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Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr.

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Innere Kolonisation!

Verwaltungen den an sie gestellten Aufgaben in bezug auf eine im volks¬
gesundheitlichen Sinne rationelle Unterbringung ihrer Bewohner nicht mehr
gewachsen sind. Noch umfaßt diese Bewegung nicht die große Masse,
und zwar deshalb, weil sie, von bürgerlichen Kreisen ausgehend, zuerst
das Mißbehagen der "reinen Konsumenten", der Staats- und Kommunal¬
beamten ebenso wie der Privatangestellten wiederspiegelt. Nur in Berlin hat
sie einen größeren Umfang erreicht durch die Agitation des Zweckverbandes
unter Leitung des früheren Kolonialstaatssekretärs Exzellenz Dernburg. Die
Schärfe dieser Agitation ist aber ein Symptom dafür, das der städtische Mittel¬
stand sich bereits nach Bundesgenossen in der Masse umsieht; ich persönlich
halte z. B. die mehr und mehr bei den Liberalen sich zeigende Hinneigung zur
Sozialdemokratie, von der übrigens auch sonst ganz konservative Männer in
den Städten nicht ganz frei sind, vielniehr für ein Zeichen der Unzufriedenheit
mit dem freisinnigen Stadtregiment, als für Haß gegen das sogenannte Junker¬
tum und ich glaube, daß heute die Parole gegen das in den Städten herrschende
Wahlrecht, den Kampfruf gegen das preußische erheblich verstummen ließe.

Mit einemWort: gegen dieStadtsucht beginnt die natürliche Reaktion einzusetzen.

Nun wird man theoretisch folgern dürfen, daß diese Reaktion eine "Stadt¬
flucht" zur Folge haben könnte. Leider sind wir aber nicht so weit. Ein
Sehnen nach dem Lande ist freilich vorhanden. Das läßt sich nicht mehr bestreiten.
Nicht nur in unsern oberen Schichten, nicht nur bei unsern Bankiers, die sich
Herrensitze kaufen können, nicht nur bei unsern geistigen Arbeitern, die sich
bescheidene Eigenheime an den Peripherien der Großstädte bauen, nicht nur
bei unsern Pensionären. Dies Sehnen nach dem Lande tritt uns entgegen
in den stundenweit von den Städten entfernt liegenden Laubenkolonien, in
denen die Fabrikarbeiter mit ihren Familien den ganzen Sommer zubringen.
Man blicke nur von Osten oder Norden kommend zum Fenster des eilenden
Schnellzuges heraus, so wird man schon vierzig, fünfzig Kilometer von Berlin
entfernt die ersten charakteristischen Merkmale solcher sommerlicher Arbeiter¬
siedlungen bemerken.

Doch dem Sehnen der breiten Masse kommen die Verhältnisse nicht ent¬
gegen. Die Stadtsucht wurde, wie oben erklärt worden ist, entwickelt durch die
größere Erwerbsmöglichkeit und Bewegungsfreiheit, die die Industrie mit allen
ihren Folgeerscheinungen, wie der zentralisierenden Tendenz der Verkehrspolitik,
schaffte. Die Sehnsucht, auf das Land zurückzukehren, wird gedämpft
durch die Tatsache, daß man sich mit dem Auszug auf das Land die
Erwerbsbedingungen erschwert und sich mancher persönlicher Frei¬
heiten begibt. Wie stark aber muß die Sehnsucht, aufs Land zu kommen,
sein, wenn unsere Fabrikarbeiter und niederen Angestellten sich nicht scheuen,
täglich zwei, drei Stunden auf der Eisenbahn zuzubringen, und dann vielleicht
noch einen einstündigem Fußmarsch zurückzulegen, lediglich um aus dem Staube
der Großstadt heraus sich an der ländlichen Natur erfreuen zu können!


Innere Kolonisation!

Verwaltungen den an sie gestellten Aufgaben in bezug auf eine im volks¬
gesundheitlichen Sinne rationelle Unterbringung ihrer Bewohner nicht mehr
gewachsen sind. Noch umfaßt diese Bewegung nicht die große Masse,
und zwar deshalb, weil sie, von bürgerlichen Kreisen ausgehend, zuerst
das Mißbehagen der „reinen Konsumenten", der Staats- und Kommunal¬
beamten ebenso wie der Privatangestellten wiederspiegelt. Nur in Berlin hat
sie einen größeren Umfang erreicht durch die Agitation des Zweckverbandes
unter Leitung des früheren Kolonialstaatssekretärs Exzellenz Dernburg. Die
Schärfe dieser Agitation ist aber ein Symptom dafür, das der städtische Mittel¬
stand sich bereits nach Bundesgenossen in der Masse umsieht; ich persönlich
halte z. B. die mehr und mehr bei den Liberalen sich zeigende Hinneigung zur
Sozialdemokratie, von der übrigens auch sonst ganz konservative Männer in
den Städten nicht ganz frei sind, vielniehr für ein Zeichen der Unzufriedenheit
mit dem freisinnigen Stadtregiment, als für Haß gegen das sogenannte Junker¬
tum und ich glaube, daß heute die Parole gegen das in den Städten herrschende
Wahlrecht, den Kampfruf gegen das preußische erheblich verstummen ließe.

Mit einemWort: gegen dieStadtsucht beginnt die natürliche Reaktion einzusetzen.

Nun wird man theoretisch folgern dürfen, daß diese Reaktion eine „Stadt¬
flucht" zur Folge haben könnte. Leider sind wir aber nicht so weit. Ein
Sehnen nach dem Lande ist freilich vorhanden. Das läßt sich nicht mehr bestreiten.
Nicht nur in unsern oberen Schichten, nicht nur bei unsern Bankiers, die sich
Herrensitze kaufen können, nicht nur bei unsern geistigen Arbeitern, die sich
bescheidene Eigenheime an den Peripherien der Großstädte bauen, nicht nur
bei unsern Pensionären. Dies Sehnen nach dem Lande tritt uns entgegen
in den stundenweit von den Städten entfernt liegenden Laubenkolonien, in
denen die Fabrikarbeiter mit ihren Familien den ganzen Sommer zubringen.
Man blicke nur von Osten oder Norden kommend zum Fenster des eilenden
Schnellzuges heraus, so wird man schon vierzig, fünfzig Kilometer von Berlin
entfernt die ersten charakteristischen Merkmale solcher sommerlicher Arbeiter¬
siedlungen bemerken.

Doch dem Sehnen der breiten Masse kommen die Verhältnisse nicht ent¬
gegen. Die Stadtsucht wurde, wie oben erklärt worden ist, entwickelt durch die
größere Erwerbsmöglichkeit und Bewegungsfreiheit, die die Industrie mit allen
ihren Folgeerscheinungen, wie der zentralisierenden Tendenz der Verkehrspolitik,
schaffte. Die Sehnsucht, auf das Land zurückzukehren, wird gedämpft
durch die Tatsache, daß man sich mit dem Auszug auf das Land die
Erwerbsbedingungen erschwert und sich mancher persönlicher Frei¬
heiten begibt. Wie stark aber muß die Sehnsucht, aufs Land zu kommen,
sein, wenn unsere Fabrikarbeiter und niederen Angestellten sich nicht scheuen,
täglich zwei, drei Stunden auf der Eisenbahn zuzubringen, und dann vielleicht
noch einen einstündigem Fußmarsch zurückzulegen, lediglich um aus dem Staube
der Großstadt heraus sich an der ländlichen Natur erfreuen zu können!


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[0357] Innere Kolonisation! Verwaltungen den an sie gestellten Aufgaben in bezug auf eine im volks¬ gesundheitlichen Sinne rationelle Unterbringung ihrer Bewohner nicht mehr gewachsen sind. Noch umfaßt diese Bewegung nicht die große Masse, und zwar deshalb, weil sie, von bürgerlichen Kreisen ausgehend, zuerst das Mißbehagen der „reinen Konsumenten", der Staats- und Kommunal¬ beamten ebenso wie der Privatangestellten wiederspiegelt. Nur in Berlin hat sie einen größeren Umfang erreicht durch die Agitation des Zweckverbandes unter Leitung des früheren Kolonialstaatssekretärs Exzellenz Dernburg. Die Schärfe dieser Agitation ist aber ein Symptom dafür, das der städtische Mittel¬ stand sich bereits nach Bundesgenossen in der Masse umsieht; ich persönlich halte z. B. die mehr und mehr bei den Liberalen sich zeigende Hinneigung zur Sozialdemokratie, von der übrigens auch sonst ganz konservative Männer in den Städten nicht ganz frei sind, vielniehr für ein Zeichen der Unzufriedenheit mit dem freisinnigen Stadtregiment, als für Haß gegen das sogenannte Junker¬ tum und ich glaube, daß heute die Parole gegen das in den Städten herrschende Wahlrecht, den Kampfruf gegen das preußische erheblich verstummen ließe. Mit einemWort: gegen dieStadtsucht beginnt die natürliche Reaktion einzusetzen. Nun wird man theoretisch folgern dürfen, daß diese Reaktion eine „Stadt¬ flucht" zur Folge haben könnte. Leider sind wir aber nicht so weit. Ein Sehnen nach dem Lande ist freilich vorhanden. Das läßt sich nicht mehr bestreiten. Nicht nur in unsern oberen Schichten, nicht nur bei unsern Bankiers, die sich Herrensitze kaufen können, nicht nur bei unsern geistigen Arbeitern, die sich bescheidene Eigenheime an den Peripherien der Großstädte bauen, nicht nur bei unsern Pensionären. Dies Sehnen nach dem Lande tritt uns entgegen in den stundenweit von den Städten entfernt liegenden Laubenkolonien, in denen die Fabrikarbeiter mit ihren Familien den ganzen Sommer zubringen. Man blicke nur von Osten oder Norden kommend zum Fenster des eilenden Schnellzuges heraus, so wird man schon vierzig, fünfzig Kilometer von Berlin entfernt die ersten charakteristischen Merkmale solcher sommerlicher Arbeiter¬ siedlungen bemerken. Doch dem Sehnen der breiten Masse kommen die Verhältnisse nicht ent¬ gegen. Die Stadtsucht wurde, wie oben erklärt worden ist, entwickelt durch die größere Erwerbsmöglichkeit und Bewegungsfreiheit, die die Industrie mit allen ihren Folgeerscheinungen, wie der zentralisierenden Tendenz der Verkehrspolitik, schaffte. Die Sehnsucht, auf das Land zurückzukehren, wird gedämpft durch die Tatsache, daß man sich mit dem Auszug auf das Land die Erwerbsbedingungen erschwert und sich mancher persönlicher Frei¬ heiten begibt. Wie stark aber muß die Sehnsucht, aufs Land zu kommen, sein, wenn unsere Fabrikarbeiter und niederen Angestellten sich nicht scheuen, täglich zwei, drei Stunden auf der Eisenbahn zuzubringen, und dann vielleicht noch einen einstündigem Fußmarsch zurückzulegen, lediglich um aus dem Staube der Großstadt heraus sich an der ländlichen Natur erfreuen zu können!

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 71, 1912, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341895_321746/357>, abgerufen am 22.07.2024.