fortsetzen. Das Vortragswesen spielt in unserem Leben überhaupt
eine außerordentliche Rolle. Keine Zeit hat so sehr nach Bildung und Ver¬
breitung von Bildung gestrebt wie die unsrige. In jeder einigermaßen großen
Stadt gibt es Vortragsserien, die sich über alles Mögliche und Unmögliche
verbreiten. Nur wenige entgehen dieser allgemeinen Flut; die meisten lassen
sie mit stoischein Gleichmut über sich ergehen und huldigen dabei dem Prinzip
der mechanischen Nahrungsaufnahme, bei dem es heißt: was ich konsumiere, das
wird mir einverleibt. Wie viele Spuren hinterläßt wohl im allgemeinen dieses
Durcheinander der verschiedensten Mitteilungen? Für die Meister Hörer fehlt
die Möglichkeit organischer Anknüpfung und Verarbeitung, fehlt es an Kristalli-
sationspunkien, an die das Dargebotene sich anschließen und dadurch zu einem


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[0367] Schaffen und Genießen Frage stofflichen Inhaltes; nach einer Minute geht es weiter: das nächste Bild wird in derselben Weise beglotzt. Ähnlich ist es mit der Dichtkunst: heute Shakespeare, morgen Sophokles und übermorgen Goethe. Die wechselnden Genüsse werden mit demselben Gleichmut hingenommen wie die kulinarischen Abwechselungen eines üppigen Mahles, bei denen man sich sagt: laß den Magen sehen, wie er mit dem Vielerlei fertig wird. Unwillkürlich denkt man dabei an das moderne Ausstattungswesen unserer Theater, an die rücksichtslose Grausamkeit, mit der hier die Phantasie der Zuschauer täglich gemordet wird. Die Erwerbsinteressen lassen den Unternehmer hier mit Erfolg auf die gröberen Instinkte des Publikums spekulieren, nämlich auf eine stumpfe und dumpfe und eben durch die Art des Dargebotenen noch mehr abgestumpfte Schaulust. Die Walküre darf nicht ohne ihr Pferd auf¬ treten, weil es offenbar über die Phantasiekraft des Zuschauers hinausgeht, sich ein so seltenes Geschöpf wie ein Pferd zu vergegenwärtigen. Es ist dasselbe Elend wie mit jenem Kinderspielzeug, das unsere Industrie gar nicht fertig genug liefern kann: in allem muß möglichst getreu die Welt der Wirk¬ lichkeit nachgebildet sein bis auf Schrauben und Räder, Dampfkessel und Steuerung. Die von solchen Leistungen der Industrie hochbeglückter Eltern können es den lieben Kleinen gar nicht bequem genug machen: die vollendeten Werke werden auch gebührend bewundert — von den Erwachsenen. Daß die Phantasie, diese gewaltigste Kraft der kindlichen Entwicklung, dabei in der Wurzel zerstört wird, wer wird sich darum kümmern? Für die Kunstbildung sorgt auch das moderne Vortragswesen. Leider bleibt auch hier der Hörer zu einen? unerwünschten Grad von Passivität verurteilt. Die dabei vielfach verwendeten Lichtbilder können wegen des Mangels der Farbe und der Veränderung der Dimensionen keine erhebliche ästhetische Wirkung ausüben: das Original kann an ihnen nicht nacherlebt werden. Außerdem schreitet der Vortrag für eine wirkliche Vertiefung zu schnell vorwärts. Auch hier wird also nur passives Wissen, besser gesagt, es werden nur einzelne Kenntnisse verbreitet. Freilich macht sich bereits gerade auf diesem Gebiete der Wandel besonders deutlich bemerkbar; doch ehe wir davon sprechen, müssen wir unser Sünden¬ register noch fortsetzen. Das Vortragswesen spielt in unserem Leben überhaupt eine außerordentliche Rolle. Keine Zeit hat so sehr nach Bildung und Ver¬ breitung von Bildung gestrebt wie die unsrige. In jeder einigermaßen großen Stadt gibt es Vortragsserien, die sich über alles Mögliche und Unmögliche verbreiten. Nur wenige entgehen dieser allgemeinen Flut; die meisten lassen sie mit stoischein Gleichmut über sich ergehen und huldigen dabei dem Prinzip der mechanischen Nahrungsaufnahme, bei dem es heißt: was ich konsumiere, das wird mir einverleibt. Wie viele Spuren hinterläßt wohl im allgemeinen dieses Durcheinander der verschiedensten Mitteilungen? Für die Meister Hörer fehlt die Möglichkeit organischer Anknüpfung und Verarbeitung, fehlt es an Kristalli- sationspunkien, an die das Dargebotene sich anschließen und dadurch zu einem

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/367>, abgerufen am 25.08.2024.